Der Geiger

Cerha an der Violine, Brüssel 1958

In den 1950er Jahren nahm Cerhas Tätigkeit als Konzertgeiger neben dem Komponieren eine ebenbürtige Stellung ein. Als 1958 die Weltausstellung in Brüssel stattfand, interpretierte er in einem Kurs Hanns Jelineks neue Geigenliteratur.

Foto: Archiv der Zeitgenossen

3/4-Geige, Privatsammlung Friedrich und Gertraud Cerha, Wien

Foto: Christoph Fuchs

Ein Mensch, der recht früh mit dem Geigenspiel beginnt, besitzt später meist mehrere Instrumente. Neben der für Erwachsene bestimmten ‚ganzen Geige‘ existieren sechs weitere Größen für Kinder. Friedrich Cerha erlernte das Streichinstrument bereits im Alter von sieben Jahren – logisch, dass er seine Kindergeige nicht lange behielt. Er vererbte sie aber an seine Tochter Ruth. Erst in den 1950er Jahren fand Cerha seine dauerhafte ‚Gefährtin‘, eine Violine des bayerischen Geigenbauers Sebastian Klotz. Leider ist das Instrument wie seine Kindergeige nicht gut erhalten. Nur seine Jugendgeige (siehe Foto oben) überstand die Jahrzehnte beinahe unversehrt.
Durch die europäische Musikgeschichte hinweg war die Geige das Instrument vieler Komponist:innen, von Antonio Vivaldi über Wolfgang Amadeus Mozart, Lili Boulanger, Paul Hindemith oder Caroline Shaw. Viele dieser Musiker:innen interpretierten selbstverständlich auch ihre eigenen Werke – eine Gepflogenheit, die in der Gegenwart eher die Ausnahme ist. Im Fall  Cerhas ist das Geigenspiel eng mit dem Komponieren verbunden – nicht bloß in seiner Jugend. Über viele Jahrzehnte koexistierten beide Tätigkeiten: In den 1950er und 60er Jahren trat Cerha regelmäßig als Konzertgeiger auf und legte diese Aktivität erst nieder, als sich sein kompositorisches Schaffen (auch in der öffentlichen Wahrnehmung) als zentral offenbarte und eine neue Intensität erlangte. Dirigieren und Lehren drängten das Geigen ebenfalls in den Hintergrund. Die Erfahrung jedoch, vom aktiven Musizieren auszugehen, Imagination und Umsetzung stets als bereicherndes Wechselspiel zu betrachten, prägte Cerha als Künstler ein Leben lang.

 

Die Geige als Tür zur Musikwelt

Cerha, Wien 1935

Zu seiner Entwicklung als Mensch und Künstler trugen Cerhas Geigenlehrer viel bei. Besonders auf seinen ersten, Anton Pejhovsky, kommt er immer wieder zu sprechen. Dem Tschechen verdankte Cerha nicht bloß eine „gründliche geigerische Ausbildung“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 20, sondern auch literarische und gesellschaftskritische (Er-)Kennnisse. So verknüpfte sich sein Violinspiel von Beginn an mit humanistischen Überzeugungen, war es für ihn stets mehr als das bloße Einüben von Melodien oder technische Schulung. Es fügt sich ins Bild, dass auch weitere Schlüsselfiguren auf dem Weg des Geigers sich von den damals grassierenden Ideologien nicht vereinnahmen ließen.
Im Herbst 1938 – ein Jahr vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – machte ihn ein jüdischer Freund mit dem „ebenfalls jüdischen, jungen Pianisten Hans Kann“ bekannt,Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 24. „Wir verstanden uns gut, spielten beide gut vom Blatt und fraßen uns systematisch durch einen großen Teil der Literatur für unsere beiden Instrumente“, erinnert sich Cerha. Bereits damals standen Werke jüdischer Komponist:innen auf den schwarzen Liste der Nazis, auch Klassiker wie Felix Mendelssohn Bartholdys Violinkonzert. Kanns Vater besaß ein Exemplar des Werks und händigte es Cerha eines Tages aus – der spielte es „leidlich vom Blatt“ und sicherte sich so „für immer die Zuneigung“ des Musikliebhabers. Die geschenkte Partitur sollte für immer in Cerhas Besitz bleiben, auch wenn die Zeitläufte seine Freundschaft mit den Kanns gefährdete. Als bereits der Krieg tobte, kam Vater Kann dem jungen Geiger, der gerade mit Hans geprobt hatte, „auf die Stiegen nach und sagte […]: ‚Fritzl, ich glaube es ist besser, wenn du jetzt nicht mehr kommst. Wir bekommen sonst alle Schwierigkeiten.‘“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 24

Felix Mendelssohn Bartholdy, Violinkonzert e-Moll op. 64, Exemplar im Privatbesitz Cerhas

Foto: Christoph Fuchs

Glücklicherweise konnte der die Freundschaft zwischen Cerha und Kann nicht zerstören: In der Nachkriegszeit musizierten beide in den Untergrundlokalen Wiens weiter; sie spielten Igor Strawinsky, Arthur Honegger oder Erik Satie, aber auch Eigenes. Paul Kont, ein gemeinsamer Freund, engagierte Cerha „als Geiger für verschiedene Aufgaben“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 28. Im Dreiergespann mit Kann interpretierten sie in verschiedenen Lokalitäten „unter anderem auch Filmmusiken (Flucht ins Schilf) und sogar Bühnenmusiken für das Burgtheater.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 29.
Zur Zeit ihrer städtischen Streifzüge studierte Cerha an der Musikakademie unter anderem das Hauptfach Violine. Seine beiden Lehrer waren wie schon Anton Pejhovsky Tschechen: Einer von ihnen war Gottfried Feist, der „beste Violinpädagoge, den die Akademie besessen hat“Elisabeth Th. Hilscher und Christian Fastl, Art. „Feist, Gottfried‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online Er brachte seinem Eleven erstmals die Werke der Wiener Schule näherSchriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 21. Einprägend war jedoch auch Feists autoritäres Auftreten, gepaart mit hohen moralischen Grundsätzen: „Er warf eigenhändig Schüler zur Tür hinaus, über die Stiege hinunter und den Geigenkasten hinterher, wenn sie im Zusammenhang mit Kunst von Bezahlung sprachen. Seine Devise war: ‚Musik kann man nicht bezahlen. Man kann höchstens den Künstler entschädigen‘.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 27
Auf Feist folgte Váša Příhoda, der schon in den 1920er Jahren (besonders in Österreich) als „glänzender Virtuose“Monika Kornberger, Art. „Příhoda, Váša‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online gefeiert worden war und als Spezialist für Paganini galt. Kurz nach Kriegsende erhielt er in Wien „zunächst keine Engagements, da ihn die Wiener Presse für den Tod seiner ersten Frau […] verantwortlich machte.“ Er rehabilitierte sich jedoch schnell und konnte an frühere Erfolge wieder anschließen. Mit Příhoda blieb Cerha „bis zu seinem Tod freundschaftlich verbunden“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 21 Noch Mitte der 1950er Jahre musizierte er mit ihm:

Von frühen Studententagen an wurde ich als Geiger auch in der Wiener Hausmusikszene herumgereicht, was meine Literaturkenntnisse wesentlich erweiterte. Ich spielte oft dreimal in der Woche Streichquartett. Vorzugsweise waren es Ärzte und Juristen, die regelmäßig das Streichquartettspiel pflegten. In der Regel spielte ich erste Geige; nur wenn mein Lehrer Váša Příhoda oder Willi Boskovsky mitwirkten, wechselte ich auf die zweite. Mit Rafael Kubelik spielten wir alle wichtigen Werke der Klavierkammermusik.

Friedrich Cerha

Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 29

Die Verbundenheit zu seinem Lehrer drückte Cerha in den späten 1940er Jahren auch kompositorisch aus – ein früher Beleg für die Untrennbarkeit seiner praktischen und erfinderischen Musikalität. Schon 1948 entstanden zwei Příhoda gewidmete Stücke für Violine und Klavier, die „zwischen französischem Neoimpressionismus und slawischer Schwermut“ angesiedelt sind. Cerha überarbeitete sie drei Jahre später und komponierte „einen völlig neuen Mittelteil […], der an den zentralen Abschnitt der „Slovénske melodie“ von Váša Příhoda erinnern sollte, freilich in modernerem Gewand.“Cerha, Begleittext zu Zwei Stücke für Violine und Klavier, AdZ, 000T0025/2.

L.: Váša Příhoda mit Geige, ca. 1921. R.: Cerha, Meditation und Altes Lied, Widmung im Manuskript, 1951

Links: Thomas A. Edison, Inc./Wikimedia Commons
Rechts: AdZ, 00000025/37

Cerha, Zwei Stücke für Violine und Klavier (I. Meditation, II. Altes Lied), 1948/51, AdZ, 00000025/38+47

Seine Reifeprüfungen in den Fächern Violine und Komposition legte Cerha 1953 ab. Bis in die 1960er Jahre hinein hielten sich beide Tätigkeiten in etwa die Waage, profitierten voneinander. In den Netzwerken der internationalen Avantgarde rückte auch für den Geiger Cerha die neueste Musik immer mehr in den Fokus.

 

Cerhas Reifezeugnis, Klasse für Violine, Akademie für Musik und darstellende Kunst Wien, 1953

Engagement für Neues und Altes

Als ich aus dem Krieg kam, war ich von einer ungeheuren Neugierde nach Musik besessen und verschlang täglich studierend gewaltige Mengen Literatur aus unserem Jahrhundert; dabei stieß ich auch auf die Geigenstücke von Webern. Innerlich damals noch weit weg von der Wiener Schule, war ich weniger fasziniert als erstaunt, dass es so etwas gab, fühlte mich zunächst einmal als Interpret herausgefordert und stellte mir die Frage: Wie macht man solche Musik verständlich, wie gelangt man dazu – eine Voraussetzung zur ersten Frage –, sie selbst zu erfassen, zu begreifen? Ich spielte die Stücke – wie viel an Musik, über die ich gern etwas erfahren wollte – Joseph Marx (ausgerechnet ihm!) vor. Er war nicht ablehnend, fand sie aber „zu stark gewürzt“, und im Hintergrund war ihm „zu wenig Fleisch“.

Friedrich Cerha

Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 170.

Cerhas erste Erfahrungen mit der Musik der Wiener Schule, speziell jener von Anton Webern, verdankten sich seinem Geigenstudium. Im sonstigen Umfeld der Akademie stieß sein Interesse an neuerer Musik jedoch nur auf wenig Interesse. Für die vorherrschend konservative Ausrichtung war Joseph Marx (mit-)verantwortlich, die Autoritätsperson im Wiener Musikleben schlechthin. Marx orientierte sich als Komponist an spätromantischen wie impressionistischen Stilen und konnte Cerha hier einige „wichtige Hinweise“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 50 mit auf den Weg geben, etwa auf Karol Szymanowski oder Alexander Skrjabin. Von der Wiener Schule hatte er jedoch nicht die leiseste Ahnung. Experten auf diesem Gebiet zu finden, erwies sich als kein leichtes Unterfangen. Cerhas „Tätigkeit als Geiger“ erhöhte allerdings seine „Chancen, zu ihnen zu stoßen“. Er geriet etwa an Hans Erich Apostel, einen Schüler Alban Bergs, oder an Josef Polnauer, der zu allen Komponisten der Wiener Schule engen Kontakt gepflegt hatte. „Er kam [..] immer wieder zu Proben, wenn ich Werke der Wiener Schule einstudierte und ich bekam von ihm – aus erster Hand gleichsam – zahllose aufführungspraktische Hinweise, zunächst als Geiger, später auch in der Arbeit mit dem Ensemble ‚die reihe‘“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 30.
Dem musikalischen Erbe der Wiener Schule widmete sich Cerha mit zunehmendem Eifer. Am zehnten Todestag Weberns (1955) veranstaltete die IGNM (Internationale Gesellschaft für Neue Musik) im Schubertsaal des Wiener Konzerthauses ein Gedenkkonzert. Cerha spielte unter dem Dirigat von Michael Gielen „alle Geigenparte“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 170. Ebenso erinnerungswürdig: ein öffentlicher Workshop während der Weltausstellung in Brüssel 1958. Hanns Jelinek, Schüler Schönbergs wie Bergs und erst seit jüngstem Dozent an der Wiener Musikakademie, unterrichtete im Österreichpavillon Werke der Wiener Schule und holte Cerha als Geiger hinzu. Dieser spielte dort „zwei Wochen jeden Tag Schönbergs Phantasie für Violine und Klavier op. 47, Weberns Vier Stücke für Violine und Klavier op. 7, dessen Bagatellen op. 9 und Jelineks immens schwierige Solosonate von 1956.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 31 Der Ansatz Jelineks, „aus der Analyse der Werke folgerichtig die aufführungstechnischen Konsequenzen“ abzuleiten, faszinierte Cerha und trug zur Vertiefung seines musikalischen Verständnisses als Interpret wie Komponist bei.

Friedrich Cerha und Hanns Jelinek, Weltausstellung Brüssel, Österreichpavillon, 1958

Arnold Schönberg, Phantasy for Violin with Piano Accompaniment op. 47, Exemplar im Privatbesitz Cerhas

Aufführungsdaten unbekannt.
AdZ, CER-S1-97T-26/29/47/50

Neben der Wiener Schule führte Cerha auch häufig Werke seiner Freunde und Komponistenkollegen auf. Bereits in der Musikakademie spielte er in den Kompositionsklassen verschiedener Lehrer, von Joseph Marx über Karl Schiske bis Otto Siegl. Zur Aufführung kamen neue Geigenstücke seiner Vertrauten: natürlich Hans Kann und Paul Kont, aber auch Gerhard Lampersberg, Kurt Schwertsik und Anestis Logothetis. Von Letzterem erarbeitete Cerha erstmals das Stück Integration (1956), ein Trio für Geige, Violoncello und Gitarre – noch hatte Logothetis hier mit konventioneller Notenschrift gearbeitet, bevor er sich später der grafischen Notation zuwandte (deren Interpretation beschäftigte Cerha in der Folge auch als Dirigent).
Etwa zur gleichen Zeit forderten auch die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik Cerha als Interpret heraus. Als deren Teilnehmer gab er dort 1956 ein Konzert mit neuer Geigenmusik aus Amerika. Gemeinsam mit John Cages ‚Hauspianist‘ David Tudor hob er ein Stück von Richard Maxfield aus der Taufe, einem Pionier der Elektronischen Musik.
In Darmstadt knüpfte Cerha außerdem Kontakte zu anderen Komponisten, für die er sich als Interpret engagierte. Der Italiener Sylvano Bussotti, ein Vertreter der musikalischen Grafik, widmete ihm das Stück Sensitivo (1959) für „ein Streichinstrument allein“ – Cerha bestritt die Uraufführung. Auch im Rahmen der einsetzenden Ensembletätigkeit der „reihe“ trat er hier und dort als Geiger in Erscheinung, etwa 1959 im dritten Konzert: Wieder im Duett mit Tudor performte er die Extensions 1 von Morton Feldman.

 

Sylvano Bussotti, Sensitivo, Ausschnitt aus Cerhas Exemplar mit handschriftlichen Eintragungen

So wie sich in Cerhas Schaffen oft Gegensätze ergänzen, gab es auch zum Engagement für die Neue Musik ein Pendant. Für weit zurückliegende Epochen begeisterte sich Cerha früh. Schon während seines Studiums besuchte er Kurse zur Barockmusik. Im Fokus stand italienische Musik „der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts“, einer Zeit des Aufbruchs. Anfang der 1950er Jahre begann Cerha mit eigenen Recherchen: Er suchte Bibliotheken in Bologna, Florenz, Rom wie Neapel auf und entdeckte dort längst vergessene Stücke. Von ihnen stellte er Abschriften her und spielte sie „auf einer Barockgeige“, oft „begleitet von Cembalo und Gambe“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 29 Das zunächst unverbindliche Musizieren fand 1960 zu neuer Form. Gemeinsam mit seiner Frau Gertraud als Cembalistin sowie weiteren Freunden gründete Cerha die „Camerata frescobaldiana“, ein Spezialensemble für „die ‚moderne‘ Musik der Jahrzehnte um 1600.“Markus Grassl, „Dialogo della musica antica e della moderna. Friedrich Cerhas Beziehung zur alten Musik – eine Bestandsaufnahme“, in: Lukas Haselböck (Hg.): Friedrich Cerha. Analysen – Essays – Reflexionen, S. 215-236, hier S. 224 Schon der Ensemblename verweist auf das Profil: Einerseits spielt er auf die Florentiner Camerata an, jenes Künstlerkollektiv, das an der Wiederbelebung der griechischen Antike interessiert war. Zum anderen inkludiert er den Namen Girolamo Frescobaldis, einem der virtuosesten und meistgespielten Komponisten seiner Zeit.
Das Ensemble musizierte vier Jahre lang regelmäßig im schönen Ambiente des Schlosses Belvedere“ – Vokal- und Instrumentalmusik in verschiedenen Besetzungen.Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 29 Dokumente aus Cerhas Schwerpunktphase als Interpret Alter Musik sind leider größtenteils verschollen.Vgl. Sabine Töfferl, Friedrich Cerha: Doyen der österreichischen Musik der Gegenwart, Wien 2017, S. 131 Einblicke gibt jedoch die ORF-Dokumentation Zu Gast bei Friedrich Cerha (1975). Hier erlebt man den Geiger aktiv in seinem Wiener . Begleitet wird er – selbstverständlich – von Gertraud Cerha am heimischen Cembalo.

Zu Gast bei Friedrich Cerha, Dokumentation, ORF 1975

Cerhas Beschäftigung mit alten Instrumenten ist facettenreich: Sie trug kompositorische Früchte, schulte seine Interpretationsgabe und erweiterte seinen musikhistorischen Horizont. Es interessierten ihn auch Fragen der Bauweise und spielerischen Voraussetzungen der damaligen Zeit. Aufschlussreiche Dokumente sind seine Zeichnungen von alten Bögen für „hohe Streichinstrumente“, die zur Sammlung alter Musikinstrumente des Kunsthistorischen Museums Wien gehören. Mit beinahe naturwissenschaftlicher Neugier reflektiert Cerha zeichnend konstruktive Details: Er vergleicht Proportionen, Material, Formen und Schwerpunkte. So entstand eine Studie, die seine Liebe zur Geige in einem weiteren Medium bezeugt.

Cerha, Zeichnungen alter Bögen für hohe Streichinstrumente, undatiert, AdZ, SCHR0009/3

Musik spielen, Musik erfinden – zwei Seiten einer Medaille

„Ich habe sie für mich geschrieben“ berichtet Cerha über die früh komponierten Violinstücke.Joachim Diederichs: Friedrich Cerha. Werkeinführungen, Quellen, Dokumente, Wien 2018, „200_c-violine“, S. 3 In der Tat künden die vielen Kompositionen für ‚sein‘ Instrument von der engen Verbindung zwischen Werk und Interpretation: Die meisten von ihnen (aus den 1940er und 50er Jahren) führte Cerha selbst erstmals auf. In der Summe scheint die Violine oft ein Katalysator zu sein: Neue Techniken oder Gedanken werden zunächst im bekannten Terrain erprobt, um im nächsten Schritt auf andere Besetzungen ausgeweitet zu werden.
Auch für den Anschub von Cerhas Laufbahn als Komponist ist die Geige verantwortlich. Das älteste, bis heute erhaltene Stück datiert aus dem Jahr 1935: ein Duo für zwei Violinen. Cerha komponierte es also im Alter von neun Jahren – wahrscheinlich spielte er es mit seinem Lehrer Anton Pejhovsky im Unterricht. 1937 folgten zwei Sonaten für Violine solo. Ihre Manuskripte haben sich jedoch nicht erhalten: Das erste ist verschollen, das zweite wurde später vernichtet, ein Schicksal, das viele Frühwerke ereilte.

Cerha, Duo für zwei Violinen, Mappe und erste Partiturseite, 1935, AdZ, 00000001

Die ersten ‚seriösen‘ Werke für sein Instrument schrieb Cerha mit Anfang 20. Seine drei Sonaten für Violine und Klavier markieren verschiedene Stationen einer lebhaften, künstlerischen Entwicklung. Die erste, ein „jugendlich-draufgängerisches Stück“, entstand kurz nach Kriegsende (1946/7).Joachim Diederichs: Friedrich Cerha. Werkeinführungen, Quellen, Dokumente, Wien 2018, „200_c-violine“, S. 3 Es deutlich von der Klangwelt des damals häufig aufgeführten Paul Hindemith. Einige Jahre später folgte die zweite Sonate (1953), die veranschaulicht, wie der Komponist zeitgleich unterschiedlichste Dinge aufsog. Hier finden sich Spuren von Strawinsky und Bartók, doch auch der österreichische Minimalismus um Paul Kont oder Elemente der Gregorianik lugen hervor. Die dritte Sonate (1954) verweist auf ein wieder anderes Feld. Nun ist es Cerhas Anliegen, eine „differenzierte Kontrolle der Funktion von Zwölftonbildungen“Begleittexte zu den Violinstücken, AdZ, TEXT0005/3 zu erlangen und gleichzeitig seinen „Willen zu klarer Zeichnung, zu scharfen Konturen“ innerhalb des neuen Idioms umzusetzen, ein für ihn typischer Balanceakt zwischen Konstruktion und Ausdruck.

Cerha, Sonaten für Violine und Klavier 1-3, Titelblätter der Manuskripte (jeweils Ausschnitt), 1946-1955

Von der Zwölftontechnik war kein weiter Weg mehr bis zur seriellen Musik. Wieder ist es die Geige, die den Abstand zwischen beiden Bereichen überbrückt. Als Antwort auf den ersten Besuch der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik entstanden in den Jahren 1956 und 57 zwei Werke für Violine und Klavier: Deux éclats en reflexion und Formation et solution. Sie sind Cerhas erste Arbeiten auf dem Gebiet der seriellen Komposition. Ihre Intentionen: Die „strukturelle Auflösung kompakter und sinnfälliger Zusammenhänge im Detail und ein Loskommen von einfach überschaubaren Großformen“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001,  S. 60. Trotz der fortschrittlichen Ausrichtung verarbeiten sie die avantgardistischen Techniken jedoch nicht dogmatisch, sondern begegnen ihnen mit kritischer Distanz.
Die Uraufführungen bestritt Cerha selbst. Im Kreis der IGNM Wien gab er die Deux éclats erstmals zum Besten, während er Formation et solution dem Publikum bei den Darmstädter Ferienkursen 1958 vorstellte. Neben ihrer Konstruktion beeindrucken beide Stücke durch ihre experimentelle Klanglichkeit. Besonders die Deux éclats en reflexion sind übersät mit „ungewöhnlichen Spielarten“, die, „bizarr im Klang“, eine Musik entstehen lassen, die „im Einzelnen unvorhersehbar“ istSchriften: ein Netzwerk, S. 221.

Cerha, Deux éclats en reflexion, Spielanweisungen für die Geige, 1957, AdZ, 00000047/4

Die progressiven Werke dokumentieren erneut Cerhas wirksame Personalunion: Das, was er am Instrument erprobte, fand unmittelbar Eingang in seine Musik. Für die von ihm entdeckten Klangeffekte interessierte sich auch György Ligeti. In Darmstadt bot sich ihm 1958 die Gelegenheit, Deux éclats und Formation erstmals zu hören, interpretiert vom Komponisten. Dieses  Erlebnis hinterließ Spuren: „Ich bewunderte Cerhas Stücke für Geige und Klavier […]. Darin gab es mehrere neuartige Zupftöne, einer klang hölzern, ein anderer summte insektenähnlich. Ich schrieb damals, 1958, gerade den ersten Satz meines Orchesterstücks Apparitions und verwendete darin mehrere dieser speziellen Cerhaschen Zupfklänge.“György Ligeti, „Ein wienerischer Untertreiber. Persönliche Betrachtungen zu Friedrich Cerhas sechzigstem Geburtstag“, in: Ders., Gesammelte Schriften, hgg. v. Monika Lichtenfeld, Mainz 2007, Bd. 1, S. 470-472, hier S. 470

Violine: Friedrich Cerha, Klavier: Ivan Eröd, Aufführungsdaten unbekannt.
AdZ, CER-S1-97T-26/29/47/50

Für lange Zeit blieben Deux éclats und Formation die letzten explizit für Geige geschriebenen Werke Cerhas. Zwar nahm das Instrument in manchen seiner Kompositionen eine Sonderstellung ein, etwa in Intersecazioni (1959) oder dem Konzert für Violine, Violoncello und Orchester (1975). Doch erst um die Jahrtausendwende widmete sich Cerha der Violine wieder mit stärkerer Konzentration. Die 1997 geschriebenen Sechs Stücke, dem Geiger Ernst Kovacic gewidmet, sind die ersten Solowerke seit seiner Kindheit. Nur einige Jahre später, beauftragt vom Pariser Wettbewerb „Marguerite Long-Jacques Thibaud“ schrieb er die Rhapsodie für Violine und Klavier, deren Einflüsse von Zigeunermusik bis zu Schönbergs Phantasy reichen (s.o.). „Schon während der Niederschrift“ drängten sich Cerha „Orchesterfarben“ auf.Joachim Diederichs: Friedrich Cerha. Werkeinführungen, Quellen, Dokumente, Wien 2018, S. 105 Ihre Umsetzung führten schließlich zu seinem ersten und einzigen Violinkonzert (2004). Drei Sätze formen es: Der erste ist aus der Rhapsodie entwickelt, erweitert sie um neue Elemente. Es folgt ein suggestives, ruhiges Nachtstück, wie es sich vielerorts in Cerhas Œuvre findet. Im Finale rapsodico werden die Gedanken verknüpft, erscheinen „in neuem Licht“Joachim Diederichs: Friedrich Cerha. Werkeinführungen, Quellen, Dokumente, Wien 2018, S. 107. „Die Rolle des Soloinstruments“, so Cerha, sei „keine eindimensionale. Sie wechselt stark und rasch. Die Geige tritt dem Orchester gegenüber oder führt das Stimmengeschehen im Orchester an, integriert sich vorübergehend oder geht ganz eigene Wege.“ In dieser Hinsicht entspricht der Violinpart dem Charakter des Komponisten: Beide lassen sich in keine Schublade stecken.

RSO Wien, Ltg. Bertrand de Billy, Ernst Kovacic (Violine), Produktion col legno 2006