Die Natur der Kunst
Musik und Kybernetik
Die Kunst der Natur
Musik und Botanik
Santiago Ramón y Cajal, Zeichnung eines durchtrennten Nervs
1913, Tinte und Bleistift auf Papier, 22,8 x 9,2 cm
Der spanische Mediziner Ramón y Cajal beschäftigte sich intensiv mit dem zentralen Nervensystem und fertigte zahlreiche, auch künstlerisch interessante Zeichnungen von dessen Strukturen an. Einige Jahrzehnte später knüpfte die Kybernetik als neuartige Wissenschaft an diese Erkenntnisse an. Cerha setzte sich aus einem musikalischen Blickwinkel mit ihr auseinander – vielleicht würde er Cajals Zeichnung als grafische Partitur lesen.
Bildquelle: Legado Cajal. Instituto Cajal (CSIC), Madrid
Friedrich Cerha, Grafik nach musikalischen Vorstellungen, 1974
Zugang
„Im Organismus von Lebewesen bedeutet Störung Verstörung – Krankheit. Heilung ist ein neues Einspielen auf eine alte Ordnung, nicht vollständige Heilung – „Besserung“ oft das Einspielen eines anderen neuen Gleichgewichts auf Grund veränderter Voraussetzungen. […] Mich interessiert nicht das perfekte Kunstwerk, das untadelige Funktionieren, die unausgesetzte Abwicklung eines Systems, sondern die Formung von Organismen, die imstande sind, auf veränderte Bedingungen zu reagieren, Störungen aufzufangen und Veränderungen in neue Ordnungen zu integrieren.“
Friedrich Cerha
Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 80
New York City, 1946. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs versammeln sich in Manhattan etwa 20 Menschen im Beekman Hotel. Die Runde setzt sich aus Expert:innen ganz verschiedener Fachrichtungen zusammen, unter ihnen Anthropologie, Biophysik, Soziologie, Psychologie oder Mathematik. Gemeinsam arbeiten sie an Fragen, die so neu sind, dass sie auf ihre „Zeit schockierend wirkten“.Norbert Wiener, Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine, Düsseldorf, Wien 1963, S. 9 Die später als Macy-Konferenzen bekannt gewordenen Forschungstreffen waren die Geburtsstunde der Kybernetik, einer modernen Universalwissenschaft, die nichts weiter zu ergründen suchte, als das, „was die Welt im Innersten zusammenhält“.Johann Wolfgang von Goethe, Faust, hgg. v. Erich Trunz, München 1986, S. 20 Im kybernetischen Weltbild gleicht der Mensch einer Maschine, einem lebendigen System, das sich durch Informationsprozesse selbst erhält.
Die Utopien und Visionen der Kybernetik verbreiteten sich rasch und regten auch die Kunst an. Cerha stieß Ende der 1950er Jahre auf die Schriften des ‚Kybernetik-Vaters‘ Norbert Wiener und las diese mit unbändiger Neugier, fasziniert von den Theorien über sich selbst organisierende und im Gleichgewicht haltende Systeme. Er entdeckte auch das Homöostat Ross Ashbys, eine Apparatur aus Schaltkreisen, die ständig eine neue Balance untereinander suchen.
Die kybernetischen Denkmodelle färbten auf Cerhas Musik ab. Eine Poetik der systemischen Unterbrechung streben bereits die Intersecazioni (1959) an. Im gleichen Jahr konzipierte Cerha Fasce, der Entwurf eines Superorganismus in Form riesiger Orchestermassen, die Gleichgewicht erzeugen, aber immer wieder auch durchbrechen. Im Netzwerk schließlich wirken verschiedene musikalische wie theatralische Untersysteme aufeinander ein und formen so eine Art Evolution.
Werke zum Themenfeld
Masse und Macht
Fasce, 1959
Verstrickungen
Netzwerk, 1962—80
Die Schönheit der Störung
Intersecazioni, 1959