Phantasiestück in C.’s Manier

Schmelztiegel

Zehn Rubaijat des Omar Chajjam

Zweites Streichquartett

Jacques Callot, Siège de la citadelle de St. Martin dans l'Île de Ré (Ausschnitt)

Radierung auf sechs Platten, 1629

Für den französischen Künstler Jacques Callot sind Schlachtenbilder ein Mittel, um seine winzigen und motivisch dichten Belebungen des Bildraums umzusetzen. Schauplatz ist in diesem Fall eine Festungsanlage auf Île de Ré an der französischen Westküste, von der aus Sträflinge bis nach Französisch-Guyana und Neukaledonien verschifft wurden. Auf mehreren Ebenen spinnt die Radierung auch Beziehungen zu Cerhas Phantasiestück in C.‘s Manier, sei es durch die Detailmotive, die Schiffsthematik, die weltumspannende Geschichte der Festung oder Callot selbst…

Bildquelle: Paris Musées Collections

Auf allen Teilen der Erde gehören Trommeln zu den ältesten Musikinstrumenten.
Faszinierend als Objekte auf der einen Seite, sind sie auch Träger uralter Traditionen auf der anderen…

Sammlung Ulli Siebenborn – drummuseum.com

Stellvertretend stehen Trommeln für die Überlieferung von Musik durch die Zeiten – und zwar in anderer Weise, als dies in Europa seit dem Mittelalter durch schriftliche Fixierungen geschehen ist. Innerhalb von Zeremonien, Riten oder ähnlichen Gebräuchen wurde Musik buchstäblich von Hand zu Hand weitergegeben. Ihrer hohen symbolischen Bedeutung gleichkommend, verweisen die obigen Trommeln auf Kulturkreise im Gesichtsfeld Cerhas. Drei von ihnen ist eine besondere Bedeutung zuzumessen: dem arabischen, dem zentralafrikanischen und dem pazifischen Raum. Ende der 1980er Jahre führte Cerha für ihn aufschlussreiche musikalische Aspekte aus diesen Kulturen in seinen eigenen Werken zusammen. Das Phantasiestück in C.‘s Manier ist ein Bote aus dieser Zeit.

Außenansicht

Jacques Callot, „Der maskierte Komiker spielt Gitarre“ (aus: Varie Figure Gobbi, 1622)

Die wenigsten von Cerhas Werknamen lassen keinen Zweifel offen. Angeführt sei der Zyklus Spiegel: Ob ein Spiegel des Weltgeschehens, autobiografischer Kriegserlebnisse oder Spiegelungsvorgänge in der Musik selbst gemeint ist, lässt sich nicht beantworten. Die Bedeutung des Titels projiziert sich je nach Standpunkt in verschiedenste Richtungen. Vielleicht am weitesten getrieben ist das Spiel mit der Uneindeutigkeit im Phantasiestück in C.‘s Manier. Hier lassen sich mehrere, teils miteinander verbundene Verweisschichten aufspüren. Am deutlichsten ist der Bezug zu dem Literaten und Musiker E.T.A. Hoffmann. Seine Erzählungen Phantasiestücke in Callots Manier erschienen 1814/15 in mehreren Bänden als sein literarischer Erstling. In einer Vorrede entfaltet Hoffmann Ideen zu einer vom synästhetischen Empfinden genährten Ästhetik mit dem erklärten Ziel, die Unterschiede zwischen den Kunstsparten zu überwinden. Seine Ergründung der Gemeinsamkeiten zwischen Dichtung, Musik oder Malerei führt ihn zum lothringischen Kupferstecher Jacques Callot. Dessen Werke aus dem 17. Jahrhundert seien eigentlich „überreiche, aus den heterogensten Elementen geschaffene Kompositionen“. E.T.A. Hoffmann, Sämtliche Werke, hgg. v. Wulf Segebrecht, 2.1 „Fantasiestücke in Callot’s Manier“, Frankfurt a.M. 1993, S. 17
Als Hommage an Callot, so gesehen Personifikation der Wahrnehmungsverschmelzung, verstehen sich schließlich auch die Phantasiestücke. Indem Cerha Hoffmanns Titel als Schablone für seinen eigenen wählt, räumt er dem romantischen Gedanken einer entgrenzten ästhetischen Erfahrung einen Platz ein.
„Zugleich steh[e] aber der Buchstabe C natürlich auch für [s]ein eigenes musikalisches Denken“.Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 262Schlägt man den Bogen zum ersten Wort „Phantasiestück“ zurück, so eröffnet sich noch ein weiterer Bedeutungsraum: Inspiriert von Hoffmanns Erzählband schrieb schon Robert Schumann Musikstücke mit gleichem Titel, darunter ein Klavierzyklus und die prominenten Fantasiestücke op. 73: Ursprünglich für Klarinette und Klavier komponiert, werden diese heutzutage fast ausschließlich am Cello interpretiert – dem Schlüsselinstrument für Cerhas Phantasiestück

Brücke

Phantasiestück in C.’s Manier, Titelseite, 1989

Phantasiestück in C.’s Manier, Besetzungsliste, 1989

Ein forschender Blick über die ersten Seiten von Cerhas Autograf lässt neben dem doppelbödigen Titel noch eine weitere Besonderheit entdecken. Verklammert gibt ein Untertitel die Spielanweisung vor, „auf dem Schiff zu singen“ – handelt es sich hier um den Hinweis auf ein verkapptes Matrosenlied? Oder auf die Programmatik einer ‚Meeresmusik‘? Mitnichten. Der kleine Vermerk entpuppt sich als augenzwinkernde Anspielung auf den Widmungsträger, den österreichischen Cellisten Heinrich Schiff. Neben dem Bassbariton Theo Adam oder dem Geiger Ernst Kovacic gehörte der in Gmunden geborene Musiker zu Cerhas wichtigsten Interpretenfreunden. Schiff wurde auf den Konzertbühnen der Welt stets von zwei alten italienischen ‚Damen‘ begleitet, den historischen Celli „Mara“ aus der Werkstatt Antonio Stradivaris (1711) und „The Sleeping Beauty“, angefertigt von Domenico Montagnana (1739). Als Interpret widmete er sich nicht bloß dem geläufigen Repertoire – von den Solosuiten Bachs bis zu den Konzerten Haydns, Dvořáks oder Schostakowitschs –, er gab sich auch der zeitgenössischen Musik mit besonderer Leidenschaft hin. Das Phantasiestück ist schließlich eines der Zeugnisse für den Interpreten als Initiator: In einem Brief an Cerha erinnert Schiff seinen Adressaten an das früher geäußerte Vorhaben, ein Cellostück für ihn zu schreiben. „Des Lebens donnernder Hammerschlag in Form von Opern“ hätte diesen Plan jedoch versickern lassen (Schiff meint hier Cerhas Projekte Baal und Der Rattenfänger). Erst nun, damals im Dezember 1987, wage er die Erinnerung zu wecken:

Heinrich Schiffs Unterschrift auf einem Brief an Cerha

In der ganz großen Hoffnung, dass du nun nicht an einer Trilogie über die Habsburger arbeitest, auch ein ein-wöchiges Opernprojekt unter dem Titel: Das alte Testament, erst in Deiner Pensionierung stattfinden wird – und nachdem mir sonst nichts noch Blöderes einfällt, ich damit ganz einfach sagen will, dass ich hoffe, dass Du zumindest so viel Luft hast, über diese meine Frage und bitte nachdenken zu können, stelle ich sie also nun wieder: ob Du mir die immense Freude, und uns Cellisten die entsprechende Bereicherung machen könntest, wieder an eine Cellokomposition zu denken.

Heinrich Schiff

Brief an Friedrich und Gertraud Cerha, 12.12.1987, AdZ, BRIEF001/77

Im Laufe des Briefwechsels der beiden Musiker zeichnete sich bald eine konkrete Möglichkeit zur Uraufführung ab: Das Festival „Wien modern“. „In kurzer Zeit“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 276 entstand als Reaktion auf Schiffs Wunsch das Phantasiestück in C.‘s Manier. Cerha bezeichnet es als Werk „für Violoncello und Orchester“ – so weit nichts Ungewöhnliches. Dennoch spiegelt die Komposition auch hier eine Janusköpfigkeit: Die Gattung des Instrumentalkonzerts nimmt in Cerhas Œuvre eine Sonderstellung ein. Bis auf das frühe, jedoch ebenfalls ambivalente Konzert für Klavier und Orchester (1951-54)Vgl. zum Klavierkonzert: Anne Fritzen, „Konzertante Sinfonie oder Solokonzert? Das ‘avantgardistisch scheinende […]‘ Klavierkonzert Friedrich Cerhas“, in: Matthias Henke (Hg.): Nach(t)musiken. Anmerkungen zur Instrumentalmusik Friedrich Cerhas, Siegen 2021, S. 37-66
entstand bis in die 1990er Jahre hinein kein einziges Konzert. Persönliche Schwierigkeiten „mit einem konzertanten Stil“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 276 waren die Gründe dafür. Das Phantasiestück erweist sich als ein Kompromiss: Zwar steht das Cello weitaus klarer im Vordergrund als etwa in György Ligetis ‚Anti‘-Konzert für Cello und Orchester (1966), „dem ‚Konzertieren‘ im engeren Sinn“ geht es aber „aus dem Weg“. Eine eigenständige, auf Mischeffekte abzielende Vermittlung zwischen dem Soloinstrument und dem ihm gegenüberstehenden, kleinen Orchester ebnet einen alternativen Pfad.
Zur Geschichte des Stücks gehört jedoch auch eine Wende. Wenige Jahre nach Vollendung des Phantasiestücks schlug sich Cerha nach langem Hadern doch komponierend zur Konzertform durch. Das Konzert für Bratsche und Orchester entstand 1993 als Auftakt zu einer ganzen Serie von Instrumentalkonzerten, die bis 2008 aus dem Boden sprießten. Unter ihnen findet sich auch ein ‚echtes‘ Cellokonzert: zwei Sätze wurden Mitte der 1990er Jahre komponiert, das Phantasiestück hingegen fand als mittlerer Satz einen Platz in neuem Zusammenhang. Gleichsam wirkte es auf die anderen Sätze wie eine Keimzelle: Beide verarbeiten – entweder als Antizipation oder als Erinnerung – musikalische Momente der Fantasiemusik. Sie sind mit ihr außerdem auf eine originelle Weise verbunden, so endet der erste Satz wie der Anfang des Phantasiestücks, der dritte wiederum fängt an, wie dieses endet. Schließlich sprangen splitterartig auch die prägenden Erfahrungen mit außereuropäischer Musik über: Sie sind in einigen Passagen der Rahmensätze spürbar, durchfurchen aber den Mittelsatz mit besonderer Tiefe. Heinrich Schiff brachte das gesamte Konzert knapp eine Dekade nach der Uraufführung des Phantasiestücks auf die Bühne – und mit ihm die Früchte einer ambivalenten Geschichte.

Heinrich Schiff und Friedrich Cerha, Musica Viva München, April 1995

Innenansicht

Helsinki Philharmonic Orchestra, Ltg. Susanna Mälkki, Bruno Weinmeister (Cello)

Produktion des Helsinki Philharmonic Orchestra
Filmregie: Roope Koistinen
Sounddesign: 
Enno Mäemets

Spannungsfelder, Widersprüche und Abzweigungen sind aus der geistigen Sphäre des Phantasiestück in C.‘s Manier nicht wegzudenken. So wie der Titel bewusste Mehrdeutigkeit nicht nur zulässt, sondern gar anstrebt, ist auch die Musik mit einem Sinn für das Vermischen, das Überlagern und Durchkreuzen angelegt. Im Zwielicht derartiger, nur schemenhaft zu erlebenden Phänomenen löst das Werk seinen Verweis auf E.T.A. Hoffmann ein. Doppeldeutiges und Schattenhaftes ist seinen oft der „Schwarzen Romantik“ zugerechneten Erzählungen zu eigen. Damit lag Hoffmann auf der Höhe seiner Zeit: Schon in Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie (1800) ist das Bestreben, sich „in die schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen“Friedrich Schlegel, Ästhetische und politische Schriften, „Gespräch über die Poesie“, Berlin 2014, S. 152-196, hier S. 318eine zentrale Forderung. Das Fantastische wird auch bei Cerha zu einem ästhetischen Axiom. Ein kurzer Text zu den vielfältigen Einflüssen des Phantasiestücks bringt am Ende zur Sprache, wie sehr der Komponist beabsichtigt, die Fantasie der Zuhörenden zu fordern, statt seine eigenen Beweggründe zu deutlich herauszustellen.

Cerha, Text zum Phantasiestück in C.’s Manier, Manuskript, undatiert

Die untergründige Hoffmann’sche Fährte des Phantasiestücks führt (vielleicht unbeabsichtigt) auf seine Anlage als ‚Weltmusik‘: „Blätter aus dem Tagebuch eines reisenden Enthusiasten“ ist der Untertitel zu den Stücken „in Callots Manier“ – ein Motto, das auf Cerhas Komposition ebenso zu passen scheint. Das Phantasiestück entstammt einer Phase des Œuvres, die von interkulturellen Interessen umrankt ist wie keine andere. Die ersten beiden Streichquartette werfen dabei jeweils konzentrierte Blicke auf einen spezifischen Kulturraum: Das erste ergründet Techniken aus dem arabischen Raum, das zweite widmet sich der Stammesmusik von Völkern in Papua-Neuguinea. Auch auf weitere Stücke desselben Zeitraums strahlt Cerhas Faszination für außereuropäische Musik ab. In diesen schweift der Blick aber über die Weltkarte, unterschiedliche Impulse werden miteinander verschmolzen. Das Phantasiestück ist chronologisch das erste Ergebnis dieser Idee einer kulturellen Synthese und löst sie par excellence ein: Gleich Hoffmanns Beschreibung der Callot’schen Kupferstiche ist sie eine „aus den heterogensten Elementen geschaffene Komposition.“ Eine besondere Verwandtschaft besteht zur dritten Langegger Nachtmusik für großes Orchester.
„Ich wollte ein reiches Stück schreiben, reich im Sinn von Vielfalt und Mehrgesichtigkeit“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 263, notiert Cerha zu diesem Werk und enttarnt auf diese Weise eine ähnliche hinter der Musik stehende Mentalität wie sie auch das Phantasiestück prägt. „Das Erlebnis zentralafrikanischer Musik und vor allem auch der papuanischen Völker am Sepik“ durchdringt auch die Nachtmusik und führt sie zu neuartigen Gestalten – es ging Cerha jedoch „nicht um exotischen Klangreiz, sondern um organische strukturelle Einbindung von Erfahrungen“, wie er nachdrücklich betont. Die Einschleusung des Fremden in eine vertraute Welt bewirkt auch im Phantasiestück ein Spiel mit Nähe und Ferne. Das Werk mache, so Cerha, im Vergleich zum zweiten Streichquartett „stärker einen rein ‚europäischen‘ Eindruck“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 262 – vor allem deshalb, weil es auf mikrotonale Episoden gänzlich verzichte. Ein solcher Ausgangspunkt macht die Suche nach außereuropäischen Einflüssen gleichsam schwieriger, sie bedarf der Navigation. Eine Route sei im Folgenden durch die drei von Cerha georteten Kulturkreise geführt.

Netherlands Radio Chamber Orchestra, Ltg. Peter Eötvös, Heinrich Schiff (Cello),
Produktion ECM 2007

Dem Charakter des Lyrischen entsprechend, beginnt das Phantasiestück mit sanften, nahezu verhaltenen Klanggesten. Eine enge Tonreibung zwischen Orgel und hohen Streichern steht am Anfang. Fern und unwirklich ist der sich mitteilende Eindruck; Ein erfahrener Hörer könnte an György Ligetis Orchesterstück Lontano (= „Entfernt“) denken, entwickelt sich dieses doch aus einer ganz ähnlichen Keimzelle. Die Flöte mischt sich in den Hintergrundklang als erstes konturschaffendes Instrument hinein und nimmt die beiden Anfangstöne d und e auf. Der bewegte Puls, den sie erzeugt, wird angereichert durch hinzutretende Pulsierungen. Mit jeweils eigenen rhythmischen Tonwiederholungen oder -pendeln beteiligen sich etwa die Klarinette, das Horn, die Trompete oder das Vibrafon am Aufbau eines Klangnetzes, das zwar aus lauter Pulsen gewebt ist, doch einen einzigen, dominanten Puls nicht erkennen lässt.

Für sich genommen kann die Einleitung als ein sinnliches Spiel vor allem mit der Vielschichtigkeit rhythmischer Minimalbewegung verstanden werden. Hier verorten sich auch die außereuropäischen Wurzeln, genauer gesagt in Zentralafrika. Cerhas Beschäftigung mit dieser Musikkultur wurde vom österreichischen Musikethnologen Gerhard Kubik in den 1980er Jahren angeregt,Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 38 einem Spezialisten für die gesamte Musikkultur Afrikas. Kubik übte gemeinsam mit dem französisch-israelischen Musikethnologen Simha Arom auch einen großen Einfluss auf das musikalische Denken Ligetis aus, eine weitere Schnittstelle zu Cerha. Doch nicht nur Ligeti und Cerha beschäftigten sich mit der afrikanischen Musikkultur. Auch in der amerikanischen „Minimal Music“ spielt die Eingliederung afrikanischer Elemente im selben Zeitraum eine bedeutende Rolle.
Cerhas Interesse an den Musikkulturen südlich der Sahara galt im Kern der Polyrhythmik. Die Schichtung mehrerer „patterns“ zu einem rhythmischen Gesamtkomplex spielt schon in der Oper Der Rattenfänger eine leitmotivische Rolle, wird aber in den Werken ab 1989 noch forciert. Typisch ist ein besonderes Ineinandergreifen mehrerer selbstständiger Pulsationen, die sich miteinander verzahnen. Afrikanische Musik ist dabei meist orientiert an einem wiederkehrenden Grundschlag, dem Beat. In Cerhas Musik entsteht Polyrhythmik oft jedoch ohne diesen Grundschlag, so auch im Phantasiestück. Die Rhythmen hängen gewissermaßen ‚in der Luft‘, verbinden sich zu einer eher flirrenden, räumlichen Wirkung ohne Schwerpunkte. Da viele Pulsationen in Cerhas Gewebe oft leicht versetzt sind, entsprechen sie den afrikanischen Kreuzrhythmen: Die Schläge liegen dicht nebeneinander und ergeben verschachtelte Bewegungsprofile.
Insgesamt mag der Bezug zu Afrika zunächst überraschen, haben die durchweg milden, lichten Klangfarben doch wenig mit der Perkussionskraft vieler afrikanischer Musik gemein, mehr noch: Bis auf das Vibrafon als für Afrika untypisches Stabspiel – Xylofone oder Marimbas wären eher zu erwarten – treten überhaupt keine Schlaginstrumente auf. Die von Cerha gespannte Verbindungslinie deutet jedoch auf den eigentlichen Wert seiner kompositorischen Transkulturation hin. Dieser liegt weniger in der äußeren Übernahme allzu deutlicher ethnischer Musikmerkmale, wie etwa typischen Klangfarben, sondern in der integrativen Auseinandersetzung mit andersartigem musikalischem Denken. Deutlich wird dies auch an der kontextualen Einbindung der Polyrhythmen. Das für die afrikanische Musik typische zyklische Wesen (bedingt durch die ständige Wiederholung von rhythmischen Einheiten) wird in der Einleitung des Phantasiestück nicht angestrebt. Eine organische, fluktuierende Variation immer neuer Muster verpflichtet sich stattdessen einem eher westlichen Entwicklungsdenken. Sehr prozesshaft erweitert sich auch mit großer Konsequenz ein harmonischer Raum vom ersten Ton an.Zur Entwicklung der harmonischen Räume vgl. Lukas Haselböck, „Zum Erleben von Prozessen: Cerhas 2. Streichquartett und Phantasiestück in C.‘s Manier“, in: Ders. (Hg.): Friedrich Cerha. Analysen, Essays, Reflexionen, Freiburg u.a 2006, S. 95-120, bes. S. 110 ff. Der „europäische Eindruck“ Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 262 des Stücks löst sich also vor allem mit Blick auf die Formentfaltung ein. Entsprechend dem linearen Entwicklungsdenken der Musik hüllen „differenzierte polyrhythmische Bildungen“ auch die „breite Cantilene“ des Solocellos zunächst ein, verflüchtigen sich dann aber nach und nach. Auch an späteren Stellen des Werks entstehen und verschwinden immer wieder Anklänge an den afrikanischen Gestus. Nie tauchen sie jedoch als fremde Elemente auf, flicht Cerha sie wie selbstverständlich ein.

Netherlands Radio Chamber Orchestra, Ltg. Peter Eötvös, Heinrich Schiff (Cello),
Produktion ECM 2007

Klassischerweise teilt sich das Phantasiestück in drei Abschnitte auf: Zwei ruhige Teile rahmen einen vielfältig bewegten Mittelteil. In diesem laufen die musikalischen Geschehnisse auf einen Höhepunkt hinaus. Im Solocello spinnt sich eine rasante melodische Linie in schwindelerregendem Tempo fort, eingewoben ist sie in antreibende Rhythmen der umliegenden Stimmen. Am Höhepunkt der angeheizten Energie bricht der Vorgang ab und geht über in ein „Gewirr von Bewegungen“.Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 262 Gemäß der Philosophie des ganzen Werks eröffnet dieses „Gewirr“ vielfältige Assoziationsräume. Es erinnert etwa an frühere Arbeiten Cerhas, an die detaillierte Ausarbeitung von innerlich belebten Klangräumen, in denen einzelne Stimmen kaum mehr herauszuhören sind. Ebenso öffnet sich unterschwellig ein Raum zur arabischen Musik, mit der sich Cerha während der Entstehung des Phantasiestücks auseinandersetzte. Das erste, gleichfalls 1989 entstandene Streichquartett mit dem Untertitel „Maqam“ erkundet Musikformen aus dem nordafrikanischen Raum dabei mit besonderer Konzentration: Eine Reise Cerhas nach Marokko zündete sein Interesse. Im Zentrum steht dabei die Beschäftigung mit der Heterophonie, einer meist improvisierten Form des Musizierens zwischen Ein- und Mehrstimmigkeit. In heterophoner Musik orientieren sich mehrere Stimmen an einer gemeinsamen Melodie, umspielen sie aber in verschiedenen Varianten, sodass sich unabhängige Tonverläufe ornamental ineinanderweben. Das gleiche Prinzip prägt in einigen Passagen auch das „Maqam“-Quartett: Skizzenseiten zum zentralen fünften Satz enthüllen etwa die verborgene Melodiefolge, welche die zwei Geigen und das Cello virtuos umspielen. 

Cerha, Erstes Streichquartett „Maqam“, Skizzenseite mit arabischem Melodiemodell im oberen System, 1989

Das Stimmengewirr im Phantasiestück ist nicht in gleicher Weise heterophon durchgearbeitet, wie es im „Maqam“-Quartett der Fall ist. Auch fehlt es am für die arabische Musik typischen Wechsel von „gehaltenen“ und „gerafften Tondauern“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 260. Dennoch teilt sich eine Gestik des Ornamentalen auch hier mit: Keine Stimme gleicht der anderen, jede findet zu individuellen Tonverläufen, das musikalische Bild ist belebt und neigt zum Undurchdringbaren. Anders als im Quartett legt Cerha im Phantasiestück jedoch keine melodische Tonabfolge zu Grunde. Die Skizzen zeigen stattdessen dichte, meist siebenstimmige Akkorde, die über die einzelnen Takte gespannt werden. Aus ihnen gewinnt sich das Material der einzelnen Klangbänder. Statt von Ton zu Ton zu schreiten und dazwischen individuelle Freiheit walten zu lassen, wie in der arabischen Technik, schreitet die verworrene Episode des Phantasiestücks von Akkord zu Akkord und gestaltet freie Bewegung innerhalb von deren Harmonieräumen.

Cerha, Phantasiestück in C.’s Manier, Skizzenseite mit Akkordgeflecht, 1989

Ähnlich wie in der Introduktion prägt ein ausgeprägtes Entwicklungsdenken auch diese Passage in besonderem Maße. Cerha gestaltet im Wesentlichen einen nachverfolgbaren Prozess der Entzerrung: In verschiedenen Dimensionen nimmt die Intensität des Stimmengeflechts ab und führt zu so über mehrere Stufen hinweg zu seiner Auflösung. Dieser Prozess, in einem großen Bogen verwirklicht, steht im Spannungsverhältnis zum „in sich kreisenden“S. Lukas Haselböck, „Prozess- und Kontrastdenken in Cerhas Streichquartetten“, in: Gundula Wilscher (Hg.): Vernetztes Werk(en). Facetten des künstlerischen Schaffens von Friedrich Cerha, Innsbruck u.a. 2018, S. 75-85, S. 81 , mit arabischer Musik verwandten Denken: Wiederum trifft die europäische Mentalität hier auf eine ihr ferne. 

Netherlands Radio Chamber Orchestra, Ltg. Peter Eötvös, Heinrich Schiff (Cello),
Produktion ECM 2007

Die meisten Episoden des Phantasiestücks gehen beinahe naturhaft auseinander hervor. Ein schönes Beispiel für dieses Denken in Prozessen ist die Übergangspassage vom wilden Mittel- zum traumversunkenen Schlussteil: Aus dem bereits besprochenen, verknoteten Stimmgeflecht entwickelt sich zunächst unterschwellig ein deutlich wahrnehmbarer Puls heraus. Er bildet die Grundlage für eine weitere, von außereuropäischer Musikkultur geprägte Sequenz. Trotz zahlreicher Vorgänge im Einzelnen, halten nur wenige Elemente ihr Gefüge zusammen. Gleichmäßig pulsierende Rhythmen auf ebenso gleichbleibender Tonhöhe durchziehen die meisten Stimmen. Geschichtet ergeben sich hier wiederum polyrhythmische Verzahnungen, im Unterschied zum Werkbeginn aber bleibt ein durchgängiger Puls bestehen. Neben diesen Pulsationen prägen einige aus dem Rahmen fallende gestalterische Kräfte das musikalische Bild. Besonders wichtig sind Flöte und Trompete. Beiden ist eine auffällige Figur zugewiesen, die den Zentralton a‘ umspielt. Kurze Akzentnoten auf dem tieferen d‘ und dem höheren c‘‘ markieren die stete, ritualartige Umkreisung des Mitteltons, wobei der höchste Ton dynamisch hervorzuheben ist, wie Cerha in der Partitur vermerkt.Vgl. Phantasiestück in C.‘s Manier, Autograf, AdZ, 00000103/32 In der Bratsche fällt eine ebenso individuelle Figur auf. Sie besteht aus einer raschen melodischen Floskel, die in leichter Variation mit kurzen Unterbrechungen mehrmals wiederholt wird.

 

Cerha, Phantasiestück in C.’s Manier, Flötenstimme, T. 100 ff.

Cerha, Phantasiestück in C.’s Manier, Bratschenstimme, T. 99 ff.

Ihre interkulturelle Inspiration bezieht die charakteristische Episode vornehmlich aus der indogenen Musik des Iatmul-Stammens in Papua-Neuguinea, einer ethnischen Gruppe, deren Einflüsse auch in anderen Werken Cerhas, besonders dem zweiten Streichquartett, durchscheinen. Allein die besondere Herausstellung der Flöte und Trompete ist dafür ein Indiz: Traditionell musiziert der Stamm am mittleren Sepik auf Gefäßflöten, Längs- oder Querflöten sowie Rohren aus Bambus. Auch Panflöten oder Holztrompeten gehören zum melodiefähigen, papuanischen Instrumentenarsenal dazu. Die übrigen Instrumente sind perkussiver Natur – sie gleichen in Cerhas Episode den umliegenden, pulserzeugenden Stimmen und werden durch subtil eingesetzte Klanghölzer bereichert. Die sich so einstellende Entgegengesetztheit von Rhythmus und Melodie ist typisch für das dualistische Weltverständnis der Iatmul und auch im Phantasiestück erlebbar. Ergänzt werden die wiederholend verarbeiteten Melodiefloskeln dabei durch die unabhängige Cellostimme, die sich durch das dichte Geflecht wahrlich schlängelt, dabei aber auch die Vielschichtigkeit der musikalischen Anlage vor Augen führt.
Die Einflüsse der Musik der Iatmul strahlen im Komplex des späteren Cellokonzertes vom Phantasiestück auch auf die übrigen Sätze aus. Einen direkten Verweis liefert Cerha selbst. Im ersten Satz des Konzerts würden Streicherbewegungen „vor dem Hintergrund zweier papuanischer Rhythmen der Bongos und Congas“
Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 277
 ablaufen. Wichtig ist dem Komponisten wiederum der Hinweis darauf, dass es sich auch in diesem Fall nicht „um zitierte Exotik, sondern um die Integration prinzipieller musikalischer Denkweisen“ handle. 

 

Cerha, Konzert für Violoncello und Orchester, 1. Satz, Schlagzeugstimme, T. 105 f.

Cerha, Cellokonzert, Konzert für Violoncello und Orchester, 1. Satz , T. 105 ff.

Netherlands Radio Chamber Orchestra, Ltg. Peter Eötvös, Heinrich Schiff (Cello),
Produktion ECM 2007

Schatztruhe