Spiegel

Kosmos aus Klang

Relazioni fragili

Enjambements

Karl Prantl, Stein für Friedrich Cerha

1984-87, Krastaler Marmor, 130 x 190 x 870 cm, Pöttschinger Feld

Archaik, Gewicht, Struktur: Diese Eigenschaften hat Cerhas Orchesterzyklus Spiegel mit den Steinen seines Freundes Karl Prantl gemein. Manche Details der Skulpturen wirken wie Einfrierungen musikalischer Vorgänge – es scheint logisch, dass Cerha auf die Gemeinsamkeit „archetypischer Formen“ verweist. Nachdem der Bildhauer 1977 die Spiegel erstmals in Wien hörte, schenkte er Cerha einen seiner Steine (und widmete ihm später einen weiteren).

Bildquelle/ Foto: Lukas Dostal, Montage: Cerha Online

Klumpen, Schwärme, Massen – zueinander findend, auseinanderstrebend, sich verbreiternd, zusammenziehend, wachsend, erstarrend:
Cerhas Spiegel.

Aus: Zu Gast bei Friedrich Cerha, Dokumentation ORF, Wien 1975

Dass sich die atmosphärisch dichten, orchestralen Gebilde hervorragend ins Visuelle übersetzen lassen, beweist ein experimenteller Film der 1970er Jahre. Er zeigt Bewegungen eines Kontinuums. Veränderung geschieht nicht abrupt, ergibt sich fließend. Seinerzeit, um 1960, war der Orchesterzyklus für diese neue Art von Musik revolutionär. Bis auch die Öffentlichkeit dergleichen erkannte, dauert es jedoch: Lange Zeit konnte der Komponist von einer Gesamtaufführung nur träumen. Heute ist der musikalische Wert der Spiegel unumstritten. Durchweg lobende Worte finden etwa Cerhas Kolleg:innen: Der Zyklus sei ein „Meilenstein der Musikgeschichte“ (Georg Friedrich Haas), ein „gigantischer Steinbruch an Ideen“ (Johannes Maria Staud), „wegweisend und radikal“ (Beat Furrer), führe durch „unbekannte Landschaften von visionärer Kraft“ (Rebecca Saunders), kurzum Musik mit „prophetischem Klangsinn“ (Helmut Lachenmann).Friedrich Cerha, Spiegel – Monumentum – Momente, Produktion Kairos 2010, Booklet

Außenansicht

Copyright: Stadt Wien

In den frühen 1960er Jahren, auf dem Gipfel der Moderne, waren die relevanten Musikwerke der Avantgarde immer auch ein Stück Utopie. Ob ungewöhnliche Orchesterbesetzungen, waghalsige Notationen oder immense Schwierigkeitsgrade – es erforderte Kraft und Konzentration, das bislang Unerhörte hörbar zu machen. Die Erfindung von sieben massiven Stücken für großes Orchester mit elektronischer Zuspielung und Bühnenkonzept, wohlgemerkt in Spielfilmlänge, zog wie von selbst Grenzen. Dass Cerha seinen Zyklus Spiegel jedoch erst zwölf Jahre nach Niederschrift als Gesamtwerk zu hören bekam, veränderte die musikhistorische Wahrnehmung: Durch die Verzögerung wurden die Spiegel ihrer Sprengkraft beraubt. Um 1960 hätten sie explosive Wirkungen hervorrufen können, waren sie doch in all ihren Facetten neu und zukunftsweisend. Klangkomposition hieß später das Etikett, das man dem Stil anheftete: Musik, die aus Farben, Massen und Geweben gewonnen ist. Cerhas Kollegen, besonders György Ligeti und Krzysztof Penderecki, hatten mehr Glück. Ihre zeitgleich entstandenen, ähnlichen Werke fanden (dank besserer Förderstrukturen) schnell den Weg auf die Konzertbühne und erregten Aufsehen. Die einzelnen Spiegel wurden mit der Zeit isoliert uraufgeführt – verstreut über Europa (München, Donaueschingen, Stockholm, Hamburg, Warschau, Graz und Wien) und einen Zeitraum von 1963 (Spiegel V) bis 1972 (Spiegel VII).

Dokumente zur Aufführungsgeschichte der Spiegel
O.l.: Notiz zur Uraufführung von Spiegel V, ca. 1963
U.l.: Programmheft zur Uraufführung von Spiegel VII, 1972
R.: Brief von Joseph Trauneck anlässlich der Uraufführung von Spiegel I, 1968

Erst im Laufe der Zeit änderte sich auch der Blick auf den Zyklus. Die Kritiken der ersten Aufführungen betonten wahlweise „das große Experiment, das Avantgardistische oder das Konstruktive“https://www.evs-musikstiftung.ch/de/preise/preise/archiv/hauptpreistraeger/friedrich-cerha/interview.html, eine Perspektive, die Cerha selbst befremdete. Ihm war es beim Entwurf seines ersten „Welttheaters“ nicht primär um Technisches gegangen, selbst wenn die kompositorischen Mittel überaus fortschrittlich waren. Stets standen sie jedoch im Dienst eines „ungeheuren Ausdrucksbedürfnis“. Expressives, Dramatisches, ja schlichtweg Emotionales spricht aus der Musik – heutzutage wohl deutlicher denn je. Die Stücke sind „die Spiegel der Welt meiner klingenden Träume“, bemerkt der Komponist.Cerha, Begleittext zu Spiegel, AdZ, 000T0058/10 Doch auch eigene Lebenserfahrungen bilden sich ab. Erst nach Jahrzehnten deutete Cerha sein Werk vorsichtig als Reflexion früherer „Kriegserlebnisse“ wie auch des „grenzenlosen Glücksgefühl von Freiheit“, das er als Deserteur „in den Tiroler Bergen empfunden“ habe.Friedrich Cerha, Spiegel – Monumentum – Momente, Produktion Kairos 2010, Booklet, S. 6 Kurz: In der Musik rührt sich Leben in all seinen Facetten.

1: Brief von Heinrich Strobel (Südwestfunk), 2.4.1962, AdZ, 000K0058/24
2: Brief von Karl Amadeus Hartmann (Musica Viva), 17.8.1964, AdZ, 000K0058/44
3: Brief von Otto Tomek (Westdeutscher Rundfunk), 4.7.1963, AdZ, 000K0058/54
4: Brief von Hans Sachs (Österreichischer Rundfunk), 19.1.1965, AdZ, 000K0058/89

Brücke

So wie Cerha in späteren Jahren auf das ‚Unterbewusstsein‘ in den Spiegeln und ihre Nähe zu biografischen Erlebnissen verweist, kann auch der Weg zu ihnen als innere Befreiung verstanden werden. Nachdem er in den Jahren zuvor viele Impulse aus der Musikwelt empfangen und die neuesten Strömungen der Avantgarde zur „selbstständigen und kritischen Auseinandersetzung“ genutzt hatte,Friedrich Cerha, „Viele Anregungen vom Rande“, in: Rudolf Stephan u.a. (Hg.): Von Kranichstein zur Gegenwart. 50 Jahre Darmstädter Ferienkurse. 1946-1996. Stuttgart 1996, S. 188-191, hier S. 191 suchte Cerha um 1959 nach neuen Aufgaben. „Klangwelten, in der ich offensichtlich weiterer intensiver Anregungen von außen nicht mehr bedurfte“ seien auf diese Weise entstanden, erläutert der Komponist. Statt von existierenden Techniken auszugehen, erfand er sie gleich selbst. Das oft beschriebene „fieberhafte Entwerfen, Konzipieren, Erobern“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 225 jener Zeit führte ins Zentrum des Klangs. Seine physische Präsenz, seine Struktur und Farbigkeit, seine unmerkliche, aber stetige Entwicklung sollten zum neuen Ausgangspunkt werden. Die gefrorenen, nur in Zeitlupe schmelzenden Mouvements (1959), drei „Zustandsstudien“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 61, erfüllten das Ideal am radikalsten, trugen aber zugleich eine „enorme Verarmung an Aussagemitteln“ mit sich.Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 226 In der Kybernetik fand Cerha ein Mittel, um der Gefahr entgegenzuwirken – er nutzte die Universalwissenschaft, um das musikalische Geschehen zu dramatisieren, belebende Prozesse zu initiieren. Sowohl Fasce als auch Spiegel zehren entscheidend davon – beide verlangen dem Ohr aber Unterschiedliches ab. Den puristischen, auf ihre Innenwelt konzentrierten Fasce stehen die Spiegel mit größerer Vielfalt und einer ausgedehnten Dramaturgie entgegen. Sieben Sätze von verschiedener Länge, verschiedenem Charakter und verschiedener Besetzung formen in etwa anderthalb Stunden einen Bogen, wie ihn sonst nur Bruckner oder Mahler in ihren Sinfonien erreichten. Es verwundert nicht, dass ein Rezensent anlässlich der Uraufführung des Gesamtzyklus in Graz von einem „Kosmos wie bei Wagner“ sprach.

Karlheinz Roschitz, „Ein Kosmos wie bei Wagner“, Kronen-Zeitung, 11.10.1972, AdZ, KRIT0004/17

Mit Wagner haben die Spiegel sogar noch mehr gemein als die schier astronomische Größe: Sie sind ein Stück Musiktheater, ja eine Art Gesamtkunstwerk. Die Konzeption, so Cerha, habe „von Anfang an die optische Fantasie“ herausgefordert, „ohne, dass sie ihr vorausgegangen wäre.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 66 Schließlich sei der musikalische Entwurf mit dem theatralischen gewachsen. Bereits 1961 entstand ein Konzept für die Bühne mit Anweisungen zu Beleuchtung, Video-Einspielungen und menschlichen Bewegungsabläufen. Ein Ballett könnte man denken, doch weit gefehlt: Tanz im herkömmlichen Sinne soll es nicht geben und überhaupt scheinen sich die Spiegel jedem Etikette zu verweigern. Musik und Szene sind vielmehr als gleichberechtigte, wesensverwandte, aber nicht deckungsgleiche Ausdrucksmittel zu verstehen. „Durch das Zusammenwirken der beiden Ebenen“ solle schließlich „eine Komplexierung der Beziehungen erreicht werden“.Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 66 Im Einzelnen lässt das Libretto jedoch einige Freiheiten, die bewusst als solche angelegt sind:

Bei der Niederschrift [des] szenischen Entwurfs war ich mir […] im Klaren, dass es nicht eine einzige zwingende strukturelle Verklammerung von optischer und akustischer Ebene geben kann, sondern im Zusammenwirken beider ein Feld von Überschneidungen entsteht, in dem im Einzelnen verschiedene Lösungen möglich sind. Regisseur und Choreograph sollten also möglichst wenig gebunden oder gar bevormundet werden und Raum für individuelle kreative Entfaltung haben. Es wäre richtig, wenn auch im Optischen, von adäquat gewähltem Material ausgehend, formal beherrschte Komposition ästhetischen und dramatischen Geschehens als wesentlich erkennbar wäre, die sich zu emotionellen und geistigen Grundlagen so verhält, wie die Musik es tut.

Friedrich Cerha

Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 66

Cerha, Libretto zu Spiegel I, Typoskript, AdZ, 000T0059

Eine Grundidee verklammert das musikalische mit dem szenischen Geschehen. Zum Ausdruck kommt die Masse. 1960, als die Spiegel konzipiert wurden, veröffentlichte auch Elias Canetti seine umfangreiche Schrift Masse und Macht. Hier beschreibt er nicht nur das Grundbedürfnis des einzelnen Menschen, zum Teil eines Größeren zu werden, sondern auch die destruktive Natur dieses archetypischen Traums – eine politische Dimension, die Cerha auch am eigenen Leib erfahren hatte. Bezeichnenderweise tritt die Masse als Absolutheit auf: „Das einzelne Wesen, seine individuelle Entwicklung, sein Schicksal ist nicht Gegenstand der Darstellung. Leben tritt immer als Gemeinschaft auf.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 67 Erst später, in der Oper Baal, sollte sich Cerha der Rolle des Individuums als Opposition der Gesellschaft widmen. Das Bühnenstück Netzwerk schließt die Lücke zwischen Baal und Spiegel als Welttheater mit Wechselobjektiv. Doch Welttheater „im Sinn von Spiegelungen von Evolution und Reaktion“ ist der Orchesterzyklus bereits: „Spiegelung der Möglichkeiten menschlicher Verhaltensweisen in der Existenz der Art, als historisches Faktum, als Alptraum, als Vision – von einer Uranfangssituation ausgehend und in eine Endzeitsituation mündend.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 66

Innenansicht

Cerha, Spiegel, Skizze mit Anmerkungen, frühe 1960er Jahre, AdZ, 000S0058/23

Der Spiegel-Zyklus markiert den Gipfel neuer Orchestermusik, die Cerha seit 1957 fast wie ‚am Fließband‘ geschaffen hatte. Angefangen mit den klein besetzten Relazioni fragili reicht die Entwicklung von Espressioni fondamentali, Intersecazioni, und Mouvements zu Fasce für großes Orchester. Die Dimensionen des Apparats werden in Letzterem bereits antizipiert, in den Spiegeln aber noch einmal übertroffen. Wie in Fasce ist auch in Cerhas ‚Opus summum‘ der Klangkomposition die Orchestergröße keine kulinarische Garnitur, sondern eine Frage von Sein oder Nichtsein. Ohne die Vielzahl an Stimmen und unterschiedlichen Farben wäre die Musik der Spiegel nicht denkbar. Sie lässt sich nicht wie andere Orchestermusik reduzieren, etwa auf einen praktischen Klavierauszug, der alles Wesentliche enthält. Jede einzelne Stimme erfüllt im Gesamtzusammenhang eine strukturell unabdingbare Funktion.
Im Angesicht der mühsamen Ausarbeitung, welche der Kompositionsansatz forderte, verwundert es nicht, dass Cerha den gesamten Zyklus nicht in einem Guss zu Papier brachte. Erst mit realer Aussicht auf eine Aufführung wurde aus dem Particell mit der Zeit die reingeschriebene Partitur, und zwar buchstäblich Stück für Stück. Überarbeitet wurde nach erfolgter Aufführung nur ein Teil, der mittige Spiegel IV. Seine letzte Reinschrift erfolgte etwa zehn Jahre nach der Konzeption. „Ich hatte mich innerlich von der Sprache der Spiegel weit entfernt und wusste, dass ich ähnliche Ideen nicht wieder ausführen würde“,Schriften – ein Netzwerk, Wien 2001, S. 68 erinnert sich Cerha. Daher habe er „wahrscheinlich besonders lange an den Partituren gefeilt, bis sie die endgültige, [s]einen Anforderungen wirklich voll genügende Gestalt gefunden hatten.“
Eine unerwartet letzte ‚Würze‘ erhielten die Spiegel noch 2006. In dieser Zeit werkelte Cerha mit seinem früheren Schüler Karlheinz Essl, mittlerweile selbst international erfolgreicher Komponist, an einem noch fehlenden Tonband für Spiegel III. Essl war für die Aufgabe prädestiniert, hatte er sich doch auf die elektronische Komposition spezialisiert. „Tagelang haben wir über der Partitur gebrütet, in der minuziös alle Klangparameter der Elektronik verzeichnet sind, und diese schließlich mithilfe eines selbstgeschriebenen Computerprogramms zum Klingen gebracht“, so der Cerha-Schüler. Die Verwendung des entstandenen Tonbands ist bei neuen Aufführungen keine Pflicht, sondern „ad libitum“.Karlheinz Essl, „Laudatio auf Friedrich Cerha“, 2017, http://www.essl.at/bibliogr/cerha-laudatio.html

Cerha, Spiegel III, Tonbandskizze, ca. 2006

Bereits in den frühen 1960er Jahren hatte Cerha Tonbänder für seine Spiegel produziert – allerdings noch mit völlig anderen Mitteln, als sie nach der Jahrtausendwende zur Verfügung standen. Ein Laboratorium gab es bereits. Es war das Studio für Elektronische Musik an der Wiener Akademie, welches Cerha sogar für einige Jahre leitete. Maßgeblich unterstützt wurde er vom jungen Ingenieur Hellmut Gottwald. Als dieser „im Jahr 1959 ans Studio […] berufen wurde, gab es dort zwar Geräte zur Messung, Erzeugung und Reproduktion elektronischer Frequenzen […], aber es gab keinen ‚Hexenmeister‘, der sie kreativ zu nutzen verstanden hätte.“Dieter Kaufmann, „Tu felix Gottwald“, https://klangmaschinen.ima.or.at/db.php?id=25&table=Object&lang=de&showartikel=1&view=ausstellung Gottwald füllte diese Rolle aus und schob die Produktion elektronischer Musik in Wien entscheidend an. Die Tonbänder, die zu Spiegel IV, V und VII entstanden, wurden mit Hilfe eines Synthesizers der Frühzeit realisiert, dem von Gottwald erfundenen „Akaphon“. Heute steht das klavierähnliche Instrument mit Modulen statt Saiten im Technischen Museum Wien. Von Cerhas Zusammenarbeit mit Gottwald zeugen einige Grafiken mit eingetragenen Frequenzen, die sich in den Skizzen zu Spiegel finden. Für die späteren Partituren wurden sie modifiziert übernommen.

Cerha, Spiegel IV, Tonbandskizze, AdZ, 000S0058/3

Tonbandgerät, Privatbestand Cerha

Foto: Christoph Fuchs

Cerha, Spiegel V, Tonbandskizze, AdZ, 000S0058/13

Der Einsatz von Tonbändern in den Spiegeln sagt bereits Einiges über das in den Stücken angestrebte Klangideal aus. So spielt etwa die Verschmelzung von Klangquellen eine wesentliche Rolle. Elektronisches und akustisches Material bilden keine Anti-, sondern eine Synthese. Dort, wo Tonbänder zum Einsatz kommen, bereichern sie das globale Geschehen und tragen eine zusätzliche Schicht auf, die nicht zuletzt der Verfremdung des traditionellen Orchesterklangs dient. Auf der anderen Seite nähert sich die orchestrale Masse selbst oftmals dem Geräuschhaften. Schon die früheste, erhaltene Spiegel-Kritik (Mai 1964) artikuliert genau diese Beobachtung, wenn es heißt, Cerha wäre „begabt als Erfinder nie vernommener, quasielektronischer Klänge“, die er „in große Orchesterbesetzungen überträgt.“Heinrich von Lüttwitz, „Spiel nach graphischen Partituren“, Die Welt, 26.5.1964, AdZ, KRIT0004/2 Der Rückschluss des Rezensenten ist jedoch ein Irrtum: Imaginativer Ausgangspunkt der Spiegel war nicht die elektronische Musik. Sie mag Spuren hinterlassen haben, ja sogar vom Gesamtorganismus einverleibt worden sein, doch die Vorstellung eines feinnervigen Klanggeflechts wurzelt vor allem in der Fantasie. Die Intention hinter dem Orchesterzyklus ist mit Gustav Mahlers Verständnis einer Sinfonie verwandt: „mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen“.
Der Gesamtkomplex der Spiegel macht seinem Namen alle Ehre. Die sieben Sätze sind spiegelartig um eine Achse gebaut – nicht im wörtlichen, aber im dramaturgischen Sinn. Spiegel IV, der längste Satz, bildet das Zentrum. Unmittelbar umgeben wird er von zwei eher statischen Stücken (III und V). Ringförmig nach außen führen zwei bewegte, dramatische Stücke (II und VI), während Spiegel I und VII musikalisch verknüpfte Uranfangs- und Endzeitvisionen sind. Es entsteht eine Expedition in die Tiefen des Klangs.

Spiegel I

Spiegel I: Cerha, Spiegel I, MD9-MD12 (Ausschnitt), AdZ, 00000058/5

Ein dunkler Schlag, dann Stille. Das ist jener Uranfang, aus dem die Spiegel-Welt hervorgeht. Nichts hallt nach oder entfaltet sich im Raum. Nichts bleibt haften oder gibt sich zu erkennen. Weitere Schläge erscheinen wie blitzartige Visionen und setzen die Unergründlichkeit des Klingenden fort. Zwischen ihnen geschieht nichts. Die stillen Blöcke in Spiegel I muten wie die „klaffende Leere des Weltraums“ an, die Hesiod beschreibt, wenn er das Chaos in Worte fasst.„Chaos“, in: Wolfgang Pfeifer et al., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, Und chaotisch (im fast physikalischen Sinne) geht es auch weiter. Schon beim vierten Orchesterschlag splittert ein Ton von der monolithischen Masse ab. Mit jedem neuen Schlag folgen weitere – ein unaufhaltsamer Prozess der Ablösung. Das „extrem lineare Verfahren“ vergleicht Cerha mit „einer Kettenreaktiv“: „Ein Impuls wird gegeben, das nächstliegende Ereignis ist eng mit diesem Impuls verknüpft, jedes weitere bezieht sich zumeist nur auf das vorhergehende.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 62 Aus den anfangs isolierten Schlägen wächst so ein immer dichterer Dschungel aus angehäuftem Klangmaterial, eine Polyfonie ohne feste Ankerpunkte. Das gesamte Geschehen glättet sich aus dem Untergrund heraus. In den Streichern entwickelt sich unmerklich eine Fläche aus Tontrauben (= Cluster). Sie hebt an, wird dominanter, bis sie ebenbürtig neben dem anarchischen Urstrudel steht. Ein Ordnungswechsel steht bevor. Die liegenden Cluster verabsolutieren sich, während das tobende Chaos wieder zu dichten Schlägen zusammenschrumpft. Aus ihnen heraus ist eine Klangflächenwelt geboren, die sich nun energetisch ausdehnt. Ihr Charakter bestimmt den ganzen Zyklus maßgeblich, ist gewissermaßen der Schlüssel zur Musik. Gegen Ende des Satzes verändert sich die globale Gestalt noch einmal. Die Flächen werden aufgelockert und zu einem grobmaschigen Klangfaden gesponnen. Ein zäh rotierendes Umwickeln mit Einzelfäden bestimmt den Gestus bis zuletzt. Die Musik bricht dann unvermittelt ab.

SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Ltg. Sylvain Cambreling, Produktion Kairos 2010

Spiegel II

Spiegel II: Cerha, Spiegel II, T. 15 ff. (Ausschnitt), AdZ, 00000058/28

Der zweite Satz der Spiegel fällt im Vergleich zu den anderen durch seine Besetzung aus dem Rahmen. Zum Medium wird ein monochromer Klangkörper, bestehend aus 55 Streichern. Mit dieser Beschränkung befindet sich Cerha zur Entstehungszeit in bester Gesellschaft. Auch seine Kollegen, besonders der Pole Krzysztof Penderecki, schreiben zeitgleich Stücke für Streichorchester. Nun gibt es diese nicht erst seit den 1960er Jahren. Neu war jedoch der kompositorische Zugriff: Sowohl bei Cerha als bei Penderecki, doch auch bei anderen wie Iannis Xenakis oder György Ligeti, wird der Streicherapparat geteilt („Divisi“). Er zerfällt in zahlreiche Einzelstimmen, die sich zum Kollektiv zusammenfinden. In Spiegel II gleicht dieses Kollektiv am ehesten einem Schwarm. Bewegungen werden oft von einer voranstürmenden Stimme initiiert, der viele andere direkt nachziehen. Auf diese Weise entstehen klangliche Formationen, Muster, wie die eines virtuos synchron vorbeiziehenden Fisch- oder Vogelschwarms. Auf einigen Partiturseiten sind diese Kurvenverläufe auch optisch eindrucksvoll erfahrbar. Um Augenmusik handelt es sich dennoch nicht. Die Art der Notation ist vielmehr die praktikabelste, mit der Cerha seine Vorstellungen fixieren konnte.
In Gegensatz zu Spiegel I sind die Vorgänge in Spiegel II weniger auf Kontrast (bzw. Gegensatz) ausgelegt. Der gesamte Satz folgt dem Ideal sich entwickelnder Klangflächen. Diese sind hier „in ihrer klarsten Form zu betrachten“Klaus Ager, „Friedrich Cerha: Spiegel“, in: Melos XLVIII (1986), 3, S. 2-39, hier S. 3. Die Musik changiert zwischen dramatischen Ausbrüchen und meditativen Episoden, bleibt im Einzelnen unvorhersehbar. Für Abwechslung sorgt ein hochdifferenziertes Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten: Glissandi, Tonraumrotationen, Klangkreise- und -löcher, Auffächerungen oder Liegeflächen, vermittelt durch mannigfaltige Spielanweisungen. Die Prozesse sind nichtlinearer Natur, wie Cerha bekundet, und mit „Rückkoppelungen“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 62 vergleichbar – nicht zuletzt ein Verweis auf die Gesetzmäßigkeiten der Kybernetik.

SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Ltg. Sylvain Cambreling, Produktion Kairos 2010

Spiegel III

Spiegel III: Cerha, Spiegel III, T. 89 ff. (Ausschnitt), AdZ, 00000058/91

Cerhas Freund György Ligeti wurde 1961 schlagartig mit einem Orchesterstück namens Atmosphères berühmt – ein Klangkontinuum der weichen Übergänge, späterer Soundtrack zu Stanley Kubricks Weltraumepos 2001: Odyssee im Weltraum. Der dritte von Cerhas Spiegeln zeigt, wie nah sich die voneinander unabhängigen Vorstellungen der beiden Komponisten an einigen Stellen berührten. „Keine Ereignisse, sondern nur Zustände“ gäbe es in Atmosphères, so Ligeti, nur den „unbevölkerten, imaginären, musikalischen Raum.“György Ligeti, „Atmosphères“, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Monika Lichtenfeld, Bd. 2, Mainz 2007, S. 180 Die gleichen Worte ließen sich auch auf Spiegel III anwenden. Es ist eines von Cerhas statischsten Stücken, bestehend aus einer durchgehenden Klangfläche. Wo in Spiegel I noch Stille klafft und auch Spiegel II Lücken beinhaltet, da fehlt es an solchen hier gänzlich. Es entsteht eine Musik ohne Unterbrechung, deren Form Ausschnittscharakter besitzt, da sie sich prinzipiell immer weiter fortsetzen könnte.
Für Cerha ist Spiegel III ein Stück von „apollinisch-mediterranem Wesen“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 62. Sonnendurchflutete Milde ist dem Klang eingeschrieben: Viel stärker als in den vorausgegangen Spiegeln tritt die Farbe in den Vordergrund, die Musik irisiert in verschiedenen, orchestralen Nuancen und lässt sich für deren Entfaltung Zeit. Ein Denken in Texturen prägt diese Entwicklungen. Am ehesten beschrieben werden können die episodenhaften Klangzustände mit haptischen Ausdrücken: glatt, körnig, wellig oder rau. Instrumentale Farben ähnlichen Charakters werden gepaart, um solche Eindrücke hervorzurufen, zum Beispiel Harfen, Celesta, Cembalo, Klavier, Glockenspiel, Maracas und das Tonband in einer besonders lichten, fast transzendenten Passage. Immerzu werden Texturen langsam durch andere abgelöst. Das bewegte Innenleben der Klänge erstarrt erst am Ende. Hier findet sich das gesamte Orchester zu einem gigantischen Akkord zusammen, der bedrohlich anwächst und auf dem Höhepunkt plötzlich abreißt.

 

SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Ltg. Sylvain Cambreling, Produktion Kairos 2010

Spiegel IV

Spiegel IV: Cerha, Spiegel IV, S. 13 (Ausschnitt), AdZ, 00000058/113

Das breite Gestaltungsrepertoire des Orchesterzyklus wird in Spiegel IV nochmals erweitert und an seine Grenzen geführt. Es handelt sich um die Mittelachse des ganzen Stücks: Bis hierhin entwickeln sich die Vorgänge stationär und von hier aus laufen sie danach dramaturgisch wieder zurück.
In einem Punkt unterscheidet sich der vierte Spiegel wesentlich von den ihm umgebenden. Seine Niederschrift bezieht Grafisches ein und verzichtet auf eine Fixierung im Fünf-Linien-Notensystem. Diese Entscheidung hat musikalische Konsequenzen. Die Töne sind von exakten Frequenzen weitgehend befreit – es ist der mikrotonale Zwischenbereich, der Cerha in diesem Spiegel-Teil interessiert und den er akribisch ausarbeitet. Zwei Gestaltungselemente stehen sich gegenüber: Linien und Punkte. Die Linien glissandieren meist durch den Tonraum und werden von den Streichern ausgeführt. Sie bilden einen flächigen Hintergrund. Die Punkte sind (meist) den übrigen Instrumenten zugewiesen, auch sie folgen oft Kurvenverläufen. Cerha: „Das Moment des Einholens und Überholens einer Linie durch die andere spielt sowohl in der Zeit als auch im Hinblick auf die Tonhöhe eine wichtige Rolle. An mehreren Punkten ist es im Einzelnen gut erkennbar, an anderen fallen viele derartige Verläufe zu Feldwirkungen zusammen.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 229
Beide, Linien und Punkte, sind von reizvollen (Ver)Färbungen geprägt. Die Streicherglissandi funkeln in hohen Gefilden (so wie auch das Tonband) und raunen in tiefen. Einige punktuelle Klänge vermitteln einen fast animalischen Sound (so wie die an Vögel erinnernden Piccoloflöten) – bestärkt wird dieser Eindruck durch episodisch auftretende, skurrile Klangerzeuger wie singende Sägen, Windmaschine oder Waldteufel. Am eindringlichsten tönt das tiefe Blech. Bereits in Cerhas zweitem Mouvement (1959) sind es Trompeten, Hörner und Posaunen, die messerscharf feine Streicherlinien durchbrechen. Spiegel IV führt die dort entwickelte Klangwelt mit größerer Komplexität fort.

SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Ltg. Sylvain Cambreling, Produktion Kairos 2010

Spiegel V

Spiegel V: Cerha, Spiegel V, T. 92 ff. (Ausschnitt), AdZ, 00000058/134

So wie der vierte Spiegel seine Inspiration aus den zuvor entstandenen Mouvements schöpft, bezieht sich auch der fünfte auf diese zurück. Er zeigt sich der letzten der drei Bewegungsstudien verpflichtet und teilt den „Zug zum Monomanen“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 228 mit ihr. Die Schlussfolgerungen aus dem Erprobten sind aber radikaler: Während dort, in Mouvement III, „verschiedene Zonen eines einzelnen Klangs wechselweise hervortreten und wieder verschwinden, dreht sich in Spiegel V ein ganzer, homogener Klangkörper; keine Stimme, keine Orchestergruppe ragt hervor, dominiert.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 61
Die der Musik eingeschriebenen Raumdimensionen sind eng verwandt mit dem statischen Gesamtklang des dritten Spiegels – es ist die erste großformale Spiegelung, die der Zyklus nach Überschreiten seines Zenits vornimmt. Während im Pendant die Klänge jedoch oft verflüssigt wirken, wie Lichtpunkte umherwandern, ist das „Durchhalten von Klängen“Gertraud Cerha, „Werkgenese im Überblick“, in: Joachim Diedrichs, Friedrich Cerha. Werkeinführungen, Quellen, Dokumente, Wien 2018, S. 92-98, hier S. 95 fast statuesker Natur.
Das ‚Drehen‘ der Klangskulptur beginnt mit dem langsam einblenden Tonband. Ein hohes, geräuschhaftes Bündel aus Frequenzen, ohne jegliche innere Schwankungen, frisst sich nahezu ins Ohr. Die Direktheit des Klangs sowie seine beinahe sterile Anmutung sind der frühen elektronischen Musik zweifellos verbunden. Wie unmerklich Klangwechsel vonstattengehen können, demonstriert Cerha anschließend. Hohe Streicherflächen kleiden den Basisklang aus, ohne, dass es Brüche zwischen elektronischem und akustischem Material gäbe. Alle Klangträger sind gleichberechtigt: „Das Tonband ist […] ein Teil des Orchesters; wie alle Instrumente des großen Apparats dient es nur dem – wahrscheinlich beängstigenden – Gesamtklang.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 61 f. Zum Eindruck des Bedrohlichen tragen die Zustände bei, in denen Spiegel V im Verlauf aufgeht. Kriegerische Bilder ziehen am inneren Auge vorbei, vermittelt etwa durch unheilvolles Schnarren, berstende Perkussion oder militärische Blechbläser. Wie im Paarstück (Spiegel III) saugt sich der Klang am Ende benommen voll, um jäh abzubrechen.

SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Ltg. Sylvain Cambreling, Produktion Kairos 2010

Spiegel VI

Spiegel VI: Cerha, Spiegel VI, T. 98 ff. (Ausschnitt), AdZ, 00000058/152

Wechselstimmung: Von den starren Klängen des fünften Spiegels bleibt im sechsten kaum etwas übrig. Das Geschehen ist von Beginn an dynamisch und wird durch schnelle, klangliche Wechsel geprägt. Im Gestus noch verhalten wechseln sich zunächst Akkordblöcke ab. Die ‚Spotlights‘ auf einzelnen Instrumentengruppen bleiben jeweils nur kurz bestehen, punktuell treten Farben in den Vordergrund und verschwinden wieder, Überblendungen ergeben sich nicht. Schon bald weicht die Blockarchitektur einem organischeren Fließen. Einzelne Gruppen beginnen damit, Töne in schneller, freier Abfolge zu spielen, woraus sich innerlich fluktuierende Cluster bilden. Die Gruppen finden sich zu größeren Strukturen zusammen und verschmelzen schließlich im durchgehenden Klangfluss miteinander. Vieles an diesem Gestaltungstyp erinnert an Spiegel II, das Pendant im Zyklus. Der Eindruck von gewaltigen, vorbeiziehenden Schwärmen drängt wieder ins Bewusstsein. Diesmal sind sie noch farbenprächtiger als im homogenen Streicherstück.
Etwa in der Mitte des Satzes schält sich ein neuer, einzigartiger Prozess langsam heraus. Beginnend mit einer einzelnen Bratsche wachsen nach und nach den gesamten Apparat durchgreifende Orchesterschläge heran. Die Musik knüpft hier an „die isolierten Schläge von Spiegel I, verdichtet sie aber zu einer ostinaten Bewegung, deren Penetranz ihre nicht nur vordergründige Logik […] erst in der Gesamtsicht des Zyklus gewinnt.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 229 Mehr als ein formaler Bezug vermitteln die Schläge außerdem das Bild einer marschierenden Kolonne – fast alles wird erbarmungslos niedergetrampelt. Wie ein Traumbild zieht das Kollektiv davon. Die weitere Entwicklung entpuppt Spiegel VI als Spiegelform en miniature. Zunächst kehren die Tonschwärme zurück, dann – nach einem plötzlichen, gewaltsamen Kommando in Bläser und Pauken – die leisen Akkordblöcke des Beginns. Quasi morendo verklingen sie.

 

SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Ltg. Sylvain Cambreling, Produktion Kairos 2010

Spiegel VII

Spiegel VII: Cerha, Spiegel VII, T. 89 ff. (Ausschnitt), AdZ, 00000058/180

Mit dem siebten Spiegel wagt Cerhas Orchesterzyklus einen Blick in dystopische Zukunftsszenerien. Dem Uranfang steht die Endzeit entgegen. Dieses Stimmungsbild teilt sich durch entsprechende Klangbilder direkt mit. Die Musik beginnt wie in Spiegel I in äußerster Tiefe. Statt Impulsen im leeren Raum zeichnet sich jedoch ein finsterer Horizont ab, ausgehend vom geisterhaften Untergrund der Kontrabässe. In den dunklen Farbnuancen ‚suhlt‘ sich die Musik regelrecht: Unheilvolle Klangflächen flammen auf und ebben wieder ab, mal treten Wagnertuben, mal Pauken, mal tiefes Glockengeläut in den Vordergrund, zuweilen auch das gespenstische Tonband. Atmosphärisch ist die Musik Cerhas Radiostück Und Du… (1963) nah, in dem die atomare Katastrophe reflektiert wird – und auch der szenische Entwurf zu Spiegel VII kündet chiffriert vom nuklearen Zeitalter.
Die Endzeit ist jedoch nicht nur Thema in der Bilderwelt des letzten Satzes, sie ist es auch mit Blick auf den gesamten Zyklus: „In Spiegel VII verdichten sich zunehmend Reminiszenzen an andere Spiegelteile“, resümiert Cerha, „ohne jedoch diese zu subsummieren: alles ereignet sich im wechselnden Verhältnis zu den für Spiegel VII kennzeichnenden Vorgängen, die zu Beginn des Stücks deutlich exponiert werden, später mit anderen kombiniert erscheinen, sie überdecken, unterbrechen oder ablösen und zu Ende führen.“ Die Verbindung von Erinnerung und gegenwärtig Erlebtem bringt einige Rückblenden in neuen Kontexten hervor. Ob die Naturlaute aus Spiegel IV, das ätherisch-elysische Flimmern aus Spiegel III oder die stampfenden Schläge aus Spiegel VI – sie alle ziehen in Episoden vorüber. Zwischen dem Erinnerten reiben sich schroffe Klangbündel aneinander. Sie beschwören eine „archaisch abgründige Welt“Cerha, Manuskript zu Fasce, AdZ, 00T0056/4 f. und schlagen (nur für die Kenner) eine Brücke zu den großorchestralen Fasce.
Die Vielfalt an Klangstrukturen und ihre Schichtung führt im Gesamten zu hochkomplexen Massengebilden. Gegen Ende schließt sich der Kreis: Die ausgefransten Orchesterschläge aus Spiegel I setzen inmitten parallel ablaufender Prozesse ein und schrumpfen (gespiegelt zum Zyklusbeginn) zum Kondensat. Abermals gehen gigantische Klangflächen daraus hervor. Eine letzte Entladung mündet in einen einzigen Ton: In den verbliebenen Streichern erklingt überall ein c‘, das schließlich sanft verebbt – ein Symbol erträumten Friedens?

 

SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Ltg. Sylvain Cambreling, Produktion Kairos 2010

Schatztruhe