Baal

Der Aussteiger

Baal

Von der mystischen Natur

Requiem für Hollensteiner

Der Riese vom Steinfeld

Theo Adam in der ersten „Baal“-Inszenierung, Wiener Staatsoper 1981

Cerhas ersten „Baal“ – zugleich seine erste wirkliche Opernfigur – verkörperte der Bassbariton Theo Adam. Bis heute ist die Rolle untrennbar mit ihm verbunden. Adam war seinerzeit vor allem für die Partien in spätromantischen Opern bekannt (z.B. für den Wotan aus Wagners Ring des Nibelungen), sang aber Hauptrollen in modernen Musiktheaterstücken (z.B. von Paul Dessau oder Ernst Krenek). Adams Beitrag in Cerhas Baal zählt zu den Höhepunkten seiner Karriere als darstellender Sänger.

Bildquelle: Archiv der Zeitgenossen

Vor etwa 201 bis 174 Millionen Jahren schwamm die „Schnitt-Zahn-Echse“ als eines der imposanten Raubtiere im riesigen Ozean der Jurazeit.
Das Meeresreptil gehört zu den Ichthyosauriern, einer vollständig an das Wasser angepassten Gattung.

Versteinertes Skelett der „Schnitt-Zahn-Echse“ Temnodontosaurus acutirostris mit Ammoniten
Unterjura (Toarcium) vor 185 Millionen Jahren, Holzmaden (Deutschland), 125 x 120 cm

Bildquelle: Didier Descouens / Wikimedia

In Bertolt Brechts frühem Theaterstück Baal tritt der Ichthyosaurus in einer Parabel gleich zu Beginn in Erscheinung. Der junge Dichter Baal erzählt dort über „die Zeit der Sintflut“.Bertolt Brecht, Baal. Drei Fassungen, hgg. v. Dieter Schmidt, Frankfurt a.M. 1966, S. 156 Trotz Warnungen habe das prähistorische Tier nicht in Noahs Arche einsteigen wollen – und ertrank schließlich. Die Geschichte verwirrt: Warum kommt ein Meerestier überhaupt in den Fluten um, wo es doch augenscheinlich zum Überleben im Wasser bestens ausgerüstet ist? Brecht kalkulierte die Irritation bewusst mit ein, sie ist ein frühes Beispiel seiner theatralischen Verfremdung, um auf etwas Wesentliches aufmerksam zu machen. Die Erkenntnis könnte lauten: Es ist nicht entscheidend, ob die Voraussetzungen zum Überleben theoretisch gegeben sind – der Ausschluss aus der Gemeinschaft macht es für den Einzelnen unmöglich, isoliert und in einsamen Gefilden dauerhaft zu leben. Für Cerha ist die „Ichthyosaurus-Parabel“ der Kern Baals. Ausgehend von ihr lässt sich seine Oper nach Brechts Text verstehen: Als eine überdimensionale Parabel über diejenigen, die ‚draußen bleiben‘.

 

Außenansicht

Der Plan, ein Schauspiel von Brecht zu vertonen, brachte in den 1970er Jahren, als Cerha seine Baal-Oper komponierte, gehörige Schwierigkeiten mit sich. Seit dem Tod des Dramatikers (1956) lagen die Rechte an dessen Texten bei seiner Tochter Barbara Brecht-Schall. Sie galt als radikale Hüterin des väterlichen Erbes. Zwar gestattete sie Theatermachern, Brechts Dramen zu kürzen. Nicht jedoch sollten Zusätze die ‚Reinheit‘ der Werke trüben. „Jeder darf Papas Stücke spielen. Unter einer Bedingung: Keiner darf etwas hinzufügen“, lautete ihr Motto. Nicht wenige Projekte scheiterten an diesem Grundsatz, unter ihnen Volker Schlöndorffs Fernsehfilm Baal (1970) und noch 2015 eine Baal-Aufführung von Frank Castorf.
So muss es als Glücksfall gelten, dass Cerha die Oper 1981 bei den Salzburger Festspielen zur Uraufführung bringen konnte. Erst ein persönliches Gespräch mit Barbara Brecht-Schall hatte den Erfolg ermöglicht:

Die Vorstellung, Cerha hätte Baal nicht aufführen dürfen, scheint angesichts des extrem hohen Arbeitsaufwandes bizarr zu sein. Allein für die musikalische Umsetzung benötigte der Komponist fast sieben Jahre, den Zeitraum von 1974 bis 1980. Cerhas Faszination an dem Sujet reicht aber noch weiter zurück. Erste Bemerkungen zu Baal schreibt er bereits 1962 nieder.

Cerha, Notizen zu Baal, Originalmanuskript, 1962, 
AdZ, 000T0079/2

Cerha, Notizen zu Baal, überarbeitetes Typoskript, undatiert,
AdZ, 000T0079/13

Leben ist Bewegung, Ordnungen hingegen trachten sich im Gleichgewicht zu halten, zu bewahren. Baal sucht (oder schafft) keinen Ausgleich. Inbegriff des Vitalen, ist er in des Wortes Grundbedeutung „a-sozial“. Baal muss in Gegensatz zur Gesellschaft geraten und er muss untergehen.

Friedrich Cerha

Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 85

Cerhas leidenschaftliches Interesse an Brechts Baal spiegelt sich in weiteren Werken jener Zeit. 1961 hatte er den Zyklus Spiegel vollendet, eine monumentale Reflexion über gesellschaftliche Ordnungen. Damals (1962) nahm er auch die Arbeit an seinen Exercises auf, die  ebenfalls die Spannung zwischen der Gesellschaft und den Bedürfnissen des Einzelnen thematisieren. Cerhas Hinwendung zu Baal ist demnach folgerichtig. Zugleich verschärfen sich hier die Fragen nach dem Verhältnis von natürlicher Existenz und künstlichen Zwängen. Im Januar 1974 kommentiert Cerha:

Baal ist für mich vor allem auch ein provokantes Bild für ein Wesen, das die Bedingungen, die es braucht, um existieren zu können, nicht vorfindet und daher zugrundegeht. Hier zeigt sich für mich eine Dimension von brennender Aktualität – von einer Aktualität, die Brecht noch nicht absehen konnte. Wir studieren die Lebensvoraussetzungen von Tieren, die vom Aussterben bedroht sind, weil wir ihnen genommen haben, was der Art das Weiterleben ermöglicht – und wir versuchen, sie in Reservaten wieder herzustellen. Von Menschen wird offenbar angenommen, dass sie in den Einbahnen exakt vorgezeichneter Karrieren, in den Zwangsjacken der Zeitmaschinerie, in den Tretmühlen der Verwaltungsinstitutionen etc. noch ihren konstitutionellen Anlagen gemäß leben – leben können

Friedrich Cerha

Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 89

Brücke

Szenenbilder aus Baal (Salzburger Festspiele 1981), AdZ, 000F0049

Der böse Baal der asoziale heißt ein Fragment gebliebenes Lehrstück Brechts, um 1930 entstanden. Es ist eine von vielen Auseinandersetzungen des Dichters mit dem Baal-Stoff und ergänzt die fünf Fassungen des Dramas um eine weitere Facette. Im Titel des Lehrstücks klingen die gemeinhin mit der Hauptfigur assoziierten Charakterzüge deutlich an: Eine Figur, der per se keine Sympathien zufliegen. Eine Figur, die eine abstoßende Wirkung entfaltet. Eine Figur auch, mit der sich das Publikum allgemein kaum identifizieren kann. „Dem jungen Brecht“, so Cerha, sei recht gewesen, „dass Schmerz und Ekel in seinem Stück schwer verdaubar bleiben.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 244
Zieht man Baals Geschichte näher heran, so erschließt sich zunächst leicht, welche Charakterschwächen den Titelhelden (oder besser Antihelden) zur verhassten Person machen. Trotz einiger texthistorischen Änderungen und Ergänzungen (mit Blick auf die unterschiedlichen Fassungen) klaffen tiefe menschliche Abgründe überall. Dort, wo Baal auf andere Menschen trifft, gehen diese zugrunde. Es spielt hierbei keine Rolle, ob die Personen in seinem Gesichtsfeld ihm wohlgesonnen sind oder nicht, in Gegenteil: Gerade seine Bewunderer:innen sind es, die seinen Abweisungen am hilflosesten ausgeliefert sind. Alle Frauen, die ihm verfallen, stürzt er ins Unglück: Seine erste, die wohlsituierte Emilie (Gattin des Großkaufmanns Mech), nötigt er in der Wirtsstube dazu, einen Chauffeur zu küssen, während er bereits die Geliebte seines Freunds Johannes umgarnt. Nachdem er diese in die Untreue getrieben und entjungfert hat, entledigt er sich ihrer – daraufhin ertränkt sie sich aus Verzweiflung. Als seine nächste Liebhaberin Sophie ihm schließlich gesteht, dass sie ein Kind von ihm erwarte, stößt er sie heftig von sich und zieht von dannen. Ein weiteres Mädchen vergewaltigt er später im Gebüsch des Waldes, in welchem er als Holzfäller arbeitet. Aus impulsiver Eifersucht heraus ersticht er gegen Ende auch noch seinen besten Freund Ekart – den wohl letzten Menschen, der noch zu ihm gestanden hatte. Das Ergebnis der alptraumhaften Odyssee menschlicher Begegnungen: Baal stirbt vereinsamt im Wald, begleitet von spöttischen Bemerkungen der übrigen Holzfäller.
So wie Baal keine Empathie für andere Menschen aufbringen kann, so kann auch das Theaterpublikum keine für ihn aufbringen. Brecht selbst beabsichtigte ein solches identifikatorisches Erlebnis auch nicht, er versuchte es sogar zu unterbinden. „Einen großen Fehler sonstiger Kunst“ hoffe er im Baal „vermieden zu haben“, so der Dichter: die „Bemühung mitzureißen.“Bertolt Brecht, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. v. Werner Hecht, Berlin 1994, Bd. 26: Journale 1, hier S. 271 Der Zuschauer solle nicht beruhigt werden, „dadurch, dass er eingeladen wird, mitzuempfinden, sich im Helden zu inkarnieren.“ In Teilen greifen diese theaterästhetischen Forderungen dem späteren Epischen Theater vor, für das Brecht berühmt wurde. Dennoch ist Baal noch weit von diesem entfernt. Vielmehr wirkt noch der, 1918 (zur Zeit der Erstfassung) verbreitete expressionistische Stil in Brechts frühem Drama nach – zu erkennen etwa an der teils exaltierten Sprache. Auch Baals metaphysische Wahrnehmung der Natur etwa, seine unbändige Sehnsucht nach ihr, drücken sinnliche Empfindungen der Strömung aus.
Gerade diese, über das Klischee des „fressenden“Am 5.5.1918 nennt Brecht in einem Brief an Hans Otto Münsterer den ersten geplanten Titel für das Theaterstück: „Baal frißt! Baal tanzt!! Baal verklärt sich!!!“. Vgl. Bertolt Brecht, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. v. Werner Hecht, Berlin 1994, Bd. 28: Briefe 1, hier S. 51 Unmenschen hinausweisenden Tendenzen des Dramas boten Cerha einen Anknüpfungspunkt. Seine Oper ist der Versuch, die abweisende Hülse der Baal-Figur zu durchbrechen, um zum eigentlichen Problem der Unangepasstheit vorzudringen, es sichtbar zu machen. 1974 fand Cerha den Schlüssel zu diesem Unterfangen. „Nur Ansätze für Identifikation“ könnten „Voraussetzungen für jene Art von Auseinandersetzung schaffen“, die ihn an Baal interessierten. Eine Notiz aus diesem Jahr bezeugt den Durchbruch zur Opernkonzeption:

Cerha, Notizen zu Baal, Typoskript, Februar 1974, AdZ, 000T0079/16

Die Vielschichtigkeit des in der Figur Baal Les- und Verstehbaren, erspürte indes auch Brecht zu seiner Zeit – er hätte sonst den Stoff wohl kaum immer wieder neu perspektiviert. Auch das Lehrstück Der böse Baal der asoziale beschränkt sich nicht darauf, das überzeichnete Klischee eines hedonistischen, ichbezogenen und anarchischen Menschen erneut zu unterfüttern. Tiefenpsychologisch beobachtend schildert er darin:

Das Individuum erscheint uns immer mehr als ein widerspruchsvoller Komplex in stetiger Entwicklung, ähnlich einer Masse. Es mag nach außen hin als Einheit auftreten und ist darum doch eine mehr oder minder kampfdurchtobte Vielheit, in der die verschiedensten Tendenzen die Oberhand gewinnen, so daß die jeweilige Handlung nur das Kompromiß darstellt.

Bertolt Brecht

Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. v. Werner Hecht, Berlin 1994, Bd. 22: Schriften 2, hier S. 691

Innenansicht

Baal, Opernplakat, Salzburger Festspiele, 1981

Cerhas jahrelange Anstrengungen, Baal in Musik zu setzen, geht von der Prämisse aus, in Brechts Dramatik etwas anderes zu sehen als das landläufig mit ihr Assoziierte. Dass sein Blickwinkel auf das Stück vom breiten Konsens abwich, wurde Cerha bewusst, als ihm 1974 mehrere Theaterkritiken und Kommentare in die Hände fielen. Beim Lesen merkte er, dass das, was ihn „am Baal so sehr beschäftigt[e], offensichtlich von Zeitgenossen gar nicht gesehen wurde.“ Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 87. Durchweg berichteten die Kritiken von den aufzehrenden und triebhaften Eigenschaften des „Hamsters“, den auch Brecht in einem Brief an Caspar Neher beschrieb: „Ein ungeheurer Genüßling, ein Kloß, der am Himmel Fettflecken hinterläßt, ein maitoller Bursche mit unsterblichen Gedärmen.“Vgl. Bertolt Brecht, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. v. Werner Hecht, Berlin 1994, Bd. 28: Briefe 1, hier S. 57 Unverkennbar dominierten die in den Vordergrund gekehrten animalischen Eigenschaften der „Urgestalt“Vgl. Cerha: „Ein unwandelbares Urbild, wenn auch deutlich zeitgeprägt in seiner literarischen Erscheinung, irritiert er stärker als Wedekinds faszinierende ‚Urgestalt des Weibes‘, Lulu.“ In: Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 243 f. den Diskurs über Baal. Cerhas „Hauptinteresse“ galt jedoch nicht Baals Gelüsten oder der auch von ihm registrierten „expressionistische[n] Natur- und Allverbundenheit“, sondern „den Fragen, die sie auslöst.“ Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 88

Baals eigentlicher Antrieb ist das vitale, unausrottbare menschliche Glücksverlangen, die Suche „nach dem Land, wo es besser zu leben ist“, wie es in seinem letzten Lied heißt. Er sucht es hier, denn er ist „aufs Irdische angewiesen“ und er stößt dabei an Grenzen aller Art. Es liegt eine gewisse Gesetzmäßigkeit darin, dass ein wirklich vitales Bedürfnis, „besser“ zu leben, erstarrte Normen und Gewohnheiten auswühlt und schließlich abwirft, wie eine Schlange ihre Haut abwirft. „Zieht an den neuen Menschen“, sagt Paulus, „Ich mache einen neuen Adam“, sagt Baal. Freilich wird es auch dem neuen Adam nicht erspart bleiben, Ordnungen zu schaffen und mit ihnen fertig zu werden.

Friedrich Cerha

Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 88

Die Entledigung des sozialen Zwangskorsett, die Überschreitung gesellschaftlicher Grenzen, schließlich die nicht zu vermeidende Abkehr von der Zivilisation überhaupt – all dies sind entscheidende Brennpunkte in Cerhas Betrachtungsweise. Sie entspricht in Teilen Brechts Forderung,„dialektisch zu denken“ Bertolt Brecht, Baal. Der böse Baal der asoziale, hg. v. Dieter Schmidt, Frankfurt/M. 1968, S. 110 f.– neben Baal also auch die ihm gegenüberstehende Gesellschaft im Blick zu behalten, mit all ihren Versuchen, die auf sie angewiesenen Akteure einzuzwängen. Individuum und Kollektiv begegnen sich in Cerhas Oper noch dichter, als in Brechts Version fürs Theater.
Eine Alternative zu den gängigen Perspektiven auf Brecht erfüllt sich jedoch nicht nur in der dramaturgischen Behandlung des Stoffs. Auch die Musik setzt Kontraste zu jenen bekannten Komponisten, die sich um Brecht versammelten: Allen voran Kurt Weill (Dreigroschenoper; Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny), Hanns Eisler (Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt?) und Paul Dessau (Die Verurteilung des Lukullus). Deren kompositorische Umsetzungen folgen weitgehend dem Prinzip einer gestischen Musik, die zeigend und nicht einfühlend funktioniert, Sachlichkeit im Ausdruck voraussetzend. Auch die Trennung der theatralischen Elemente – des Wortes, der Musik und der Bühnenvorgänge – sowie ihre gegenseitige Verfremdung eint die ‚traditionellen‘ Vertonungsansätze Brecht’scher Stücke. Ganz anders Cerha: In seinem Baal sind Sprache und Klänge keine sich abgrenzenden Bestandteile, sondern bilden eine Einheit von suggestiver Natürlichkeit. „Das Wort“, so der Komponist, solle „wirklich im Vordergrund stehen, tragen“. Dazu seien „alle Differenzierungsmöglichkeiten im Übergang von Sprechen zum Singen“ brauchbar: „Melodisches von expressivem und formalem Eigenwert wächst an ganz bestimmten Stellen aus der Deklamation hervor.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 91 Hinter Cerhas musikalischer Ausleuchtung, Abtastung der Sprache steht das bereits erläuterte Bemühen um ein Identifikationserlebnis, das ihm zum Herausheben des forcierten Problemfeldes notwendig erschien. Zugleich brachte die kompositorische Arbeit am „Baal“-Stoff eine neue Ausdrucksweise hervor. Die Novität ergab sich jedoch nicht aus kühnen Erfindungen (wie noch in den 1960er Jahren). Stattdessen entfaltete sie sich innerhalb von historisch ausgemessenen Erfahrungsräumen. Cerhas Entwicklungsstrecke hin zu Baal fängt bereits bei den Exercises
(1962-67) an. In diesen sei er „von Bruchstücken aus Vertrautem und Neuem ausgegangen, um von bewusst sehr verschieden gewählten Ansatzpunkten her zu einer Bewältigung heute erfahrbarer Vielfalt zu gelangen“. Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 242 Mit stets anderen künstlerischen Fragen wurde das Ausloten des Heterogenen auch in den 1970er Jahren zu seiner Hauptaufgabe – immer jedoch mit dem Bestreben, Schnittmengen im Verschiedenen aufzuzeigen. Die „Annäherung und Integration vielfältiger Erscheinungsformen“ wurde sein produktiver Möglichkeitsraum für die Zukunft, gewissermaßen als ein Zusammenschmelzen von künstlerischer Erfahrung. „In meiner Oper Baal“, notiert der Komponist später, hoffe er, „eine dem entsprechende, allen meinen Bestrebungen und Erfahrungen adäquate Sprachwelt erreicht zu haben.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 242
Die inklusive Sprachwelt Baals führt kompositorisch erprobtes Wissen aus verschiedenen Phasen von Cerhas Werk zusammen: Es gibt Klangflächen aus Orchestermassen, Reminiszenzen an tonale Musik, serielle Strukturen, aleatorische Passagen, zutiefst Gesangliches und nüchtern Gesprochenes, Dramatisch-Zerklüftetes und Lyrisches, Bühnenmusiken und Tonbandeinspielungen. Im Umgang mit Brecht sucht Cerha die Vielfalt, ohne diese jedoch zum Selbstzweck werden zu lassen. Seine kompositorische Formung muss als ein Akt höchster Reflexion eingeordnet werden, die kulturhistorischen Voraussetzungen miteinbeziehend. Dass Cerha die Wurzeln des Stücks im Expressionismus mit seiner gleichsam expressiven wie emotionsreichen Musik herausarbeitete, stieß jedoch nicht überall auf Verständnis, in Gegenteil: Die ‚Jünger‘ Brechts (die in ihm den Vater des Epischen Theaters sahen) sparten nicht mit teils polemischer Kritik an der neuen Oper, die zugleich einen Bruch hervorrief:
„Zum ersten Mal wurde ein solches Stück von einem Komponisten der jüngeren Generation vertont, der nicht mehr aus dem Musiker-Kreis rund um Brecht stammte und auch keinen Kontakt zu dessen unmittelbaren Nachfolgern am Berliner Ensemble hatte.“Barbara Zuber, „Herausforderung ‚Baal‘ – Friedrich Cerha und Bertolt Brecht, in: Matthias Henke und Gerhard Gensch (Hg): Mechanismen der Macht. Friedrich Cerha und sein musikdramatisches Werk, Innsbruck/Wien/Bozen 2016, S. 129-152, hier S. 129 Folgerichtig, dass der Widerstand gegen Cerhas Baal ausgerechnet in Berlin Fuß fasste: Dort, an der Deutschen Staatsoper, wurde das Stück
„neu einstudiert und im November 1982 als DDR-Erstaufführung gezeigt.“Barbara Zuber, „Herausforderung ‚Baal‘ – Friedrich Cerha und Bertolt Brecht, in: Matthias Henke und Gerhard Gensch (Hg): Mechanismen der Macht. Friedrich Cerha und sein musikdramatisches Werk, Innsbruck/Wien/Bozen 2016, S. 129-152, hier S. 144

 

Cerha, Baal, Autograf, Titelseite, 1981,
AdZ, 00000079/2

Links: Baal, Plakat, Deutsche Staatsoper Berlin, 1982
Rechts: Baal, Programmheftseite, Deutsche Staatsoper Berlin, 1982

Die Reaktionen aus Berlin fielen zweischneidig aus. Beim Publikum ‚landete‘ das Stück: Wie bereits in Salzburg und Wien wurde es auch an der Deutschen Staatsoper gefeiert (weitere Erfolge in Nürnberg, Basel oder Mönchengladbach untermauerten in den 1980er Jahren seine Bedeutung als eine der erfolgreichsten Gegenwartsopern). Einige Brecht-Kenner hingegen lehnten Cerhas Musiktheater ab. Sie griffen in Kritiken zur DDR-Erstaufführung die sinnliche, zur Einfühlung einladende Musiksprache an, ihre Fähigkeit den „Abstand zur Baal-Figur“ Barbara Zuber, „Herausforderung ‚Baal‘ – Friedrich Cerha und Bertolt Brecht, in: Matthias Henke und Gerhard Gensch (Hg): Mechanismen der Macht. Friedrich Cerha und sein musikdramatisches Werk (= Schriften des Archivs der Zeitgenossen 1), Innsbruck/Wien/Bozen 2016, S. 129-152, hier S. 145zu verringern. Polemisch warf beispielsweise Wolfgang Lange, Musikredakteur der Berliner Zeitschrift „Theater der Zeit“, Cerha vor, das Drama „zum Vehikel eigensüchtiger Ausdrucksabsicht“ Wolfgang Lange, zit. in: Barbara Zuber, „Herausforderung ‚Baal‘ – Friedrich Cerha und Bertolt Brecht, in: Matthias Henke und Gerhard Gensch (Hg): Mechanismen der Macht. Friedrich Cerha und sein musikdramatisches Werk, Innsbruck/Wien/Bozen 2016, S. 129-152, hier S. 145zu machen. In derselben Zeitschrift plädierte der damalige Leiter des DDR-Brecht-Zentrums Werner Hecht für eine Aufführungspraxis, die an Brechts eigenen Theatertheorien ausgerichtet sein müsse. Vgl. Barbara Zuber, „Herausforderung ‚Baal‘ – Friedrich Cerha und Bertolt Brecht, in: Matthias Henke und Gerhard Gensch (Hg): Mechanismen der Macht. Friedrich Cerha und sein musikdramatisches Werk, Innsbruck/Wien/Bozen 2016, S. 129-152, hier S. 146 f.Cerhas sinnliche Musik, die nicht sachlich oder kommentierend daherkam, passte zu diesen Forderungen nicht, in Gegenteil: Sie verhielt sich sogar konträr zu ihnen. Stieß früher Brecht seinem Publikum vor den Kopf, so tat Cerha durch Brecht nun Selbiges mit den Brecht-Anhängern. Das dahinterstehende, gewandelte Verhältnis des Musiktheaters zu seinen Rezipienten durchdachte der Komponist gründlich: In seinen Reflexionen wird erkennbar, dass er im Bestreben, Identifikation zu erreichen, das Potential erkannte, bestimmte Publikumsschichten zu reizen:

Vieles in Kunst und Anti-Kunst hat in unserem Jahrhundert Kritik und Verweigerung artikuliert; manches hat die Grenze zum Leben zu überschreiten versucht. In einer ästhetisch hinreichend definierten, etablierten Kunstform manifest gewordene Herausforderungen zu kritischem Verhalten, wie sie absurdes Theater, klassizistische „Verfremdungstechniken“ und „engagierte Kunst“ auf ihrer Basis heute darstellen, können noch immer gültige Dokumente unserer Zeit sein und einen hohen Reiz ausüben. Ihren provokatorischen Effekt auf den „Wissenden“ haben sie verloren. Irritierend auf ihn wirkt heute eher, was direkte Anteilnahme erheischt. Es verbreitet Unbehagen – unmittelbar in der eigenen Reaktion und mittelbar in der Beobachtung des „naiven“ Hörers. Auch der schwankt allerdings bei Baal im Optimalfall, was er schön finden und was er ablehnen kann, soll, darf, muss…

Friedrich Cerha

Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 245 f.

Ein angestrebtes „Schwanken“ des Zuschauers, und -hörers lässt Cerhas Baal zu einem Balanceakt werden. Keinesfalls ist die Oper ein „Ort der Affirmation und auktorialen Werbung für den Helden.“Barbara Zuber, „Herausforderung ‚Baal‘ – Friedrich Cerha und Bertolt Brecht, in: Matthias Henke und Gerhard Gensch (Hg): Mechanismen der Macht. Friedrich Cerha und sein musikdramatisches Werk, Innsbruck/Wien/Bozen 2016, S. 129-152, hier S. 149 Das theatrale Spiel mit Nähe und Distanz zum „Außenseiter“ ist vielschichtiger und wird auch musikalisch differenziert betrieben.

Wie ambivalent sich der Problemkomplex „Baal“ zum Publikum verhält, ist bereits in den allerersten Momenten des Stücks verfolgbar. Die Oper beginnt, bevor sie begonnen hat: Mit dem Auftreten des Dirigenten. Dieser wird üblicherweise vom Publikum beklatscht – ein Detail, das Cerha geschickt nutzt, um in sein Stück zu führen. Vergleichbar mit dem Filmeffekt des Morphing geht der Applaus im Opernhaus in einen künstlichen über. Der Beifallsorkan führt in das erste, gleichsam archetypische Bild Baals: Eine Soirée der gehobenen Gesellschaft, bewirtet vom Großkaufmann Mech. Diese „High Society“ wird zum Spiegel des Publikums.

 

Cerha, Baal, Autograf, Regieanweisung und Tonbandangaben, 1981, AdZ, 00000079/5

Die Situation, in der sich Baal in Cerhas Oper anfänglich wiederfindet, ist eine Sozialstudie: Der junge Dichter wird von allerlei mächtigen Leuten umschwärmt und für seine originelle Poesie gefeiert. Baal scheint sich für die Anerkennung jedoch nicht zu interessieren und widmet sich stattdessen lieber seinem Wein. Alle Versprechen, die von Verlegern und Kritikern an ihn herangetragen werden, schlägt er aus. Seine rauen Äußerungen führen schließlich zum Bruch. Bezeichnend sind die Worte Mechs: „Mir gefallen alle Tiere des lieben Gottes. Aber mit dem Tier kann man nicht handeln.“Cerha, Baal, Autograf, AdZ, 00000079/27 f. Prologartig bringt die erste Szene den Konflikt der gesamten Oper auf den Punkt: Der Außenseiter schlägt die Einladung der Gesellschaft ab, dazuzugehören und entscheidet sich für ein Dasein im Abseits. Zum Verständnis der ersten Szene trägt auch die Bearbeitungsgeschichte bei: In der zweiten Fassung von 1919 setzte Brecht ein Gedicht an den Anfang: Den „Choral vom großen Baal“. Auf dieses expressionistische Sprachgemälde verzichtete Cerha trotz der musikalischen Suggestion bewusst, wie aus einer Notiz des Jahres 1977 hervorgeht:

Cerha, Notiz zu Baal, Manuskript, 1977, AdZ, 00000079/10

Durch den Verzicht auf den Choral beleuchtet Cerha sein eigentliches Interessensfeld – die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft – direkt und unvermittelt. Auch die Entwicklung der Szene trägt dazu bei: Baal bleibt allein zurück, nachdem sich die Abendgesellschaft von ihm abgewendet hat. Er trägt anschließend die zentrale „Ichthyosaurus-Parabel“ vor; der Grundkonflikt wird mit ihr auf ein neues Niveau gehoben. Die Musik spiegelt die Distanz Baals von den restlichen Menschen. Seine in der Parabel anklingende Innenwelt wird durch sich aufbäumende orchestrale Flächen durchleuchtet. Diese beginnen und enden mit dunklen Farben (vornehmlich tiefe Streicher und tiefes Blech), ein Mittel, um die Unergründlichkeit von Baals seelischen Vorgängen auszudrücken. Eine „expressive Akkordik“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 244 schält sich hier zum ersten Mal heraus, eingehüllt in ein insgesamt weiches Klangbild. In harschem Gegensatz dazu steht die musikalische Welt der Abendgesellschaft. Die belanglosen Plaudereien werden von einer gleichsam plätschernden Musik grundiert. Rein klanglich fehlt ihr das Fundament, es gibt kaum tiefe Instrumente. Auch strukturell ist sie vom gestischen Gehalt der „Ichthyosaurus-Parabel“ weit entfernt: Den einzelnen Orchesterstimmen sind kurze Floskeln überantwortet, die aleatorisch miteinander verwoben werden. Ein flirrender Klanguntergrund ohne Profil ergibt sich daraus. Baals gesungene Parabel wirkt im Anschluss wie das Negativ des vorher Erklungenen: Existenzielles steht gegen Bedeutungsloses.

Produktion Neue Oper Wien (2011),
Sébastien Soulès (Baal), 
amadeus ensemble Wien, Ltg. Walter Kobéra,
Inzenierung: Leo Krischke

Ist die Anfangsszene bereits als Mini-Drama zu betrachten, in dem alle grundsätzlichen Konflikte des Stoffes buchstäblich anklingen, so gibt es für Cerhas Oper noch einen weiteren Ausgangspunkt. Dieser taucht ausschließlich in Brechts erster Fassung des Dramas von 1918 auf und heißt dort „Die Legende der Dirne Evelyn Roe“. Es handelt sich um Baals ersten szenisch eingeflochtenen Gesang. Ort: Eine Wirtsstube. Baal nimmt eine „Gitarre von der Wand, stimmt sie und singt die Ballade“Cerha, Baal, Autograf, AdZ, 00000079/77 den anwesenden Gästen zur Unterhaltung vor. Im Lied erzählt er von einem Mädchen, das auf der Suche nach dem „Heiligen Land“ ist. Um dieses zu finden, verkauft sie ihren Körper. Als sie stirbt, aber das Land immer noch nicht gefunden hat, wird sie sowohl vom Himmel als auch von der Hölle abgewiesen. Sie verbleibt heimatlos in einem Zwischenreich, befallen von ihren Sehnsüchten.
Die gesamte Ballade kann als Keimzelle für die Oper betrachtet werden, wie Cerha in einem Interview um 1982 erläutert:

 

„Neu auf der Bühne: ‚Baal‘ von Friedrich Cerha an der Staatsoper Berlin.“
Radiosendung von Hans Schröter, DDR II, 6.1.1983
Quelle: Archiv der Zeitgenossen, CER-S1-4K.

Ihre Fäden für das Netzwerk der Oper spinnt die „Legende der Dirne Evelyn Roe“ in zweifacher Hinsicht. Zum einen umreißt sie einen Topos, der für das Verständnis der Figur Baal wichtig wird. Sie verdichtet das Motiv der Sehnsucht nach einem utopischen Ort. Da dieser außer Reichweite liegt, steht er grundsätzlich für die Unvereinbarkeit der lebensnotwendigen Bedürfnisse des einzelnen Menschen mit jener Welt, in der er sich ‚hineingeworfen‘ findet. „Evelyn Roe“, so notiert Cerha 1975, „das ist Baal und sein Opfer – das ertrunkene Mädchen“. Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 90Mit Letzterem meint er Johanna, eine von Baals zahlreichen Geliebten, die er im ersten Teil der Oper seinem Freund Johannes ausspannt, entjungfert, verstößt und in den Selbstmord treibt. Johanna kommt im Wasser um – ein interessantes Detail, erinnert man sich an den in der Sintflut „ersoffenen“ Ichthyosaurus. Das Ertrinken wird zum symbolhaften Bild für ein ‚Sich nicht über Wasser halten Können‘, ein unaufhaltsames, aber zähes Zugrundegehen in der Welt.
Die Schicksale Evelyn Roes und Johannas verbindet neben der von Cerha festgestellten allegorischen Funktion auch ein musikalisches Element. „Eine nicht illustrativ oder psychologisch-deutend erfundene, lapidare Grundformel“ sei
„zur Keimzelle für vielerlei Gestalten geworden“, so der Komponist.Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 245Cerha meint damit das Anfangsmotiv der Ballade. Seine Erscheinungsform, sein Duktus, prägt vor allem Baals Gesänge. Unter ihnen: Das „Lied vom ertrunkenen Mädchen“, das Baal Ekart im zweiten Teil (5. Bild, „Morgendämmerung im Freien“) vorträgt. Die Erinnerungen an Johanna „verfolgen ihn […] bis in seine Träume.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 90

 

Cerha, Baal, „Legende von der Dirne Evelyn Roe“,
Gesangsstimme, T. 360-362 (1. Teil), AdZ, 00000079/78

Cerha, Baal, „Lied vom ertrunkenen Mädchen“,
Gesangsstimme T. 698-700 (2. Teil), AdZ, 00000079/395

Über das musikalische Detail hinaus ist Evelyn Roes Ballade der Inbegriff des in der Oper gestalteten „Legenden-Modells“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 245 Dieses findet sich in Baals Gesängen wieder, die „als geschlossene Nummern gestaltet“ sind und „deren Melos und Harmonik […] eine zentrale Funktion einnimmt“.Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 244Allein die Begleitung der Gesänge hebt sie gewissermaßen innertheatralisch aus ihrem Umfeld heraus. Die Ballade über Evelyn Roe haftet sich musikalisch zunächst eng an die Szene: Baal begleitet sich (rein visuell) selbst mit der Gitarre auf der Bühne – passend dazu ‚zupft‘ es im Orchester, kombiniert wird eine tatsächliche Gitarre mit Harfe und im Pizzicato spielenden Streichern. Ein anderes ‚volkstümliches‘ Instrument tritt später hinzu, das Akkordeon. Anklänge an Volkslieder setzen sich frei, sogar tonale Akkorde blitzen hervor. Zugleich entfernt sich die Begleitung im Verlauf vom ursprünglichen Gestus, das Orchester schwemmt auf, die Musik drängt ins Phantastische. Nach den Beschreibungen des mythischen Zwischenreichs, einer entrückten Passage, beschließt Baal sein Lied profan wieder zu drei gezupften Klängen: „Die arme Evelyn Roe“.Cerha, Baal, Autograf, AdZ, 00000079/104 Wiederhergestellt ist damit die Verbindung zum Unglück der irdischen Existenz, das Baal nach wie vor zuteilwird.

Cerha, Baal, Legende von der Dirne Evelyn Roe, T. 360-364 (1. Teil),
AdZ, 00000079/78

Produktion Neue Oper Wien (2011),
Sébastien Soulès (Baal),
amadeus ensemble Wien, Ltg. Walter Kobéra,
Inzenierung: Leo Krischke

Mit Evelyn Roe teilt Baal das existenzielle Gefühl, nicht dazu zu gehören. Später veranschaulicht die Gipfelszene des zweiten Teils, wie sich dieses Gefühl im Verlauf der Oper verstärkt. Die Szenerie ist unverändert: eine Branntweinschenke. Um Geld für das Begräbnis seiner Mutter aufzutreiben, singt Baal ein letztes Lied, das zum „verzweifelte[n] Zerrbild“ der „frech-blasphemischen Kabarettlieder“ wird:Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 245 Den Reggae „Von Sonne krank“. In diesem verdichten sich viele zentrale Motive: Baal besingt Träume einer sonst vergessenen Jugend, er berichtet über Mörder, die „aus Himmel und Hölle vertrieben“Cerha, Baal, Autograf, AdZ, 00000079/500 wurden und über die Sehnsucht nach der Natur – einer „kleinen Wiese mit blauem Himmel drüber“.Cerha, Baal, Autograf, AdZ, 00000079/510 f.Die zentralen Zeilen jedoch beziehen sich unmissverständlich auf das von Evelyn Roe nie erreichte „Heilige Land“:

Er aber sucht noch in absynthenen Meeren,
Wenn ihn schon seine Mutter vergißt,
Grinsend und fluchend und zuweilen nicht ohne Zähren
Immer das Land, wo es besser zu leben ist.Cerha, Baal, Autograf, Archiv der Zeitgenossen, 00000079, S. 503 ff.

Das jenes von Baal besungene Land nie erreicht werden kann, deutet sich in allen Bereichen der Dramaturgie und Musik an. Der Reggea ist regelrecht defekt: Immer wieder unterbricht Baal sein Lied und setzt neu an. Die starre Begleitung (jazzartig instrumentiert durch Trompeten, Posaunen, Akkordeon, Bassgitarre und Schlagzeug) gerät aus dem Takt. Nur Bruchstücke teilen sich mit.
Nach diesem letzten Lied schreitet der Verfall Baals schnell und unaufhaltsam voran: Als er die Kellnerin Luise auf Ekarts Schoß sieht, wird der betrunkene Sänger eifersüchtig. Im Affekt ersticht er seinen einzigen, verbliebenen Freund, bereut die Tat direkt und stürmt aus dem Lokal. Gejagt von den eigenen Dämonen flüchtet er in eine Tanzdiele, wo er wiederum vertrieben wird. Es gibt keinen Ort mehr, an dem er gewünscht wäre. Von der Welt verlassen stirbt er im Wald – als Ausgestoßener.

Produktion Neue Oper Wien (2011),
Sébastien Soulès (Baal), Michael Wagner (Ekart),
amadeus ensemble Wien, Ltg. Walter Kobéra,
Inzenierung: Leo Krischke

Schatztruhe