Klavierstücke für Kinder
oder solche,
die es werden wollen

Was wissen denn die Erwachsenen…

Piccola commedia

Konzert für Violine, Violoncello und Orchester

Irina Cerha, „Kinderspielplatz“, undatiert

Einige von Irina Cerhas Zeichnungen stehen in unmittelbarem Bezug zur Musik ihres Vaters – andere wiederum stehen für sich selbst. Die Zeichnung „Kinderspielplatz“ gehört zu den frühen Arbeiten der Künstlerin und ist keinem konkreten Stück zugeordnet. Zu den Klavierstücken für Kinder passt die verspielte Grafik dennoch.

Foto: Christoph Fuchs

Wie der Vater, so die Tochter?

Quelle: Robert Neumüller/Irina Cerha

2005 dreht der Regisseur Robert Neumüller den Portraitfilm So möchte ich auch fliegen können. Er zeichnet Friedrich Cerhas Stationen als Mensch und Komponist nach. Im Zuge der Dreharbeiten interviewte Neumüller auch seine Töchter Irina (*1956) und Ruth (*1963). Beide sind künstlerisch aktiv, wählten aber (trotz instrumentaler Ausbildung) nicht die Musik als erstes Tätigkeitsfeld aus. Während Ruth sich als Schriftstellerin einen Namen machte, war Irinas Leidenschaft visueller Natur. Bereits als Kind griff sie oft zum Bleistift, um ihre inneren Bilder auf Papierbögen zu bannen. Einige expressive Zeichnungen aus ihrer Jugend sind in besonderer Weise auch mit dem Werk ihres Vaters verflochten – sie begleiten einen Zyklus von Klavierstücken, die Friedrich für Irina komponierte.

Außenansicht

Die Klavierstücke für Kinder oder solche, die es werden wollen entstanden in einem Umfeld, das ihnen in vielerlei Hinsicht widersprach. Fast alle Stücke wurden 1964 geschrieben, nur einzelne bereits früher. Der experimentelle und erforschende Geist der 1960er Jahre ebenso wie Cerhas damalige avantgardistische Ausrichtung passen kaum zu den miniaturartigen, witzigen und leichten Stücken. Allein die ein Jahr zuvor entstandene Elegie für Klavier deutet an, wie sehr sich die Klavierstücke für Kinder von den anderen Werken aus dieser Zeit unterschieden.

Cerha, Elegie für Klavier, Autograf, 1. Zeile, 1963

Interpret: Wolfram Weiss

Hier, in der Elegie, ein konzentriertes, spannungsreiches und ernstes Strukturgefüge von tonsprachlicher Abstraktion – dort, in den Klavierstücken, ein kunterbuntes Spiel mit Gesten, Bewegung und Bildern. Es sind diese Kontraste, die deutlich zu Erkennen geben, dass sich in Cerhas Œuvre nichts kategorisch ausschließt. Koexistenz in der Breite prägt die künstlerische Entwicklungslinie ebenso wie Stringenz im Einzelnen. Gleichzeitig ist an den Klavierstücken eine typische Arbeitsweise erkennbar: Neben den großen Werken entstehen parallel fast immer kleinere. Sie leben in Gegensatz zur ausdauernden Kraftanstrengung vom spontanen Ausdruck. 1964 arbeitete Cerha besonders intensiv am Großprojekt Exercises – im gleichen Jahr schrieb er neben den besagten Klavierstücken aber auch weitere pianistische Kleinformate: Fünf kleine Stücken etwa, im Duett mit einer Klarinette, oder Sieben Anekdoten, dort mit Flöte. Unter all diesen schmal dimensionierten Werken stechen die Klavierstücke durch ihre einzigartige Widmung – für Irina und „für Kinder“ – hervor. Für junge Finger und Ohren komponierte Cerha jedoch nicht nur einmal: Auch seiner zweiten Tochter Ruth schenkte er später einen Klavierzyklus. Die Adaxl-Suite beschreibt in 15 fantasievollen Stücken tonmalerisch das Leben einer Eidechse (österreichisch: Adaxl), inspiriert von den Echsen, die Friedrich und Ruth „oft auf den warmen Steinen“Cerha, Begleittext zur Adaxl-Suite, AdZ, 000T0076/2 in Maria Langegg beobachteten.

 

Cerha, Adaxl-Suite, Autograf, Ausschnitte, 1987, AdZ, 00000076

Brücke

Mit dem Vorhaben, Klaviermusik speziell für Kinder zu schreiben, reiht sich Cerha in eine Tradition ein, die vor allem im 19. Jahrhundert Bedeutendes hervorbrachte. Die künstlerische Aufmerksamkeit in Richtung eines jungen Publikums geht dabei auf einen breiten kulturgeschichtlichen Hintergrund zurück: Mit Anbruch der Aufklärung rückte man von der Vorstellung ab, Kinder als Mängelwesen zu betrachten, die erst im erwachsenen Alter zu vollwertigen Menschen werden. Man begann, der ersten Phase des Lebens vermehrt Beachtung zu schenken. „Die Kindheit“, so Jean-Jacques Rousseau, „hat ihre eigene Art zu sehen, zu denken und zu fühlen, und nichts ist unvernünftiger, als ihr unsere Art unterschieben zu wollen.“Jean-Jacques Rousseau, Emil oder Über die Erziehung, Paderborn 1971, S. 69 Eine logische Folge aus diesem Denken: Kinder sollten nicht die gleiche Literatur wie ihre Eltern spielen – es galt, eine eigene für sie zu kreieren. In der Folge entstand ein eigenes Marksegment mit Notenalben für Kinder. Die Urheber waren oft gestandene Künstler: Felix Mendelssohn Bartholdy, Stephen Heller, Peter Tschaikowski oder Carl Reinecke. Besonders ein Name aber klingt bis heute nach: Robert Schumann.
Er komponierte etwa Zwölf vierhändige Klavierstücke für kleine und große Kinder (titelverwandt mit Cerhas Klavierzyklus) und 1848 das berüchtigte Album für die Jugend – der Gradmesser für pianistische Kinderstücke schlechthin. In Schumanns Album, aufgeteilt in eine Abteilung „für Kleinere“ und eine „für Erwachsene“, offenbaren sich einige Merkmale des Kinderstück-Genres besonders deutlich. Einerseits sind die enthaltenen Stücke meist besonders kurz – meist füllen sie etwa eine halbe Notenseite –, andererseits sind sie Träger einer Stimmung, die durch einen entsprechenden Titel ausgedrückt ist: Soldatenmarsch, Jägerliedchen, Wilder Reiter oder Knecht Ruprecht.
Beide Eigenschaften finden sich auch in Cerhas Klavierstücken für Kinder wieder. Alle Kompositionen tragen mindestens einen, manchmal sogar mehrere Namen und beschränken sich meist auf wenige Zeilen. Wie in Charakterstücken der Romantik ist jedes Stück von einer poetischen, mit dem Titel verflochtenen Idee durchdrungen. In den mehrfachen Überschreibungen kommt ein (doppelbödiger) Humor zum Tragen. Gleichzeitig regen sie zu eigener Fantasie an: Es liegt nahe, die Titel beliebig zu ergänzen. Mit Schumanns Albumblättern haben Cerhas Stücke schließlich auch gemein, dass sie in Abschnitte aufgeteilt sind, die sich an Klavierspieler:innen unterschiedlichen Niveaus und Alters richten. Obwohl die Adressaten bewusst in der Schwebe gelassen werden (durch ambivalente Bezeichnungen wie „ausschließlich für Kinder und Erwachsene“), gibt es dennoch Schwerpunkte. Die ersten zehn Stücke sind der (wie auch immer sich ausdrückenden) kindlichen Erlebniswelt gewidmet, während die restlichen acht eher die Jugend in den Blick nehmen. Auf einer Manuskriptseite für den späteren Verleger, die Universal Edition, fasst Cerha die Sektionen inklusive ihres Entstehungsjahres zusammen.

A Duet, Holzstich für das Magazin „Harper’s Young People“, Vol. 9/419, 1887

Cerha, Klavierstücke für Kinder oder solche, die es werden wollen, Manuskript, Werkübersicht, 1964, AdZ, 00000067/2

Ein weiterer Aspekt, der Cerhas Klavierstücke auszeichnet, ist ihre des Öfteren persönliche Natur. Zwischen den Notenzeilen hinterließ seine Tochter ihre Spuren. Einerseits gehen die überwiegend „parodistische[n] Charaktere“Cerha, Begleittext zur Klavierstücke für Kinder, oder solche, die es werden wollen, AdZ, 000T0067/2 auf sie zurück: Seit Kindheitstagen habe sie es „besonders geliebt“, mit ihrem Vater „zu blödeln“ – ein Wesenszug, den die Musik behutsam einfängt. Andererseits beteiligte sich Irina Cerha auch auf kreative Weise an der Sammlung: „Mit etwa 13 Jahren begann sie intensiv zu zeichnen“. Für die Druckausgabe der Klavierstücke wählte sie mit ihrem Vater in den 1970er Jahren einige ansprechende, „zum Teil karikaturistische Blätter“ aus. Die Zeichnungen wurden im Kleinformat schließlich neben den Notentext gesetzt. Wieder zeigt sich hier eine Verwandtschaft zum Album für die Jugend, denn Schumann hegte ebenfalls Pläne, seine Stücke illustrieren zu lassen – auch wenn er sie letztlich nicht verwirklichte.Schumann schrieb an seinen Kollegen Carl Reinecke, er plane, für jedes Stück eine Illustration nebenbei zu stellen, dieser Plan hätte jedoch aufgrund der Verlagspläne und zu wenig Zeit nicht realisiert werden können. Vgl. Erler, Robert Schumanns Leben, Bd. 2, S. 62

Irina Cerha, diverse Zeichnungen, ca. 1970er Jahre

Foto: Christoph Fuchs

Im Jahr 2020 wandte sich Irina Cerha den ihr gewidmeten Stücken erneut zu. Gespielt hatte sie diese schon seit ihrer Jugend. Nun, zum Anlass des anstehenden 95. Geburtstag ihres Vaters, nahm sie alle Kompositionen erstmals am eigenen Klavier auf. In einem eigens produzierten Video verband sie die persönlichen Aufnahmen mit ihren Zeichnungen – ein Geschenk, das die Verschmelzung der visuellen und akustischen Kunst zelebriert und zugleich ein Zeugnis der innigen Beziehung zwischen Vater und Tochter ist.

Innenansicht

Für die Betrachtungen der Klavierstücke für Kinder konnte „Cerha Online“ eine Expertin gewinnen: Univ.-Prof. Dr. Anne Fritzen schloss ihre Dissertation 2019 über die Oper Der Riese vom Steinfeld ab und studierte (künstlerisch wie pädagogisch) Klavier an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig. Derzeit ist sie Professorin für Musikpädagogik und künstlerisch-pädagogische Ausbildung an der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ in Weimar. Für unsere Plattform schrieb sie einen Gastkommentar:

Cerhas Klavierstücke für Kinder oder solche, die es werden wollen (1964) ist – wie der Name schon verrät – eine Sammlung, die sich wiederum aus vier kleineren Sammlungen sowie einem Einzelstück zusammensetzt.Fünf Stücke für Kinder oder solche, die es werden wollen, Noch fünf Stücke, ausschließlich für Kinder und Erwachsene, Vier Klavierstücke für Schimpansen oder Pubertierende aller Altersstufen, ein Rondo mit dem Untertitel Wut über die eigene Schlamperei und Drei Stücke [für frühzeitig alternde Jugendliche (aller Altersstufen)]

Obwohl sich im progressiv ansteigenden Schwierigkeitsgrad der Stücke von leichten Zweizeilern bis mittelschweren zweiseitigen Stücken sowie im Titel eine gewisse pädagogische Ausrichtung wiederfindet,Damit ist es eines der wenigen pädagogisch konzipierten Werke Cerhas. Als weitere pädagogische Werke seien beispielsweise die Adaxl-Suite für Klavier (1970/1987), Band 2 der Klavierstücke für Kinder (2016/17), Bekenntnis für Kinderchor (2008) sowie je nach Blickwinkel Cerhas 21 naseweise Notizen für Klavier (2016) und das Zebra-Trio (2010) genannt. richten sich die Stücke dennoch nicht nur an Kinder, wie sowohl die Titel der Sammlungen als auch die Kompositionen selbst verdeutlichen. Ansprechen soll die Musik alle, die sich selbst nicht zu ernst nehmen und sich für ironische Unter- und Zwischentöne begeistern können.

Die Themenwahl der ersten Stücke berührt zunächst Fragen, mit denen sich Kinder in ihren ersten Klavierstunden auseinandersetzen, beispielsweise Ist er oder sie – damit ist der oder die Klavierlehrende gemeint – streng?? Oder nicht streng??, was sich dann praktisch daran zeigt, wie genau auf die Umsetzung der von Cerha detailliert angegebenen Dynamik- und Artikulationsangaben im Unisono-Satz geachtet wird. Aber auch leidige Themen wie das „Zählen“ greift Cerha auf: Dieses verflixte Zählen spielt mit ständigen Taktwechseln und lässt mit dem Untertitel Was wissen denn die Erwachsenen, was einem Kind Spaß macht! gleichzeitig offen, ob das Wirrwarr an Taktwechseln nun mehr oder weniger lustig für Kinder ist.

Als weitere „Belustigungen“ – diesmal aber wohl eher für musikalisch schon etwas Bewandertere – spielt Cerha in den Kinderstücken auf diverse Komponisten an: Tanz der Oma nutzt beispielsweise humorvoll ständig wechselnde Taktarten und scharfe Akzentuierungen wie sie auch bei Igor Stravinskij zu finden sind. Gleichzeitig setzt Cerha Akzente und Motive so, dass das Metrum zu „hinken“ scheint und ahmt damit das Tanzen einer älteren, etwas gebrechlichen Dame nach. Cerhas Rondo mit dem Untertitel „Wut über die eigene Schlamperei“ lässt hingegen unweigerlich an Ludwig van Beethovens Rondo a Capriccio op. 129, die Wut über den verlorenen Groschen, denken. Frei kombiniert Cerha hier Beethoven-Motive, überspringt aber bisweilen „schlampig“ Zählzeiten und Takte aus dem „wütenden“ Vorbild. Weitere Anspielungen und Ironisierungen reichen von Carl Czerny (in Das in den Spiegel schauen ist was Blödes!! oder Aber Stumpfsinn wirkt angenehm beruhigend) über Béla Bartók (in Reise auf den Balkan) bis hin zu Eric Satie (in Ich finde das Leben viel zu aufregend oder Auch Kinder haben das Recht auf einen Psychiater).

Doch neben Verrücktheiten und Ironie schwingen in einigen Stücken auch immer wieder Ernst und Nachdenklichkeit mit wie in Die schlimme Hand oder Angeblich muss Polizei auch sein. Hier soll der oder die Ausführende mehrmals mit der einen auf die andere Hand schlagen, um einen Klang zu erzeugen, welcher dann mit dem Pedal als Echo aufgefangen wird. Damit ist spieltechnisch wie akustisch das Empfangen einer Strafe nachgebildet.

So entsteht in den Stücken ein Oszillieren zwischen Spaß und Ernst, zwischen Kind- und Erwachsensein, wobei die Grenzen, wem nun Spaß und wem Ernst, wem Vernunft und wem Weitsicht zugeordnet wird, fließend sind und ironisch immer wieder versetzt werden. Bei allen Stücken, so Cerha, liegen „die Rechte (einschließlich das Einschreiben von Fingersätzen und Verbesserungsvorschlägen) […] bei den Kindern.“ So räumt er ihnen für den Unterricht demokratisches Mitgestaltungsrecht ein und lässt dezidiert auch die kreative Auseinandersetzung mit dem Material zu, denn, so Cerha im Vorwort: „Wer weiß schon, was Kindern lustig ist?“

Univ.-Prof. Dr. Anne Fritzen

Professorin für Musikpädagogik und künstlerisch-pädagogische Ausbildung, Hochschule für Musik "Franz Liszt" Weimar

Speziell für „Cerha Online“ konnten zwei Jungstudentinnen der Gustav-Mahler-Privatuniversität als Interpretinnen gewonnen werden. Paula Liebhauser und Hannah Senfter erarbeiteten die Klavierstücke gemeinsam mit Anne Fritzen und spielten 2020 alle Nummern ein. Die Videoaufnahmen führen im Folgenden nochmals durch den Zyklus – diesmal jedoch durch eine andere Perspektive betrachtet und ergänzt um kurze Anmerkungen zur Musik.

Ist er (sie) streng?? Oder nicht streng?? oder Man kann nie wissen…!

Klavierstunde Nummer 1: Erste Bekanntschaft mit dem oder der Lehrenden, das Klavier wird als neues Instrument erkundet. Dieses pädagogische Szenario lässt das erste Stück des Zyklus miniaturartig aufleben. Die Musik ist einstimmig (in Oktaven) komponiert und spiegelt somit den Stand des noch am Anfang stehenden Lehrlings. Ein immer gleiches, hart angeschlagenes Motiv verklanglicht das Durchgreifen des Lehrenden. Darauf folgt ein zweites, eher schüchternes Motiv in höherer Lage, das sich im Detail stets wandelt – eine Art virtuelle Überschleife, die zu neuem Hinhören verleitet. Die ersten Lernfortschritte sind getan.

Dieses verflixte Zählen oder Was wissen denn die Erwachsenen, was einem Kind Spass macht!

Mit beiden Händen unterschiedliche Dinge zu tun ist für Anfänger auf dem Piano schon schwierig genug. Wenn noch Taktwechsel dazukommen, ist die Verwirrung komplett. Das zweite Stück in Cerhas Klavier-Album gibt sich scheinbar harmlos: Die rechte Hand spielt ein einprägsames Motiv, das mehrmals wiederkehrt, die linke drei Basstöne in Schleife. Im Detail ist das Zusammenspiel jedoch vertrackt: Durch Erweiterungen und Kürzungen der Taktarten verschieben sich die Muster, sodass der:die Pianist:in stets aufmerksam bleiben muss, damit alles an seinem richtigen Platz bleibt.

Tanz der Oma oder Wenn der Strawinsky das wüsste!!!

Das dritte der Klavierstücke führt die vertrackten Taktwechsel des zweiten Stücks weiter, greift jedoch zu einem völlig anderen Gestaltungsmittel: Es inszeniert das Klavier als perkussives Instrument. Rhythmische Bewegung steht im Vordergrund, während scharfe Akzente mit harten Vorschlägen das Geschehen antreiben. Schwerpunkte verschieben sich immer wieder, indem dem Metrum ständig der Boden unter den Füßen weggezogen wird, andererseits raffinierte Pausen auftauchen. Selbst vor harschen Reibeklängen scheut Cerha nicht – alles zusammen eine neckische Hommage an den expressiven Personalstil des russischen Komponisten Igor Strawinsky, auf den im Titel angespielt wird.

Reise auf den Balkan oder Müssen Hirten auf der Steppe beim Blasen auch zählen?

Mit Südosteuropa verbindet Cerha viel: In jungen Jahren kam er in Kontakt mit vielen Menschen aus diesem Gebiet – und so auch mit ihrer volkstümlichen Musik. Ukrainische, slowenische oder slowakische Klänge tauchen in einigen seiner frühen Werke auf. Auch die „Reise auf den Balkan“ entpuppt sich als eine Art Erinnerung der eigenen Kindheit: Die Klangaura der Region entfaltet sich durch eine einfache, ‚ländliche‘ Melodie aus nur wenigen, jedoch für die Volksmusik charakteristischen Tönen. Sie wirkt beinahe improvisiert. Kräftige Vorschläge imitieren hier und dort fremdländische Flötenklänge der imaginativen „Hirten auf der Steppe“.

Der Direktor kommt oder Was ist Repräsentation?

Mit grotesker Attitüde stampft die fünfte Nummer des Zyklus herbei: Es ist der Direktor, der zu Besuch kommt. Verklanglicht wird er durch einen angedeuteten, schwerfälligen, doch auch lustigen Tanz – Autorität, erlebt aus kindlicher Perspektive. Die Musik ist in Dialogform angelegt und lässt aus der Stippvisite des Chefs eine Mini-Szene entstehen. Den trampelnden Akkorden folgt immer eine zweistimmige, umherschweifende Melodie – vielleicht inspiziert der Direktor gerade etwas Bestimmtes? Vielleicht handelt es sich auch um ein simples Frage- und Antwort-Spiel, bis er befriedigt von dannen zieht.

Wie sich die grossen Politiker die Soldaten vorstellen oder Was soll denn ich bei der Frühjahrsparade

Cerhas biografisch bedingte Ablehnung des Militärs findet im sechsten der Klavierstücke einen verspielten Resonanzraum, ohne allzu explizit zu werden. Robuste, „äußerst kurze“ Akkorde bahnen sich ihren Weg und persiflieren das strenge Marschieren in einer Kolonne. Erlebt wird dieses mit den Augen und Ohren eines Kindes, das sich wahrscheinlich beim Anblick der Frühjahrsparade langweilt oder die vorbeiziehenden Soldaten gar lustig findet. Möglicherweise versucht sich das Kind wegzuschleichen oder erspäht Interessanteres, so zumindest deuten es vorsichtig dazwischen geschobene, zaghafte Gesten an – eine Form politischer Skepsis.

Omama weiss alles viiiiiel besser oder Wie behalte ich Fassung?

Zum zweiten Mal taucht die Figur der Großmutter in den Klavierstücken auf, nachdem sie im bizarren „Tanz der Oma“ (Nr. 3) bereits in Erscheinung getreten ist. In diesem kurzen Zweizeiler wird sie zur Gegenfigur eines imaginären Gesprächs. Auf der einen Seite: Ruhige Akkordbrechungen mit neckischen Vorschlägen – das Kind drückt seine Gedanken aus. Auf der anderen Seite: Eine resolute Melodie in völlig anderem Tonrahmen – die belehrenden Worte der alten Frau, die sich über die vermeintlich naiven Äußerungen erheben. Ein Mini-Drama der Spannung zwischen Kind- und Erwachsenenwelt.

Das In-den-Spiegel-Schauen ist was Blödes!! oder Aber Stumpfsinn wirkt angenehm beruhigend

An Fingerübungen und Etüden haben sich bereits unzählige Klavierschüler:innen die Zähne ausgebissen – nicht immer mit Vergnügen. Die achte Nummer aus Cerhas Zyklus ist ein Stück über das (manchmal leidige) Herumschlagen mit technischen Herausforderungen. Ohne Pause flirren Akkordbrechungen in Sechzehntelketten und jeweils entgegengesetzten Richtungen über die Klaviertasten. Das Unterfangen ist „akrobatisch“, wie die Vortragsbezeichnung offenlegt und erinnert im Detail an die rasenden Tonkaskaden des österreichischen Klavierpädagogen Carl Czerny, die seiner „Schule der Geläufigkeit“ entstammen. Ein beinahe meditativer „Stumpfsinn“.

Warum muss denn die Musik was Schönes sein? oder Ich finde es schrecklich, dass die Deutschen immer mit Seele gescheit sein müssen

Eine eher lyrische Musik entfaltet sich nach den verklungenen, virtuosen Läufen des Vorgängers.  Folgt man nur den anfänglich glasklaren Harmoniebrechungen der linken Hand, so könnte man fast annehmen, es handele sich hierbei um ein harmloses, verträumtes (vielleicht langweiliges) Stück. Der bezeichnende Titel „Warum muss denn die Musik was Schönes sein?“ kokettiert hingegen mit Harmoniebrechung im erweiterten Sinne: Zwischen der linken und rechten Hand entwickelt sich ein zunehmendes Spannungsgefälle, Dissonanzen nehmen zu und lenken die Musik in andere, gewagtere Gefilde, um schließlich doch noch einen versöhnlichen Abschluss zu finden.

Nicht nur Überspannte brauchen Entspannung oder Warum das Götz-Zitat immer wieder erfrischend wirkt

Mit „Potpourri“ überschreibt Cerha die letzte Nummer der speziell Kindern gewidmeten Abteilung. In der Tat gibt sich das kleine Finale erstaunlich vielfältig, folgten doch die vorausgehenden Nummern oftmals einer bestimmten Idee. Hier hingegen wechseln die musikalischen Gedanken (von denen einige allen Anschein nach zitiert sind) unvorhersehbar und bleiben immer nur für kurze Momente bestehen – ein fast collageartiges Verfahren mit schnellen, filmartigen Schnitten. Über ein gedankenloses Aneinanderreihen geht die Musik jedoch weit hinaus. Obwohl nur miniaturartig manifestiert sich deutlich Cerhas Präferenz, aus Unterschiedlichem eine neue Einheit zu formen – der Grund, warum das Stück in sich erstaunlich geschlossen wirkt.

Klavier: Paula Liebhauser
Ton & Schnitt: Bruno Singer

Jeden Tag das frühe Aufstehen! oder Warum geht es in der Welt immer hinauf und hinunter

Äußerst tänzerisch und leichtfüßig geht es im ersten der an Jugendliche gerichteten Stücke zu. Von Beginn an ist eine treibende rhythmische Zelle einprägsam, die unablässig pocht und keine Verschnaufpause zulässt – ein Klangsymbol für den anregenden Tanz des Lebens. Über viele Takte hinweg schlägt die linke Hand immer wieder aufs Neue nur einen einzigen Ton an. Ihr Gegenpart bildet die melodietragende rechte Hand, die das „Hinauf“ und „Hinunter“ der Welt spiegelt. Erst am Ende tauschen die Hände ihre Rollen. Die kreisende Bewegung wird ins Bassregister verlagert und klingt dort merklich schwerfälliger – ein Zeichen der Erschöpfung?

In dieser Welt muss man zornig werden oder Woher nehmen die Erwachsenen ihre Gleichgültigkeit

Cerhas Klavierstücke führen insgesamt behutsam und verspielt in die Welt der Neuen Musik ein. Im Unterzyklus „für Schimpansen oder Pubertierende aller Altersstufen“ wird dabei auch Gebrauch von avantgardistischen Spieltechniken gemacht. Für die zweite Nummer muss der:die Pianist:in den linken Unterarm auf die Tasten legen. Die auf diese Weise freistehenden Hämmer erzeugen ein Resonanzfeld, das von kurzen, lauten und „zornigen“ Klangereignissen angeregt wird. Diese setzen sich aus drei Schichten zusammen: einem Staccato-Tonpendel auf zwei schwarzen Tasten, das sich mit Motiven auf den weißen Tasten verzahnt und kurzen Einwürfen des hohen Registers. Auf den Protest reagiert der Klavierkorpus in den Pausen mit einem gleichbleibenden (oder gleichgültigen?) sphärischen Nachhall.

Die schlimme Hand oder Angeblich muss Polizei auch sein oder Auch den Franzi wundert das Ansteigen der Jugendkriminalität nicht

Ein kleines Drama spielt sich im dritten Stück des Jugend-Zyklus ab. Es reflektiert ein typisches Sujet der betreffenden Lebensphase: Das Überschreiten von Grenzen und die darauffolgende Maßregelung. Musikalisch erzählt wird dies u.a. wieder durch erweiterte Spieltechniken, besonders durch zwei Mittel. Eine erst zögerliche, zweistimmige Klangfigur tastet sich zu einem bestimmten Punkt vor (abschließend mit einem kurzen Akzent). Die Strafe folgt auf dem Fuß: Eine Hand schlägt auf die andere und lässt so einen harten, nachhallenden Clusterklang entstehen – dieser hält jedoch neue Versuche, die Grenze des Gesetzes zu übertreten, nicht im Zaum.

Ich finde das Leben viel zu aufregend oder Auch Kinder haben das Recht auf einen Psychiater

Cerhas Klavierstücke sind nicht nur kreative Miniaturen, sondern führen auch in neue Notations- und Spielarten ein. Im vierten Stück des Jugend-Zyklus wird beispielsweise auf Takte und Metrum ganz verzichtet, eine Gestaltungsentscheidung, die dem ekstatischen, schwerpunktlosen Fluss der Musik Rechnung trägt. In minimalistischer Art spielt die linke Hand nur drei Töne (es handelt sich um Quarten) auf- und abwärts. Die rechte Hand hingegen kontrapunktiert die Muster durch eigene Wellenbewegungen, macht immer auf anderen Akzenttönen Halt, ohne je Ruhe zu finden. Ein manisches Stück Musik.

Rondo (Wut über die eigene Schlamperei)

Unter den Stücken des Klavierzyklus fällt das lebendige Rondo mit dem vielsagenden, ironischen Untertitel gewissermaßen aus dem Rahmen: Es besteht als einziges Stück losgelöst von einer Gruppe und wurde erst später komponiert, wie der Autograf verrät. Auch die musikalische Gestaltung ist verschieden und birgt unzählige Anspielungen auf Bekanntes (natürlich auch auf Beethoven und seinen „Wut über den verlorenen Groschen“) in sich: Hämmernde, überdeutliche Akkordrepetitionen, Tongirlanden und schnelle Läufe als pianistische Klischees eines Virtuosenstücks. In Teilen ist es auch als Parodie des zuweilen frustrierenden Übeerlebnisses zu verstehen, etwa, wenn das Rondothema gegen Ende immer weiter beschleunigt wird: Der Geduldsfaden ist gerissen. Wie andere Stücke des Zyklus entpuppt sich auch dieses als amüsante Reflexion des Klavierspielens an sich.

Lied

In den letzten drei Stücken des gesamten Zyklus weicht Cerha von den poetisch-komischen Titeln ab – schließlich sind die Adressat:innen nun „frühzeitig alternd“ und bedürfen den musikalischen Geschichten nicht mehr. Die erste Nummer des letzten Unterzyklus heißt schlichtweg „Lied“. Gesanglich gibt sich das Stück jedoch nur in Teilen, etwa, wenn sich ätherische, kurze Kantilenen episodenhaft herausschälen. Im Wesentlichen bündelt die Miniatur spannungsreiche, dissonante Harmonien und lässt diese sich in unterschiedlichen Formen entfalten, mal als stehende Klänge, mal graduell entwickelnd, mal pochend wiederholend und schließlich unterlaufen von Staccato-Figuren. Ein weiteres Mal ist die Musik von der Vielfalt bestimmt, ebenso wie von einem verdichteten, fast expressionistischen Ausdruck.

Double 1

Am Ende von Cerhas Klavierstücken stehen – der Logik des Zyklus folgend – die beiden am schwierigsten zu interpretierenden Kompositionen. Sie sind beide als „Double“ betitelt und spielen damit auf eine barocke Variationsform an, bei der die Notenwerte verdoppelt werden (was zu schnelleren, virtuoseren Varianten führt). Cerha spielt mit dieser Idee, indem er sich rückbezieht: Im ersten Double scheint das vorherige „Lied“ in seinen Grundzügen deutlich durch – es wird zur Keimzelle für das neue Stück. Besonders am Anfang sind die Anknüpfungen klar erkennbar, da sich Akkordstrukturen und -brechungen gleichen. Im Verlauf geht Cerha freier mit dem Modell um. Die Endpartie nimmt schließlich den aus dem „Lied“ stammenden Gedanken des Liegeklangs auf, der durch kurze Bassfiguren durchstochen wird, und erweitert ihn fantasievoll.

Double 2

Das zweite Double und insgesamt letzte Klavierstück ist nicht zwingend als Variation des Vorhergehenden zu deuten, sondern eher als finale Steigerung der bekannten Gestaltungselemente. Im Verlauf des Stücks taucht immer wieder eine schnelle Akkordrepetition auf, die bereits im „Lied“ kurz artikuliert wird. Ebenso prägend sind virtuose Staccatofiguren im Bass, die teils gar in Oktaven ausgeführt werden und ebenfalls dem „Lied“ entstammen. Rhythmische Sprünge zwischen der rechten und linken Hand hingegen sind erstmals im „Double 1“ entwickelt und speisen hier die motorische Kraft der Musik, oftmals in komplexen Wechseln der Metrik. Alles in allem sind die Anforderungen an den:die Pianist:in enorm und bündeln das im Zyklus Erlernte auf dichtem Raum. Das Finalstück ist keine bewusst pädagogische Musik mehr, sondern erweist sich als reifes, eigenständiges, ja erwachsenes Werk.

Klavier: Hannah Senfter
Ton & Schnitt: Bruno Singer

Schatztruhe