Intersecazioni

Die Schönheit der Störung

Fasce

Netzwerk

Friedrich Cerha, Ohne Titel

Mischtechnik auf Holz, 64 x 103 cm

Kontraste und Brüche verschiedenartiger Materialien beschäftigten Cerha in den 1960er Jahren stark – sowohl musikalisch als auch visuell. Ein Bild des Zeitraums demonstriert das horizontale und vertikale Spiel mit Texturen besonders gut – ein Gestaltungsverfahren, das auch in seinem Orchesterwerk Intersecazioni bedeutsam ist.

Foto: Christoph Fuchs

Musik als Dokumentation von Lebenszeichen –
das Programmheft zum „Musikprotokoll“ 1973 in Graz legt diesen Gedanken nahe.

Umschlag des Programmhefts zum „Musikprotokoll 1973“ in Graz, AdZ, KRIT0018/28

Wie die Aufzeichnung eines Kardiogramms muten die nervösen Linien und ausschlagenden Zacken vor dem Hintergrund ruhig geführter Notenlinien an. Sicherlich nicht rein zufällig wählte das „Musikprotokoll“ gerade diese Gestaltung als Aushängeschild für das seinerzeit noch junge Festival. Das Design birgt eine allgemeine Aussage in sich: 1968 gegründet, ermöglichten die Konzertevents, was zuvor in Österreich kaum denkbar war. Sie verschafften der experimentellen Musik eine große Bühne. Zu den Profiteuren gehörte auch Friedrich Cerha. 1971: die erste vollständige Aufführung des kompletten Orchesterzyklus Spiegel, ein Kraftakt. 1975: Fasce erklingt zum ersten Mal. Beide Werke: mehr als eine Dekade alt. Ähnlich erging es auch dem Orchesterstück Intersecazioni. Beim „Musikprotokoll“ wurde das 1959 komponierte Werk 14 Jahre später aus der Taufe gehoben.

Außenansicht

Die Geschichte des weiten Wegs zur Uraufführung von Intersecazioni lässt nicht zuletzt Cerhas Charakterstärke erkennen. An der Schwelle zu den 1960er Jahren entstand eine Reihe von Werken, die mit großer oder ‚skurriler‘ Besetzung und noch dazu ungewöhnlichen technischen Schwierigkeiten aufwarteten. Neue Notationsweisen und damit einhergehende Anforderungen an Dirigent:innen und Interpret:innen prägten diese Stücke. Sie waren ihrerzeit zwar neu, konnten aber an den ‚Hotspots‘ der Avantgardeszene (z.B. Köln oder Darmstadt) umgesetzt werden. Ein Werk wie Intersecazioni in Österreich aufzuführen, blieb jedoch lange ein Wunschtraum. Manch einen Komponisten hätten solche Aussichten wahrscheinlich davon abgehalten, die eigenen musikalischen Vorstellungen zu Papier zu bringen. Nicht so Cerha: Er komponierte aus Überzeugung und zu dieser Zeit vielleicht freier als jemals zuvor. Trotz allem hinterließ die besondere Situation in der Entstehungsgeschichte ihre Spuren:

Intersecazioni für Violine und Orchester wurden 1959 komponiert. Angesichts der Fülle von Konzepten, die mich damals beschäftigten einerseits, und der lebhaften äußeren Aktivitäten als Dirigent und Hochschullehrer, wie auch der totalen Unmöglichkeit, ein Werk dieser Art hierzulande aufgeführt zu sehen andererseits, blieb der zweite Teil des Stücks als Particell liegen und wurde erst 1972/73 fertig instrumentiert.

Friedrich Cerha

Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 224

Die entsprechenden Skizzenseiten zu Intersecazioni offenbaren, dass Cerha bereits in einem frühen Stadium die klangliche Realisierung durch instrumentale Farben ziemlich genau vorschwebte. Zum Anlass der anstehenden Uraufführung beim „Musikprotokoll“ verfeinerte er diese Vorstellungen. Der Beginn des zweiten der beiden Sätze veranschaulicht ein wegweisendes Denken in Farbblöcken, die einander ablösen.

Cerha, Intersecazioni, Skizzen, AdZ, 000S0054

Cerha, Intersecazioni, Autograf, AdZ, 00000054

Stuttgarter Rundfunkorchester,  Ltg. Michael Gielen, Ernst Kovacic (Violine),  Uraufführung beim Musikprotokoll Graz am 16.10.1973

Nimmt man die ersten Seiten der fertigen, für die Grazer Uraufführung reingeschriebenen Partitur in den Blick, so verwundert es zunächst, warum das Stück schwierig aufzuführen war. Jeder professionelle Dirigent hätte dem Orchester Akkordblöcke, eingefasst in wechselnde Taktarten, wohl mühelos entlocken können. Auf der letzten der hier aufgeführten Seiten lässt sich jedoch erahnen, dass dieses Schema nur von vorübergehender Natur ist: Notiert ist dort eine völlig anders koordinierte Passage, Takte fehlen völlig. Der Charakterzug des Wechselhaften prägt das gesamte Stück.

Brücke

Das „Musikprotokoll“ 1973, die Premierenbühne für Intersecazioni, stand unter dem Motto „Futurismus“. Aufgeführt wurden damals viele Stücke aus den 1920er Jahren, die sich dem Thema der Maschinenmusik verschrieben hatten: Alexander Mossolows Eisengießerei oder Max Brands Oper Maschinist Hopkins gehörten ebenso dazu wie Amériques von Edgard Varèse, eines Komponisten, den Cerha besonders schätzt und oft aufführte. Das Festivalmotto passt aber auch zur Uraufführung der Intersecazioni, ohne dass das Werk selbst einer Maschinenästhetik nacheifern würde. Hier geht es eher um die futuristische Gesinnung, eine Musik ohne Kompromisse zu schreiben. „Sprachlich und formal“ handele es sich um das „komplexeste Stück“ aus der Periode serieller Kompositionen, erläutert Cerha. Es sei „vielleicht das kühnste – sicherlich“ aber „das am wenigsten glatte.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 224 Auf dem Sommerkolloquium des Archivs der Zeitgenossen 2015 beschrieb Cerha die Risikofreude des Werks genauer.

Programmheftseite zum „Musikprotokoll 1973“ in Graz, AdZ, KRIT0018/27

Mitschnitt, Sommerkolloquium des Archiv der Zeitgenossen, Krems 2015

Innovativ an den Intersecazioni ist die eigenwillige Nutzung des Orchesters. Althergebrachte Etiketten taugen wenig. So könnte auf den ersten Blick angenommen werden, das Stück „für Violine und Orchester“ sei ein modernes Geigenkonzert. Wohlgemerkt wäre es sein erstes, denn obwohl selbst Violinist, hatte Cerha bis 1959 noch kein Konzert für sein Instrument geschrieben. Sehr wohl lagen aber schon besonders viele Stücke für Geige und Klavier hinter ihm, eine Kombination, in der Cerha gern neue Techniken auf ihre Tauglichkeit testete, um sie später auf einen größeren Klangapparat zu übertragen. 1960 schrieb Cerha einige Briefe an seinen Komponisten- und Dirigentenkollegen Ernst Krenek, der trotz seines vergleichsweise hohen Alters wie Cerha das Terrain des Serialismus erkundete und bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik als Vermittler zwischen der älteren und der jungen Generation wirkte. Der Korrespondez ist zu entnehmen, dass Intersecazioni kurz davorstand, unter Krenek in Berlin zur Uraufführung zu gelangen. Doch konnte der Plan nicht umgesetzt werden, da es Cerha nicht möglich war, an den Proben teilzunehmen. Stattdessen schickte er Krenek die Partitur zu Espressioni fondamentali, das praktisch notiert und deshalb zu bewältigen war.

Ernst Krenek, Brief an Cerha, 28.8.1960,
AdZ, BRIEF004/81 ff.

Ernst Krenek, Brief an Cerha, 12.9.1960,
AdZ, BRIEF004/79 ff.

Interessant am Briefwechsel ist, dass beide Komponisten von Intersecazioni als „Violinkonzert“ sprechen. Von einem solchen Konzert kann aber nicht die Rede sein. Zwar verwendet Cerha die Geige tatsächlich solistisch – sie ist aber gleichrangig mit anderen Gruppierungen von Instrumenten:

Das Soloinstrument ist weder als Widerpart des Orchesters wie in alten und auch in manchen neuen Solokonzerten eingesetzt, noch – wie meist bei Ligeti – als eine, wenn auch etwas bedeutendere Stimme im Gesamtgewebe verwendet. Es hat die Funktion einer Orchestergruppe, die eben nur aus einem Instrument besteht.

Friedrich Cerha

Schriften – ein Netzwerk, Wien 2001, S. 225.

Die Entscheidung, das Orchester in Gruppen aufzuteilen, die miteinander kommunizieren, entspricht einem Trend zur immer stärkeren Miteinbeziehung des akustischen Raums, der sich Ende der 1950er Jahre abzeichnet. Beispiele solcher „Raummusiken“ finden sich etwa bei Karlheinz Stockhausen, Bernd Alois Zimmermann und auch beim „Futuristen“ Edgard Varèse. Auch Cerha ist die räumliche Wirkung wichtig, wenngleich er anmerkt, dass sie im Stück nicht „spektakulär, plakativ in Erscheinung tritt.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 225 Seine Klangfarben sind vielmehr nach Ähnlichkeiten geordnet: Eigene Gruppen bilden alle Streichinstrumente, die beiden Familien der Bläser, ein 10-fach besetztes Schlagzeugregister, eine Zupf- und Tastengruppe und vier menschliche Singstimmen (zwei Soprane, Alt und Tenor). Der Einsatz der Stimmen folgt einem Weg, den Cerha mit seinem Ensemblestück Relazioni fragili geebnet hat. Auch dort treten zwei Sängerinnen auf. Singen im ordinären Sinne ist aber weder dort noch hier ihre Aufgabe. Die Singstimmen benutzt Cerha stattdessen als menschliche Instrumente, ganz ähnlich wie Luigi Nono, mit dem Cerha 1959 bereits Kontakt hatte.

Cerha, Intersecazioni, Autograf, Titelblatt, AdZ, 00000054/3

Cerha, Intersecazioni, Autograf, Aufstellungsskizze, AdZ, 00000054/4

Innenansicht

Das Orchester als einen unterteilten Klangkörper zu betrachten, als ein System mit mehreren Untersystemen, entspricht einer Denkweise, zu der Cerha in der Entstehungszeit schrittweise fand. In zunehmendem Maße interessierte es ihn, wie musikalische Prozesse und Zustände aufeinander einwirken können, um zu immer neuen Gestaltungsformen zu finden. Der italienische Titel Intersecazioni spielt auf deren Konzeption an, wie Cerha erläutert:

Der Titel Intersecazioni bedeutet Unterbrechungen. Entwicklungen werden abgeschnitten, gestört, erdrückt, verdrängt, in andere Bahnen geleitet; der Begriff ist aber auch für Vorgänge im Mikrobereich gültig, wo solches Geschehen nicht im einzelnen registriert werden kann, aber verantwortlich ist für die interne Organisation.

Friedrich Cerha

Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 225

Das Vokabular, mit dem Cerha das musikalische Geschehen beschreibt, findet sich auch in anderen Werkkommentaren wieder. Zu den im gleichen Jahr entstandenen Fasce erläutert Cerha, er fasse das Werk als ein „System mit unterschiedlichen Elementen“ auf, „die einander beeinflussen, behindern, stören, ausschalten.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 227 In der Komposition Und du… (1963) beschreibt er „Klangprozesse, die sich entwickeln, beeinflussen, behindern, stören und deren Nebeneinander und Ineinander im Ganzen wirksam ist.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 230 Mit all diesen Charakterisierungen untrennbar zeigt Cerha seine Nähe zu Norbert Wieners Kybernetik, auf die er in Zusammenhang mit Fasce das erste Mal explizit verweist. Die Herangehensweise, Musik als untergliedertes System zu betrachten, führte Cerha laut eigenen Worten zu einem gänzlich neuen, Komplexität ermöglichenden „Reichtum an Mitteln und Inhalten“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 227. Trotz der von diesem Gedanken rührenden Verwandtschaft, unterscheiden sich die gewählten „Mittel und Inhalte“ im Detail. In Fasce betont Cerha die verbindenden Eigenschaften eines Systems – die Musik ist wie aus einem Guss zusammengeschmolzen und kennt so gut wie keine Bruchstellen. Völlig anders erweist sich das formale Konzept von Intersecazioni: Hier ist es „nicht das ‚fügende‘, sondern das ‚störende‘ Element, das Aufhaltende und Widersetzliche, das sich dem musikalischen Verlauf entgegenstellt“, aus welchem die Musik ihre Impulskraft bezieht – so beschreibt etwa der Theaterkritiker Karl Heinz Ruppel seine Eindrücke nach der Uraufführung in der „Süddeutschen Zeitung“.Karl Heinz Ruppel, „Führend im Grazer Musikprotokoll: Ligeti und Cerha“, in: Süddeutsche Zeitung vom 30.10.1973, AdZ, KRIT0018_1973-1974/34

„Ein Wunder mit dem Namen Graz“, Zusammenstellung von Rezensionen zu Intersecazioni, AdZ, KRIT0018/62

Cerhas musikalische Orientierung an Störprozessen verrät kybernetisches Denken. Der Kulturwissenschaftler Claus Pias hebt die Bedeutung des Störungskonzeptes für die in den 1950er Jahren noch junge Wissenschaft hervor:

Wenn von Störfällen die Rede ist, so wird es kaum zu umgehen sein, von Kybernetik zu sprechen. Schließlich ist die Störung in der Kybernetik eine entscheidende Größe, die deshalb sinnfälligerweise auch ‚Störgröße‘ heißt. Sie ist das Agens eines Regelungsgeschäfts, bei dem es – jenseits aller möglichen Implementierungsprobleme – auf einer abstrakten Ebene darum geht, Störgrößen und Regelgrößen in ein adäquates Verhältnis zu setzen.

Claus Pias

„Störung als Normalfall“, in: Störfälle. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2/2011, S. 27-44, hier S. 27

Die Beobachtung, dass sich in Cerhas Intersecazioni Klangprozesse regelmäßig, also mit Methode stören, macht die Störung als Konzept zum „Normalfall“ – als einen solchen fasst sie auch Pias in kybernetischen Modellen auf. Eine Konsequenz dieses Denkens ist, dass sich die Musik in zahlreichen, teils grundlegend anderen Gestalten zeigt. Mit Fug und Recht kann behauptet werden, dass kein zuvor entstandenes Werk aus der Hand Cerhas eine derartig multiperspektivische Bauweise verfolgt. Ein virtuelles Blättern durch die Partitur bringt diese Vielgestaltigkeit schnell zum Vorschein.

RSO Wien, Ltg. Frierich Cerha, Ernst Kovacic (Violine), Produktion ORF Edition Zeitton 2001

Vertieft man sich in Cerhas künstlerische Entwicklung, so reicht das Wort „Abenteuerlichkeit“ (eine Eigenschaft, die der Komponist dem Stück attestiert) fast nicht zur Beschreibung von Intersecazioni aus. Die Gegensätze sind riesig: Raues und Weiches, Spitzes und Geschmeidiges, Impulsives und Versunkenes, Statisches und Zitterndes – all dies findet unter einem Dach Platz. Abseits der musikalischen Charaktere entpuppt sich das Werk aber auch als ein Schmelztiegel von Cerhas musikalischen Erfindungen um 1960, der Zeit des „fieberhaften Entwerfens“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 225. Auffällig sind die verschiedenen Grade an Freiheit und Strenge, mit denen der Klang organisiert wird. Einerseits walten in Intersecazioni serielle Verfahren – sie schlagen immer dann durch, wenn Rhythmen akribisch gruppiert werden. Meist wählt Cerha hierzu einige rhythmische Zellen aus, die dann aneinandergereiht, vertauscht und variiert werden. Aus ihnen ergeben sich Gebilde, die mit besonderer Detailverliebtheit durchgearbeitet sind, innerlich hochdifferenziert strukturiert, äußerlich dicht überlagert, wie im folgenden Beispiel aus dem zweiten Satz:

Cerha, Intersecazioni, Autograf, Seite 42 (Ausschnitt), AdZ, 00000054/46

Stuttgarter Rundfunkorchester,  Ltg. Michael Gielen, Ernst Kovacic (Violine),  Uraufführung beim Musikprotokoll Graz am 16.10.1973

Völlig gegensätzlich zur Akribie derartiger Episoden gestaltet Cerha auch Passagen mit größerer Flexibilität. In diesen tauchen beispielsweise lose verteilte Tonpunkte auf, die in einer bestimmten Zeitspanne zu spielen sind. Zwar ist ungefähr festgelegt, in welcher Dichte sich diese Schwärme von Punkten entwickeln, doch das genaue Zusammentreffen der einzelnen Töne variiert von Aufführung zu Aufführung, es ist also aleatorisch. Exemplarische Stellen finden sich besonders im ersten Satz:

Cerha, Intersecazioni, Autograf, Seite 5 (Ausschnitt), AdZ, 00000054/9

Stuttgarter Rundfunkorchester,  Ltg. Michael Gielen, Ernst Kovacic (Violine),  Uraufführung beim Musikprotokoll Graz am 16.10.1973

Cerha, Intersecazioni, 2. Satz, Orchesterschläge, 00000056/52

Fast prophetisch muten auf einer völlig anderen musikalischen Gestaltungsebene Erscheinungsbilder an, die spätere Projekte Cerhas vorwegnehmen. Einige Male tauchen in beiden Sätzen der Intersecazioni jeweils anders geartete Formen von einzelnen, quasi in der Luft hängenden Orchesterschlägen auf. Entweder bestehen diese aus isolierten, einmaligen Klangkürzeln oder aus wuchernden, ausgefransten Konstrukten, die von einem gemeinsamen Startpunkt ausgehen und sich allmählich auflösen. Beide Formen, die gestochen scharfe und die verschwommen-undurchdringliche, charakterisieren maßgeblich den Beginn von Cerhas großem Orchesterzyklus Spiegel und tauchen abgewandelt auch in Netzwerk auf. In den zwei verwandten Stücken entwickelt sich das musikalische Geschehen vom ersten (dem kurzen) zum zweiten Typ (dem ausuferndem). Eine Vorstufe zu genau diesem Klangprozess findet sich im zweiten Satz von Intersecazioni. Hier schält sich eine Art „Mini-Spiegel“ heraus: Innerhalb von 22 Schlägen initiiert Cerha zunächst eine klangliche Aufschwemmung, um schließlich wieder zum Anfangspunkt zurückzukehren.

Stuttgarter Rundfunkorchester,  Ltg. Michael Gielen, Ernst Kovacic (Violine),  Uraufführung beim Musikprotokoll Graz am 16.10.1973

Das Ausdrucksarsenal der Komposition ist mit den bisher beleuchteten Mitteln nicht erschöpft. „Zum ersten Mal“ sei in Intersecazioni auch ein „bewusstes Denken in Klangflächen“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 224 charakteristisch, beschreibt Cerha. Tatsächlich tauchen die in typischer proportioneller Notation ausgedrückten Flächen in keinem vorher geschriebenen Stück Cerhas auf. Gleichwohl gewinnen sie im Entstehungsjahr deutlich an Autonomie: In den Jahren nach Intersecazioni wird die Klangflächenkomposition zum alleinigen Erkundungsgebiet, das erst mit Exercises wieder schrittweise verlassen wird.

Mit den aufgeführten Gestaltungstypen, zu denen sich auch noch Mischformen gesellen, steht Cerha für Intersecazioni eine bunte Palette an Möglichkeiten zu Verfügung, mit musikalisch reizvollen Mitteln eine kybernetische Störungsästhetik zu konstruieren. Auf der einen Seite ist es möglich, Klangzustände äußerst differenziert zu designen, mit ihnen eine jeweils individuelle Aura aufzubauen. Auf der anderen Seite konstituieren scharfe Wechsel dieser Musikzonen eine Form, in der statische Momente des Gleichgewichts einer ständigen Durchbrechung gegenüberstehen. Zutreffend spricht die Musikwissenschaftlerin Monika Lichtenfeld von der „quasi opernhaften Anlage“Alfred Holzinger, „‚Musikprotokoll 1973 ‚ im Spiegel der Kritiker“, Typoskript, AdZ, KRIT0018/56 des Stücks: „die Mischung von dramatischen Blöcken und von Hohlräumen der Entspannung, von solistischen Ariosi und rezitatorischen Intermezzi“ bringe „sozusagen eine ganze Bühnendramaturgie“ hervor.
Wie dramatisch die Grundidee des Stücks – die implantierten Störungen von Zuständen durch neue Zustände – im Einzelnen ausfallen kann, ließe sich an vielen Stellen zeigen. Besonders eine Episode sticht aber ins Auge: Sie findet sich gegen Ende des ersten Satzes, nachdem die Musik bereits mannigfaltige Konflikte bewältigt hat. In gewisser Weise gipfelt hier das Klanggeschehen in einem besonders heftigen Störungsmoment, welcher noch radikalere Fortsetzungen dieser Art schier undenkbar werden lässt. Der Ausgangspunkt dieser Episode liegt in einem musikalischen Prozess, der sich zuvor über einen langen Zeitraum gemächlich und mit großer Kontinuität entwickelt. In diesem Prozess stehen sich bereits zwei Ausdruckstypen entgegen: ein lyrisches Geflecht, bestehend aus Flöten, zwei Sängerinnen und der Solovioline und ein perkussives Geflecht, bestehend aus verschiedenen Schlaginstrumenten. Zum Konkurrieren beider Geflechte kommt es aber erst allmählich. Einer Keimzelle gleich nähern sich zunächst die Solovioline und eine Gitarre einander an, dann erst kommen weitere Instrumente hinzu. Es bildet sich aus diesen Konstituenten zunächst ein zartes Melodiedickicht, eine geraume Zeit besteht dieses ausschließlich für sich. Erst danach drängt sich langsam das perkussive Klangfeld in den Vordergrund: Ein Ringen um die Vorherrschaft beginnt, bei dem sich Flächigkeit und Zerklüftung gegenüberstehen.

RSO Wien, Ltg. Friedrich Cerha, Ernst Kovacic (Violine), Produktion ORF Edition Zeitton 2001

Während das Schlagzeugregister an immer mehr Dominanz gewinnt, verstärken sich auch die Flächengewebe merkbar. Zu den lyrischen Instrumenten treten weitere Blas- später auch Streichinstrumente hinzu, die eine mächtige, überwölbende Klangfläche anwachsen lassen. Dieser dialektische Prozess könnte sich prinzipiell unerbittlich in einen exzessiven Klangtaumel steigern lassen – am weiteren Aufbau hindert Cerha die Musik jedoch. Messerscharf wird die Klangfläche an einem bestimmten Punkt abgeschnitten und von einem neuen Idiom unterbrochen. In Teilen trägt dieses den perkussiven Charakter des Schlagzeugfeldes weiter, verändert es jedoch auch entscheidend. Vordringlich gedämpfte, hölzerne Klangfarben (z.B. Tempelblöcke, Castagnetten, Bongos oder Tomtoms) werden durch hohe und metallische ersetzt (Schellen, Metallfolie, Glocken und Crotales). Zu ihnen treten mit Mandoline, Cembalo und Harfe drei Zupfinstrumente sowie alle vier Sänger:innen. Sie zusammen bilden ein außergewöhnlich dichtes Gewebe aus kurzen, knacksenden Klängen. So plötzlich wie sich dieses Gewebe allerdings aufbaut, so kurzlebig und instabil ist auch sein Dasein. Eine von Cerha eingezeichnete Zeitleiste von 3,5 Sekunden bestimmt die kurze Dauer, während danach ebenso schnittartig eine Schichtung aus flinken Figurationen ganz anderer Instrumente (vor allem Bläsern) ins Geschehen einbricht und nunmehr eine unbelebte, extrem im Hintergrund gehaltene Streicherklangfläche vom Tumult übriglässt.

Cerha, Intersecazioni, Autograf, Seite 22, AdZ, 00000054/26

RSO Wien, Ltg. Friedrich Cerha, Ernst Kovacic (Violine), Produktion ORF Edition Zeitton 2001

An der raschen Abfolge dieser gegenteiligen Strukturtypen ist ablesbar, wie charakteristisch die Störmomente für die Intersecazioni sind. Bei genauerem Hinsehen (bzw. -hören) wird deutlich, dass die Klangunterbrechungen nicht nur an der Oberfläche sinnlicher Reize bestehen, sondern auch tief in die Strukturierung der Musik eingreifen. An einem Evolutionspunkt zeitgenössischer Kunstmusik opponieren aus musikgeschichtlicher Sicht Organisationsphänomene der 1950er Jahre mit solchen aus den 1960er Jahren: Punkte stehen gegen Flächen. Die im Zentrum stehende Störungstextur weist in ihrer Konstitution einige Gestaltungsmerkmale auf, die sich auf die ‚Epoche der Punkte‘, die Phase der seriellen Musik beziehen lassen. Verfolgt man Cerhas Werk um wenige Jahre zurück, so landet man mit Relazioni fragili beim ersten in größerer Besetzung geschriebenen seriellen Stück aus der Feder des Komponisten. Hier gibt es bereits Klangstrukturen, die denen in Intersecazioni sehr nahestehen – so auch punktuelle Felder aus Schlaginstrumenten und Vokalstimmen, wie im zweiten Satz:

Cerha, Relazioni fragili, Autograf (Ausschnitt), AdZ, 00000049/29

Ein Blick in die Partitur der Relazioni fragili verdeutlicht den seriellen Gestus bilderbuchartig: Es überlagern sich Tonpunkte, die sogar jeweils eigene Lautstärkestufen verzeichnen, sich also mit Serien aus dem dynamischen Bereich kreuzen. Wie ein (im Detail freieres) Relikt aus diesem punktuellen Stil mutet die besprochene Störungstextur in Intersecazioni an:

Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha, Gertraud Cerha (Cembalo), 1981

RSO Wien, Ltg. Friedrich Cerha, Ernst Kovacic (Violine), Produktion ORF Edition Zeitton 2001

Eine weitere Gemeinsamkeit: Die experimentelle Verwendung der Singstimmen, die in den beiden Vergleichspassagen vorwiegend perkussiv sprechen. In Relazioni fragili bezieht Cerha die dafür erfundenen Laute noch aus einem Silbenquadrat, das er für das Stück konstruierte und dann in Serien verarbeitete. Die gleichen Silben finden u.a. in Intersecazioni Verwendung.

Cerha, Relazioni fragili, Autograf, Silbenquadrat, AdZ, 00000049/92

Letztendlich verdeutlicht die starke Verwandtschaft zum seriellen Stil, wie in Intersecazioni eine Kompositionstechnik am Puls der damaligen Zeit ihres Herrschaftsanspruchs auf künstlerische Weise beraubt wird. Sie wird, statt an der Wahrung einheitlicher Konstruktion festzuhalten, in ein komplexes, der kybernetischen Mentalität verpflichtetes System integriert. Dort rivalisiert sie mit anderen Techniken und Gestaltungsoptionen. Was Cerha mit Intersecazioni gestaltet, ist ein Kaleidoskop an Wechselwirkungen, Möglichkeiten und Konfliktpotenzialen seiner Zeit – ein ganz und gar „abenteuerliches“ Unterfangen.

Schatztruhe