Enjambements

SpielrÀume

Spiegel

Relazioni fragili

Friedrich Cerha, Ohne Titel

1998, Mischtechnik auf Spanplatte, 65,2 x 110 cm

Aufgefundene Objekte zu montieren: das bestimmt einen Großteil von Cerhas bildnerischem Werk. Oft ist hier die Balance zwischen Ordnung und Unordnung bedeutsam – so auch in einem Bild mit geometrisch angeordneten, monochrom ĂŒbermalten StĂ€ben. Das Verfahren der Durchbrechung lĂ€sst auch musikalische Assoziationen zu: etwa zu Cerhas Enjambements.

Foto: Christoph Fuchs

Sie waren Zeitgenossen mit ebenso vielen Gemeinsamkeiten wie Unterschieden:
Friedrich Cerha und Karlheinz Stockhausen.

Probe der „reihe“ zu Stockhausens „Kurzwellen“

Aus: Zu Gast bei Friedrich Cerha, Dokumentation ORF, Wien 1975

Die Archivaufnahmen aus den 1970er Jahren zeigen eine Probe der „reihe“ zur EinĂŒbung von Stockhausens Kurzwellen (1968). Cerha kontrolliert die AblĂ€ufe am Mischpult – ein seltenes Bild. WĂ€hrend das Kölner „Studio fĂŒr Elektronische Musik“ Karlheinz Stockhausen schon 1951 experimentelle Möglichkeiten bot, wurde ein solches in Wien erst sieben Jahre spĂ€ter als Teil der Musikakademie aufgebaut. Die kĂŒnstlerische Leitung wurde u.a. Cerha anvertraut, der 1963 den „Lehrgang fĂŒr Elektroakustische Musik“ einrichtete. In diesem Zuge holte er auch Stockhausens Musik nach Wien, nutzte sein Ensemble, um StĂŒcke des rheinischen Avantgardisten einzustudieren. Ihn hatte er bereits einige Jahre zuvor in Darmstadt kennengelernt. Ein musikalisches Zeugnis dieser persönlichen Verbindung gibt es ebenfalls: Das Ensemblewerk Enjambements entstand 1959 in einem von Stockhausens Kurse.

Außenansicht

Cerha mit Karlheinz Stockhausen (r.) und Bruno Maderna (l.)

Fotograf:in und weitere Daten unbekannt
AdZ, KRIT006/112

In den 1950er Jahren verzeichnete Cerhas persönliches Netzwerk den grĂ¶ĂŸten Zuwachs. Er lernte unzĂ€hlige internationale KĂŒnstler:innen kennen, grĂ¶ĂŸtenteils auf dem Parkett der DarmstĂ€dter Ferienkurse. Unter ihnen befanden sich Pierre Boulez, Luigi Nono, Sylvano Bussotti, György Ligeti, Krzysztof Penderecki, Franco Evangelisti „und viele andere.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 33 Zu einigen, etwa zu Boulez und Ligeti, intensivierte sich die Beziehung spĂ€ter, es entstanden wertvolle KĂŒnstlerfreundschaften. Andere Kontakte waren weniger langlebig, doch nicht minder nachhaltig. Die Begegnung mit Stockhausen, Darmstadts Galionsfigur, gehört dazu. Eine erste Wegkreuzung gab es schon in Wien: Auf Einladung der Universal Edition war Stockhausen einmal als international bekannter Komponist zu Gast und fand so auch den Weg zur österreichischen IGNM (Internationale Gesellschaft fĂŒr Neue Musik), bei der Cerha verkehrte. Die Begegnung war jedoch alles andere als selbstverstĂ€ndlich, denn Stockhausens Besuch zĂ€hlte zu den großen Ausnahmen: In Wien waren Vertreter:innen der Avantgarde nur selten prĂ€sent. So musste Darmstadt zum letzten „TĂŒröffner“ werden„Wenn wir nichts tun, geschieht gar nichts“. Friedrich und Gertraud Cerha im Interview, https://van-magazin.de/mag/friedrich-gertraud-cerha/ Wirklich warm lief die Beziehung zwischen Cerha und Stockhausen aber auch dort nicht. Ein Grund dafĂŒr mag in den unterschiedlichen Eigenarten beider Komponisten liegen. Mit Cerhas gelassen-zurĂŒckhaltenden, zugleich gesund misstrauischen CharakterzĂŒgen konnte der temperamentvolle und direkte Stockhausen anscheinend nicht viel anfangen: „Meine kritischen Fragen [haben ihn] so sehr irritiert, dass er bei meinem und seinem Freund Kurt Schwertisk Erkundigungen ĂŒber mich einzog“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 33, so eine Erinnerung. Schwertsiks offene und schelmische Art brach das Eis zwischen österreichischen und deutschen Fronten hingegen schnell: Über viele Jahre verband ihn mit Stockhausen eine besondere Beziehung – trotz merkbarer inhaltlicher Differenzen, die schon bald zu Tage traten. Als sein strittiges CollagenstĂŒck LiebestrĂ€ume 1961 in Darmstadt aufgefĂŒhrt wurde, warf ihm Stockhausen beim Applaus ironisch ein StĂŒck WĂŒrfelzucker zu. Darauf geschrieben: „Bitte beehren Sie uns bald wieder!“ Der sonst so ernste Stockhausen konnte also auch humorvoll sein.

BrĂŒcke

Historisch betrachtet gilt Stockhausen als ein zentraler Vertreter der seriellen Schule, dem höchste Kontrolle ĂŒber das musikalische Material und ein von subjektiven EinflĂŒssen befreiter Stil wichtig sind. In Darmstadt trat er fĂŒr seine Ideale ein: Musik zu schreiben geriet nun teilweise zu einem wissenschaftlichen Akt. Reihen und Matrizen, komplizierte Formschemata und mĂŒhevolle Skizzierungen gehörten zum Komponieren wie selbstverstĂ€ndlich dazu. Man war ĂŒberzeugt, mittels solcher Verfahren die Musikgeschichte konsequent fortzufĂŒhren, ausgehend von der Zwölftontechnik der Wiener Schule, insbesondere dem SpĂ€twerk Anton Weberns, das als Fixstern galt. Die verbreitete FortschrittsglĂ€ubigkeit verlief jedoch auf (zu) engen, geradlinigen Bahnen: Wann sich alternative Wege vom „orthodoxen FrĂŒhserialismus“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 222 abzweigen, schien nur eine Frage der Zeit zu sein. Mitte der 1950er Jahre mehrten sich die kritischen Stimmen. Vom „Altern der Neuen Musik“ sprach Theodor W. Adorno bereits 1954. Drei Jahre spĂ€ter schließlich hielt Pierre Boulez in Darmstadt seinen geschichtstrĂ€chtigen Vortrag „Alea“. Hier klagt er (der selbst zu den fĂŒhrenden ‚Serialisten‘ gehörte) den verbreiteten „Fetischismus der Zahl“ an, die aktuelle Tendenz „zur vollkommensten, spiegelglatten, unantastbaren ObjektivitĂ€t.“Pierre Boulez, „Alea“, in: Rainer Nonnenmann (Hg.): Mit Nachdruck. Texte der DarmstĂ€dter Ferienkurse fĂŒr Neue Musik, Mainz 2010, S. 173-185, hier S. 174 Sein Gegenvorschlag: Äußerste Kontrolle solle dem sparsam dosiertem Zufall weichen. Das Werk mĂŒsse „eine gewisse Anzahl möglicher Fahrbahnen bieten, und zwar vermittels sehr prĂ€ziser Vorkehrungen, wobei der Zufall die Rolle einer Weichenstellung spielt, die im letzten Augenblick eintritt.“ In Anlehnung an das Wort „Alea“ fĂŒr „WĂŒrfel“ zirkulierte schnell ein neuer Fachbegriff: Unter Aleatorik verstand man all jene AnsĂ€tze, die zufĂ€llige Komponenten in das Schreiben von Musik miteinbezogen. Stockhausen und Boulez komponierten unter neuen Vorzeichen jedoch weiter seriell. Nur die „Weichen“ zwischen streng organisierten Modulen sollten flexibler gemacht werden – es entstanden Labyrinthformen durch dicht strukturierte Gebilde.
Um die dogmatische OberflĂ€che in Darmstadt vollends aufzubrechen, bedurfte es eines Anregers von außen. Er kam in Gestalt des Amerikaners John Cage. In seiner Figur personalisierte sich ein radikaler Gegenentwurf zur DarmstĂ€dter Schule. Zufall begriff Cage nicht bloß als Schmiermittel zwischen einem penibel konstruierten Getriebe. Er sollte zum Kern schlechthin werden. Konsequenterweise nutzte Cage das Orakelbuch I Ging, um seine Musik auszuarbeiten, er warf MĂŒnzen, schwĂ€rzte Unebenheiten auf Papier oder arbeitete mit grafisch mehrdeutigen Zeichen. Die radikale Freiheit als Teil der Musik stieß beim Publikum jedoch grĂ¶ĂŸtenteils auf UnverstĂ€ndnis. Entsprechende Erfahrungen machte auch Cerha, als er 1959 im dritten Konzert mit der „reihe“ Cages Klavierkonzert auffĂŒhrte, nebst aleatorischen Werken von Sylvano Bussotti und Cornelius Cardew. Die Wiener Presse verriss das Konzert, ja verunglimpfte die aufgefĂŒhrten Komponisten als Scharlatane. Aleatorik entwickelte sich wie der Serialismus zu einem Reizwort, pauschal der Substanzlosigkeit verdĂ€chtigt.

 

Programmheft, Ensemble die reihe, 19.11.1959, AdZ, KRIT008

Rezensionen der Wiener Presse zum ersten Aleatorik-Konzert der reihe, AdZ, KRIT008

Cages erstmaliges Auftreten in Darmstadt erlebte Cerha bei seinem zweiten Besuch der Ferienkurse hautnah mit. Seine Erinnerungen schildern die Impulskraft des Amerikaners in einem ideologischen Umfeld, fĂŒhren aber zugleich vor Augen, welche Spuren die Zufallspoetik in seiner eigenen kompositorischen Haltung hinterließ:

Von entscheidender Bedeutung war neben der Auseinandersetzung mit der jungen europĂ€ischen Avantgarde und ihren Ideen fĂŒr mich natĂŒrlich die Begegnung mit John Cage. In das streng seriell orientierte Darmstadt ist er 1958 wie ein Elementarereignis hereingebrochen. Die Wirkung seiner locker-hedonistischen Persönlichkeit hatte dort etwas ungeheuer Befreiendes an sich. Mich hat sein Vortrag „Lecture on nothing“ nachdenklich gemacht; die fernöstlichen Quellen seiner mentalen Haltung waren mir gleichwohl seit langem bekannt und vertraut. Letztlich hat er aber bei mir – im Unterschied zu Stockhausen etwa – keine wesentliche Änderung in meinen Einstellungen zu Kunst und Leben oder in meinem kompositorischen Denken bewirkt. Ich verdanke ihm hingegen etliche Anregungen, neue musikalische Konzepte adĂ€quat aufzeichnen zu lernen und mir in der Folge im weitgespannten, vielfĂ€ltigen Feld von „aleatorischen“ Arbeiten mögliche praktische Lösungen und grundsĂ€tzliche Positionen bewusst zu machen.

Friedrich Cerha

Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 35

Anders als im Fall Stockhausens hielt Cerha zu Cage auch in den Jahren nach ‚Darmstadt‘ Kontakt – Cage reiste mehrmals nach Wien, um dort eigene StĂŒcke aufzufĂŒhren, u.a. wurde sein Atlas eclipticalis durch Merce Cunninghams Ballettgruppe im Museum des 20. Jahrhunderts vertanzt.Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 36. Als Komponist konnte Cerha sich mit der „New York School“, zu der neben Cage auch auch Earle Brown, Morton Feldman, David Tudor oder Christian Wolff gehörten, allerdings wenig identifizieren. In der kompositorischen Erkundung aleatorischer Möglichkeiten stand er bezeichnenderweise Stockhausen, der ein differenziertes Wechselspiel zwischen Freiheit und Kontrolle anstrebte, deutlich nĂ€her.

In seinem Kompositionskurs habe ich 1959 begonnen, ein StĂŒck zu entwerfen, das – wie ĂŒblich – am Ende durch das dort vorhandene Ensemble aufgefĂŒhrt werden sollte. Meine Vorstellungen waren aber bezĂŒglich der rein technischen Seite sehr kompliziert und das Ergebnis dieser kurzfristigen Arbeit auch noch fĂŒr mich selbst zu unbefriedigend. So ist es nicht dazu gekommen und das Projekt hat mich den Rest des Jahres weiter intensiv beschĂ€ftigt; das Ergebnis waren meine Enjambements fĂŒr sechs Spieler, die ich dann 1961 auf Einladung von Pierre Boulez mit seinem Ensemble Domanine musicale in Paris uraufgefĂŒhrt habe.

Friedrich Cerha

Cerha, Begleittext zu Enjambements, AdZ, 000T0053/2

Innenansicht

Lothar Knessl, „Musik mit austauschbaren Bestandteilen“, Zeitung unbekannt, Januar 1961 AdZ, KRIT008/88

1959, das Jahr in dem Cerha die Komposition seiner Enjambements anging und letztmals an den Ferienkursen fĂŒr Neue Musik teilnahm, war das Programm in Darmstadt von den Anregungen der Aleatorik noch deutlich geprĂ€gt. John Cage war zwar nicht persönlich anwesend, seine Werke und Ideen jedoch prĂ€sent. Auch Stockhausen hatte sich inzwischen mit aleatorischen Prinzipien auseinandergesetzt. Sein SchlagzeugstĂŒck Zyklus dominierte das Programm und wurde mehrmals aufgefĂŒhrt, u.a. als PflichtstĂŒck im „Wettbewerb um den Kranichsteiner Musikpreis.“Gianmario Borio und Hermann Danuser (Hgg.): Im Zenit der Moderne, Bd. 3, Freiburg i.B. 1997, S. 599 Erstmals brachte es Christoph Caskel zu Gehör, mit dem sich Cerha anfreundete. Er kam im Januar 1961 auch nach Wien, um im Rahmen der „reihe“-Konzerte die österreichische ErstauffĂŒhrung von Zyklus auf den Weg zu bringen. FĂŒr Stockhausens VerstĂ€ndnis der Aleatorik ist das Werk symptomatisch. Das StĂŒck erkundet Verbindungen zwischen „dem ganz Determinierten und dem extrem Freien.“Karlheinz Stockhausen, WerkeinfĂŒhrung zu Zyklus, https://www.universaledition.com/karlheinz-stockhausen-698/werke/zyklus-5874 Eine Interpretation erfordert also mehr als konventionelles Einstudieren. 

 

O.A., „Vierzehn Koffer SchlaggerĂ€t – das war dem Zoll zuviel“, Neues Österreich, 19.1.1961, AdZ, KRIT0008/89

Der Balanceakt zwischen Festlegung und Zufall war gegen Ende der 1950er Jahre ein brandaktuelles Thema in Fachkreisen. Zum Gegenstand wurde er auch in Stockhausens Kursen in „praktischen KompositionsĂŒbungen“, die er unter Mitwirkung dreier Interpreten gestaltet: Christoph Caskel (Schlagzeug), Severino Gazzelloni (Flöte) und David Tudor (Klavier). „Jeder Teilnehmer hatte sein eigenes Zimmer, in dem er ungestört arbeiten konnte“, erinnert sich Cerhas Freund Kurt Schwertsik, der ebenfalls am Kompositionsseminars teilnahm.Kurt Schwertsik, Was & wie lernt man?, Wien 2020, S. 102 „Stockhausen besuchte jeden Tag alle Studenten in ihren Zimmern, um den Fortgang der Arbeit zu beobachten und zu kommentieren.“ Am letzten Tag der Ferienkurse kamen die entstandenen Werke zur UrauffĂŒhrung – moderiert von Stockhausen. Alle prĂ€sentierten Kompositionen waren auf das Instrumentarium Schlagwerk, Flöte und Klavier beschrĂ€nkt. Das erklĂ€rt, weshalb Cerhas Enjambements damals nicht zur AuffĂŒhrung kamen. Zwar sind Flöte und Schlagzeug Bestandteil des Ensembles, doch die Besetzung wucherte wĂ€hrend des Arbeitsprozesses aus. Zwei Blechblasinstrumente (Trompete und Posaune) und zwei Streicher (Violine und Kontrabass) ergaben ein Sextett.
Die Endfassung der Partitur beschĂ€ftigte Cerha bis ins Jahr 1960 hinein. Ein Grund fĂŒr die akribische Ausarbeitung liegt in der neuartigen Niederschrift der aleatorischen Musik. Bis dato hatte Cerha keinerlei Zufallskomponenten in seine Werke einfließen lassen. Enjambements sind das erste und zugleich radikalste Werk dieser Art. I
n zeitnah entstandenen Kompositionen wie Intersecazioni oder den Spiegeln ist Aleatorik lediglich ein episodisches, am Rande wirkendes Gestaltungsmittel. Die Partitur der Enjambements hingegen verschreibt sich dem Zufall in multidimensionaler Hinsicht. Sie ist nicht linear zu lesen, sondern besteht aus mehreren BlÀttern, die zeitlich zu koordinieren sind. Die Konstituenten und die Mechanik der Komposition lassen sich am besten mittels einer Spielbeschreibung erklÀren.

Die Spielregeln

Miteinander spielen in Enjambements zwei Parteien: Die erste Gruppe besteht aus Flöte, Violine und Schlagwerk, die zweite aus Trompete, Posaune und Kontrabass. Beide Gruppen haben unterschiedliche Funktionen inne. Die erste folgt wesentlich stĂ€rker als die zweite vorgegebenen, musikalischen Gebilden. FĂŒr sie sind „zwölf Strukturen“ auf einzelnen BlĂ€ttern notiert. Die HĂ€lfte dieser BlĂ€tter ist „weitgehend determiniert“, in der anderen HĂ€lfte „sind Tonhöhen- und ZeitverhĂ€ltnisse nicht exakt fixiert.“Cerha, Begleittext zu Enjambements, AdZ, 000T0053/3 Wie die zwölf Strukturen genau aufeinanderfolgen, stellt Cerha frei – der Ablauf wird „fĂŒr jede AuffĂŒhrung vom Dirigenten im Einvernehmen mit den Interpreten festgelegt, – mit der EinschrĂ€nkung, dass auf jede Struktur der ersten Gruppe je eine aus der zweiten Gruppe folgen muss und bestimmte ZĂ€survorschriften bestehen.“
Seine Unvorhersehbarkeit und Spannung erhĂ€lt das StĂŒck schließlich durch das Ineinandergreifen des ersten Trios mit dem zweiten. Die ĂŒbrigen Instrumente sind in ihrem Spiel gewissermaßen von dem situativen Geschehen abhĂ€ngig, wie Cerha erlĂ€utert:

Cerha, Begleittext zu Enjambements (I), Typoskript, undatiert, AdZ, 000T0053/3

Das interpretatorische Prinzip ‚Aktion – Reaktion‘ bestimmt maßgeblich das Spiel von Trompete, Posaune und Kontrabass. AblĂ€ufe im Einzelnen hĂ€ngen jedoch nicht in der Luft, sondern folgen wiederum einem genauen Plan. Auf jeweils einem Blatt sind musikalische Aktionen dreier Sorten notiert. Sie begreifen Stichnoten und klangliche Kurzbeschreibungen der anderen Instrumente mit ein. Was auch an Klangaktion geschieht – immer muss reagiert werden. Geantwortet werden kann auf Signale des eigenen Trios (Szenario 1) oder des anderen. Wird auf das andere reagiert, so können die eigenen Klangaktionen wiederum Auslöser fĂŒr andere (Szenario 2) oder isolierte Einzelaktionen sein (Szenario 3). Je nachdem, wie die Strukturen des ersten Trios angeordnet sind, ergeben sich so viele Varianten ein- und desselben StĂŒcks. Seine Form ist grundsĂ€tzlich offen und auch die Spieldauer variabel (sie schwankt gewöhnlich zwischen 10 und 16 Minuten). Cerha betont jedoch, dass alles Notierte möglichst zu spielen sei. Nur Wiederholungen sollten vermieden werden.

Cerha, Enjambements, Blatt fĂŒr die Trompete, Ausschnitt, ca. 1960, AdZ, 00000053/16

Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha

Die Elemente

Prinzipien der Aleatorik lösen sich nicht nur im Großen durch die mobilen ‚Bauteile‘ der Komposition ein. Auch im Detail sind Freiheiten angelegt. Besonders in den BlĂ€ttern des ersten Trios (Flöte, Violine, Schlagwerk) ist nicht alles festgelegt. Allein die Tatsache, dass kein fĂŒr alle verbindliches Metrum existiert, verflĂŒssigt die VorgĂ€nge. Die Strukturen des ersten, determinierten Typs (BlĂ€tter A1 – F1) werden jedoch dirigiert. Es gibt hier in jeder Stimme eigene Taktmodule. Ziffern ĂŒber ihnen geben an, in wie vielen SchlĂ€gen das Notierte gespielt werden soll. Ein besonderes Stilmittel von Cerhas Notation ist die weitgehende Befreiung der Noten von ihren HĂ€lsen. Damit wird angezeigt, dass es keinen strengen Rhythmus gibt. Stattdessen entsprechen die ZeitverhĂ€ltnisse ziemlich genau der rĂ€umlichen Ausdehnung auf dem Notenblatt – ein Vorgriff auf die proportionelle Notation, wie sie sich in Fasce oder Spiegel findet.

Cerha, Enjambements, Blatt E1, Ausschnitt, ca. 1960, AdZ, 00000053/12

Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha

Noch grĂ¶ĂŸere Freiheiten beherrschen die BlĂ€tter des zweiten Typs (A2 – F2). Die Notenschrift ist hier viel stĂ€rker von grafischen QualitĂ€ten bestimmt. Tonhöhen und Rhythmen sind nur angedeutet, Unterteilungen durch Taktstriche fehlen gĂ€nzlich. Bei einer Interpretation gilt es dennoch, sich an den rĂ€umlichen VerhĂ€ltnissen auf dem Papier zu orientieren, dem einzigen ‚Wegweiser‘ durch die Zeit. Die Klangereignisse auf diesen BlĂ€ttern entsprechen einem Konzept der Aleatorik, das sich Ende der 1950er Jahre weit verbreitet hatte. Unter dem Schlagwort „Indetermincy“ wurde es besonders von Pierre Boulez und John Cage popularisiert. Letzterer hielt 1958 in Darmstadt einen Vortrag mit gleichnamigem Titel.Gianmario Borio und Hermann Danuser (Hgg.): Im Zenit der Moderne, Bd. 3, Freiburg i.B. 1997, S. 592 Verquickt wurden seine AusfĂŒhrungen mit einer anschließenden Performance seines StĂŒcks Variations I – dieses setzt die grundlegende Idee radikal um. Nur Striche und Punkte auf ĂŒbereinander zu legenden TransparentblĂ€ttern geben das völlig unbestimmte Material vor. Cerha wĂ€hlt im Vergleich einen Mittelweg: Seiner Notation sind konkrete Gesten und Klangvorstellungen deutlich zu entnehmen. Dennoch lĂ€sst sie fĂŒr die Interpretation allerhand offen.

Cerha, Enjambements, Blatt D2, Ausschnitt, ca. 1960, AdZ, 00000053/11

Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha

Das Ziel

Cerha, Enjambements, Skizzen fĂŒr die Violinstimme, ca. 1960

Wie viele aktuelle PhĂ€nomene, die Cerha aufgreift, lĂ€sst auch seine BeschĂ€ftigung mit der Aleatorik EigenstĂ€ndigkeit erkennen. Die Enjambements können als Widerstand gegen modische Folgsamkeit gelten. Erstaunlicherweise Ă€hneln seine Erkundungen der Aleatorik denjenigen des Serialismus. Die neuen AnsĂ€tze werden in beiden FĂ€llen kritisch reflektiert. Hier wie dort bleiben innere musikalische Vorstellungen die oberste Maxime. Die neuen AnsĂ€tze werden in beiden FĂ€llen kritisch reflektiert. Hier wie dort bleiben innere musikalische Vorstellungen die oberste Maxime. Das „Ordnen von Vorgestelltem“, der „Wille zu Ausdruck und Form“ sind wichtiger als der „Wille zur Befreiung“.Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 223 Dieses Prinzip erscheint gerade angesichts der avantgardistischen Techniken bedeutsam. Obwohl hochgradig verschieden neigen sowohl der Serialismus als auch die Aleatorik dazu, das komponierende Subjekt auszuschalten, Persönliches zu Gunsten des Sachlichen und Über-Individuellen zu unterdrĂŒcken. Wie die Enjambements deutlich zeigen, umgeht Cerha derartige Stolperfallen. Eine farbige Klangsinnlichkeit dominiert das Werk. Insbesondere der extensive Gebrauch von erweiterten Spieltechniken (allein fĂŒr die Violine gibt es vier Arten des Pizzicato-Spiels) bereichert die jederzeit durchhörbare, transparente OberflĂ€che. „Profilierte Gestalten“, so wie Cerha sie in seinen seriellen StĂŒcken herausarbeitete, gibt es auch in diesem Ensemblewerk. Sie sind jedoch elastisch, einer formbaren Knetmasse vergleichbar. Zufall erweist sich eher als Komponente der Interpretation als der Komposition. Der aleatorische Entwurf fordert die Imagination insgesamt stĂ€rker heraus als ein konventionell notierter. Doch legte Cerha klangliche Varianten fest, indem er fĂŒr das Trio verschiedene Szenarien von Dynamik und Tempo ausarbeitete – er komponierte Charaktere mulitperspektivisch mitVgl. Cerha, Begleittext zu Enjambements, AdZ, 000T0053/3  Im Bereich der Klangimagination steht Cerha Stockhausen nĂ€her als Cage. WĂ€hrend Letzterer den Klang ohne bedeutungsaufladenden Hintersinn quasi in Reinform existieren lassen wollte, ging Ersterer von der Kraft persönlicher Vorstellungskraft aus: Das innere Hören sollte die Voraussetzung fĂŒr das Komponieren sein.
Auch fĂŒr die Spieler:innen von Cerhas Enjambements ergibt sich kein völliger Freiraum. Mehr als sonst mĂŒssen sie mit offenen Ohren spielen, gewissermaßen nach links und rechts hören, um Signale fĂŒr das eigene Spiel orten zu können. So entsteht eine kommunikative Musik, die auch dem Werktitel nachspĂŒrt: Die Idee des Enjambements, also des Zeilensprungs wie er sich in Gedichten findet, lĂ€sst sich im Großen und Kleinen aufdecken. Als poetische Zeilen oder Verse lassen sich beispielweise die einzelnen BlĂ€tter verstehen, zwischen denen BrĂŒche und ZĂ€suren bestehen. Die Reaktionen des zweiten Trios hingegen brechen die KontinuitĂ€t des ersten Trios auf, sodass kein ungetrĂŒbter Klangfluss entsteht. Selbst die eigenen Reaktionen mĂŒssen zuweilen unterbrochen werden, wenn zeitgleich ein anderes Signal ertönt, um wiederum auf dieses zu reagieren. Seinen konzeptionellen Kerngedanken fasst Cerha zusammen:

Cerha, Begleittext zu Enjambements (II), Typoskript, undatiert AdZ, 000T0053/3+4

Schatztruhe