Monumentum

Weißt du, dass die Bäume reden?

Monumentum

Kreuzweg

Exercises

Baal

Baumgruppe im zentralsibirischen Botanischen Garten

Auch Bäume sind soziale Wesen – schaut man von unten in ein Blätterdach, so sind mancherorts merkwürdige Abstände zwischen den einzelnen Baumkronen erkennbar; dieses Phänomen nennt sich „Crown shyness“. Die ‚höfliche‘ Distanz ist ein Anzeichen für die sich im Geheimen abspielende Verständigung der gigantischen Lebewesen.

Bildquelle: Vladislav Nekrasov / Wikimedia Commons

Aus der Feder von Karl Prantl stammt eine der bedeutendsten wissenschaftlichen Abhandlungen über die Botanik:
In sage und schreibe 23 Bänden entflechtet das Werk Die natürlichen Pflanzenfamilien die Mysterien der Vegetation.

Aus: Karl Prantl und Adolf Engler, Die natürlichen Pflanzenfamilien, 1887-1909.

Bildquelle: Internet Archive Book Images / Flickr

Was in Prantls Buchbänden zur Sprache kommt, hat mit Musik nur wenig zu tun. Und obwohl Karl Prantl einer der wichtigsten Künstler im Kreis Friedrich Cerhas ist, führt die vielversprechende Fährte in die Irre – denn beim Autor der großen Pflanzenenzyklopädie handelt es sich um einen Namensvetter des österreichischen Bildhauers, mit dem Cerha eine tiefe Freundschaft verband. Der Botaniker Karl Anton Eugen Prantl wurde 1849 in München geboren, während der Bildhauer Karl Prantl 1923 im österreichischen Pöttsching das Licht der Welt erblickte. Dennoch scheinen sich hier unterschwellig Mentalitäten zu berühren – denn für die Darstellungen der verästelten Wurzelsysteme, Sprösslinge, Zweige und Zellen hätte sich nicht nur Cerha, sondern auch sein Bildhauer-Freund interessiert.

Außenansicht

Im südlichen Afrika gibt es eine Pflanzengattung, die auf den ersten Blick kaum als eine solche identifizierbar ist. Ihr botanischer Name „Lithops“ setzt sich aus den griechischen Wörtern λίθος („lithos“, für „Stein“) und ὅψις („opsis“, für „Aussehen“) zusammen und verrät damit bereits viel über das Erscheinungsbild des skurrilen Gewächses. „Lebende Steine“ werden die Pflanzen im Volksmund auch genannt – nicht nur, weil sie selbst Steinen zum Verwechseln ähnlichsehen, sondern auch, weil sie zwischen diesen gedeihen und sich so tarnen. 

„Lebende Steine“ der Gattung „Lithops karasmontana subsp. Eberlanzii“ in einer Felslandschaft.

Die landläufige Wortschöpfung wirkt allein deshalb bizarr, weil Steine und Pflanzen vermeintliche Gegensätze bilden – obwohl beiderseits Erzeugnisse der Natur, sind sie ebenso grundunterschiedlich: Härte und Massivität zeichnet die eine Seite aus, Elastizität und Wachstum die andere, ja, noch pointierter ließe sich bemerken: Tod dort, Leben hier. Cerhas Freund Karl Prantl, der sein Leben der Gestaltung von Steinen widmete, würde sich dieser Erkenntnis wohl nicht anschließen. Für ihn ist auch der Stein ein Lebewesen – in der Eröffnung des Dokumentarfilms Die Steinspur gewinnen diese Gedanken an Profil:

Die Steinspur – Karl Prantl, Regie: Robert Neumüller, 2002, 45 Min

Folgt man Prantls Gedankenstrang, so gelangt man zu einer wesentlichen Erkenntnis über sein Weltbild: Es gibt keinen Gegensatz zwischen dem, was existiert, sondern nur eine Dauer: Die Dauer des Verbleibens auf der Welt:

Zuerst ist der Stein, dann der Baum, und dann, irgendwann, dann erst kommt der Mensch. Umgekehrt ist es genauso. Ich bin der Nächste, der gehen wird. Dann die Bäume, die wir im Garten gesetzt haben, die Kirsch- und Nussbäume. Und irgendwann vergeht auch der Stein. Zerbröselt. Wird zu Erde.

Karl Prantl

Dankesrede anlässlich der Verleihung des großen österreichischen Staatspreises 2008, zitiert von Andrea Schurian in: Der Standard, 26.11.2008, http://www.andreaschurian.at/der-standard/karl-prantl-kein-kraftemessen-mit-dem-stein/andrea-schurian/

Zwischen dem Stein als Urzeitwesen und dem Menschen als nur kurzweiligem Geschöpf nimmt der Baum in Prantls künstlerischer Philosophie die Rolle eines Verbindungsgliedes ein. Er verbindet Beständiges, Robustes mit Veränderlichem, Regsamem. Statik und Entwicklung sind die beiden in ihm wohnenden Pole, die sich dennoch nicht gegenseitig ausschließen. In genau diesem Spannungsverhältnis gedeiht ein Gebiet, das Cerha als Komponist in den Bann zog. Zu Monumentum, dem ersten, Prantl gewidmeten Stück äußert er entsprechend:

Ich empfinde die Hektik, die Erregtheit in vielen Formen von Musik unserer Zeit als sinnlos. Prantl hat einmal gesagt: Kunst ist Hilfe. Die konzentrierte, einfache Ruhe und Kraft seiner Steine war für mich eine Hilfe, die Sprache des Monumentum zu finden. Ich verstehe es als Dank und wäre glücklich, wenn ich damit Hilfe weiterreichen könnte.

Friedrich Cerha

Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 257

Brücke

"Weißt du, dass die Bäume reden", aufgeschlagenes Exemplar Friedrich Cerhas

Foto: Christoph Fuchs

Eine tief empfundene Liebe zur Natur ist wohl die größte Gemeinsamkeit zwischen Prantl und Cerha. Prantl erwählte die Bearbeitung von Steinen als sein künstlerisches Tätigkeitsfeld, weil es den ständigen Kontakt mit der Natur bedingt. Seine Steine sind deshalb auch nicht dafür geschaffen, in einer sterilen Umgebung ausgestellt zu werden, sondern beziehen den natürlichen Umgebungsraum selbst als Teil des Kunstwerks mit ein: Kunst wird so zu einem Gestaltungselement der Landschaft. Ob das raue, ungestüme Milieu des Steinbruchs in St. Margarethen, die saftige Wiesenlandschaft des Pöttschinger Feldes oder die karge Wildnis der israelischen Wüste Negev – Farbe, Form, Oberfläche und Charakter von Prantls Steinen sind ihren Umgebungsräumen stets symbiotisch angepasst. Die sinnliche Erfahrung der Landschaft fasst der Bildhauer in der Folge auch als wesentlich für den Betrachter auf: „Es ist anders als in Museen: die Begegnung mit so einem Stein in der Landschaft zeigt anderes Erleben: man erlebt auch den Baum, das Gras, das Moos und die Wolken.“Karl Prantl, zitiert in: Wolfgang Hartmann und Werner Pokorny (Hg.): Das Bildhauersymposium. Entstehung und Entwicklung einer neuen Form kollektiver und künstlerischer Arbeit, Stuttgart 1988, S. 121.
Die ganzheitliche Naturerfahrung ist es auch, die eine tiefliegende Inspirationsquelle für Cerha bildet, nicht nur in menschlicher, sondern ebenso in künstlerischer Hinsicht. Verbunden damit ist auch ein innerer Standpunkt: Genau wie Prantls Steine „aus dem Staunen und der Demut vor der Schönheit und Fülle der Natur“Marlen Dittmann, Rede anlässlich der Verleihung des Sparda-Bank-Preises für besondere Leistungen der Kunst im öffentlichen Raum im Kurfürstlichen Schloss Mainz am 3. Mai 2007, https://www.karlprantl.at/biografie entstehen, so fasst auch Cerha seine Haltung zum Kunstwerk an sich als eine demütige auf:

Und noch etwas – meine ich – verbindet uns bei aller Klarheit über die Bedeutung des analytischen Instrumentariums: Die Demut vor der Unbegreifbarkeit, der Unerklärbarkeit des Schöpferischen, des wirklichen Kunstwerks. Diese Demut (welch unaktueller Begriff!) ist in einer Zeit, die das Kunstwerk in großem Stil als Ware handelt und in der der Einzelne – vor allem der „Professionelle“ – diesem Kunstwerk oft überheblich-kalkulatorisch gegenübersteht, selten geworden.

Friedrich Cerha

Schriften – ein Netzwerk, Wien 2001, S. 256.

Das Mysterium der Kunst und der Natur als prinzipiell gleichartige Erfahrungen sind Kerne des Cerha’schen Denkens. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sich beide Bereiche gegenseitig durchdringen. Zu seiner Zeit in den Trioler Alpen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg bemerkt Cerha: „Ich habe mich in einem Leben mit und in der Natur unendlich wohl gefühlt und viel erfahren, was wahrscheinlich für mich als Komponist von entscheidenderer Bedeutung war als manches andere.“Schriften – ein Netzwerk, Wien 2001, S. 59. Spuren in der musikalischen Imagination hinterlassen Cerhas Erlebnisse vor allem in der Vorliebe für den „prozesshaften Wandel“, eine „Denkart, die aus seinen Naturbeobachtungen gespeist sein mag“Lothar Knessl, „Versuch, sich Friedrich Cerha zu nähern“, in: Schriften – ein Netzwerk, Wien 2001, S. 12., so Lothar Knessl. Zu trennen sind derartige Beobachtungen jedoch nicht von der allgemeinen Wachsamkeit Cerhas gegenüber zahlreichen Phänomenen der Welt – einer hellen Aufmerksamkeit für alles, was ihn während seines Lebens umgeben hat. Aus dieser Wertschätzung gegenüber allem – sogar dem scheinbar Wertlosen – ergibt sich eine multidisziplinäre Wahrnehmung von Erscheinungen, die auf verschiedenen Gebieten Verwandtes, Ähnliches zeigen. Musik ist von dieser Warte betrachtet nur eines von mehreren Medien, in der ein Phänomen seinen Ausdruck finden kann.

Cerhas Interessensbekundung an pflanzlichen Wurzelsystemen spannt den Bogen zu Prantls Widmungsstück Monumentum. Besonders ein Teil des Stücks schält sich dabei heraus: Der Schluss. Das neunteilig untergliederte Werk widmet jeden Abschnitt einer Steinskulptur Prantls – eine Ausnahme macht dabei der letzte, benannt Verzweigungen. Der suggestive Titelzusatz „Weißt du, dass die Bäume reden“ spielt auf ein vom Verlag Herder in den 1980er Jahren veröffentlichtes Buch mit indianischen Weisheiten und Sprüchen an. Eine Ausgabe dieses Buchs entdeckte Prantl zu dieser Zeit in einer Buchhandlung. Er berichtete Cerha mit großer Euphorie von seinem Fund – und Cerha nahm die Anregung schließlich für Monumentum auf. Obwohl sich die Idee des letzten Abschnitts zunächst losgelöst von Prantls Steinen entfaltete, verband sie sich schlussendlich doch noch mit einer konkreten Plastik auf schweizerischem Gebiet:

Weißt du, dass die Bäume reden,
Cerhas privates Exemplar

Erst als Monumentum längst fertig war, habe ich Abbildungen von Prantls Stein in Richisau kennengelernt, an dem er 1981-1985 gearbeitet hat. Dieser Stein liegt inmitten von uralten Bergahornen, deren Formen wie eine „Verbildlichung“ des letzten Abschnitts von Monumentum auf mich wirkten.

Friedrich Cerha

Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 257

Cerha, Begleittext zu Monumentum, Manuskript, 1989, AdZ, 000T0097/7

Innenansicht

Karl Prantl, Der Stein im Richisau, Blautöniger Bahia-Granit (Brasilien), 110 x 165 x 170 cm, Alp im Klönal (Kanton Glarus, Schweiz), 1981-1985

Fotos: Rolf Schroeter

Die Faszination, mit der Cerha seine komponierten Verzweigungen in Einklang mit Prantls Stein in Richisau brachte, geht vom besonderen Verhältnis der Skulptur zu seiner Umgebung aus. Ein Hain alter Bergahorne bildet den Schauplatz. Zwischen den Bäumen bahnt sich der Fluss Chlön seinen Weg durch eine Wiesenlandschaft, die zuweilen von weidenden Kuhherden besiedelt wird. Inmitten dieser ungetrübten, frühzeitlich anmutenden Naturidylle verbrachte Prantl vier Sommer, um den Steinblock aus brasilianischem Bahia-Granit zu behauen. Aus der blau schimmernden Gesteinsmasse arbeitete der Bildhauer für ihn typische, komplexe Musterungen heraus. Sie fügen sich organisch in das Rohmaterial ein und verleihen dem Nachdruck und Ausdruck, was der Stein bereits an sich mitbringt“Gottfried Boehm, zitiert in: Kristian Sotriffer, „Exerzitium im Steinbruch. Über den 70jährigen Bildhauer Karl Prantl und seine Visionen“, https://www.karlprantl.at/skulpturen/steinbruch/karl-prantl-1″: Der Block „nimmt auf, was die äußere Situation schon anbietet“, so Gottfried Boehm: „das labile Wechselspiel zwischen Natur und Kultur. Prantl hebt es, als Thema seiner Arbeit, auf eine ausdrückliche Ebene, macht es zu einem symbolischen Geschehen.“
Angesichts der unzweifelhaften Verankerung von Prantls Steinen in nahezu unberührten Landstrichen verwundert es nicht, dass die Beschäftigung mit ihnen Cerha musikalisch in verwandte Gebiete führte. Eine Art archaische Grundhaltung der Musik scheint sich seit der Komposition von Monumentum Ende der 1980er Jahre herauszubilden. Cerha reflektiert:

Wie zum Monumentum wurde auch zu Für K festgestellt, dass es in diesen Stücken wieder stärkere Zusammenhänge mit Vorstellungen aus der Zeit der Klangflächenkomposition bzw. der Exercises gibt als in den vorangegangenen Werken. Tatsächlich hat mein Blick auf Prantls archetypische Formen meine Intentionen befördert, auch Elemente aus dieser Periode wieder stärker in meinen Gesichtskreis einzubeziehen, was in einigen Werken der Neunzigerjahre seine hörbaren Folgen haben sollte.

Friedrich Cerha

Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 258

Wie stark die Klangsprache der frühen 1960er Jahre in den Prantl gewidmeten Werken wieder an die Oberfläche tritt, lässt sich an Episoden aus Monumentum und Für K auf sinnlichste Weise nachvollziehen. In Für K entfalten sich zuweilen musikalische Momente, die auf Prantls Handwerk mit unmittelbarer Suggestion antworten. Eine zuweilen harte, plastische Klanglichkeit erinnert an das Schaffen eines Bildhauers. Und doch gilt es zu differenzieren, denn die Arbeitsweise Prantls ist kaum grobschlächtig, im Gegenteil: eher eine behutsame und niemals künstlich gezwungene Formung des Materials charakterisiert seine Herangehensweise. Tritt man näher an die Plastiken heran, etwa an Prantls Stein für Friedrich Cerha, so ist diese Liebe zum Detail gleichwohl zu erkennen: Die subtilsten Strukturen, Maserungen und imaginativen Inschriften geben sich zu Erkennen. Der österreichische Fotograf Lukas Dostal hat sie eingefangen:

Karl Prantl, Stein für Friedrich Cerha, Krastaler Marmor, 130 x 190 x 870 cm, Pöttschinger Feld, 1984-1987

Lukas Dostal
www.lukasdostal.at

Der präzisen Gründlichkeit in Prantls Materialbehandlung entspricht bei Cerha die Liebe zu feinsten, akribisch ausgearbeiteten Klangstrukturen. Innerhalb der mannigfaltigen Stationen von Monumentum scheinen in schemenhafter Kontur immer wieder ineinander verschachtelte Komplexe auf, meist in den Streichern. Sie gleichen dem musikalischen Abbild einer rankenartigen Vegetation, die langsam in eine bestimmte Richtung wächst. Die erste der vier Meditationen – den Zwischenteilen zu den fünf Hauptabschnitten – stellt dieses Klangideal deutlich dar. Netzwerkartige Stimmdurchkreuzungen wechseln sich hier stetig mit kurzzeitigen Ruhepunkten ab.

Jean-Daniel Wyss, Handskizze zu Prantls Stein in Richisau

Bildquelle: Gasthaus Richisau, mit freundlicher Genehmigung

RSO Wien, Ltg. Dennis Russell Davies, Produktion Kairos 2010

Was in der ersten Meditation nur momenthaft angedeutet wird und sich danach wieder verliert, kehrt an verschiedenen Punkten der Komposition wieder – mal finden sich die klanglichen ‚Wurzelsysteme‘ allein, wie hier, mal durchwuchern sie ein untergründiges Feld – wie im Kreuzweg – oder stehen massiven Klangblöcken gegenüber, die wiederum an Prantls Steinarbeiten erinnern – wie in Zeichen. Die Idee einer botanischen Musik gipfelt jedoch am Ende zweifelsohne in den Verzweigungen. Akribisches Notieren und Ausarbeiten wird hier zum alleinigen Programm erhoben: Eine Musik des schier endlosen Wachstums geht aus ihm hervor.
Die in den Verzweigungen erfundene Musik ist zugleich einfach wie kompliziert – einfach in ihrer Gesamtheit und der nachvollziehbaren, „fasslichen“ Entfaltung, kompliziert in ihren Details, Abstufungen und Überlagerungen. Das wohl eindrucksvollste Zeugnis dieser Gegensätzlichkeit ist eine von Cerha ausgearbeitete Skizze, die den kompletten Verlauf des etwa fünfminütigen Schlussteils auf nur vier Blättern festhält. Notiert ist die Musik hier nicht im herkömmlichen Sinne – sie ist stattdessen in einer Art Vor-Stadium fast architektonisch entworfen. Grundlage der grafisch bemerkenswerten Arbeit ist das Liniensystem auf Millimeterpapier. Dieses nutzt Cerha für Monumentum nicht zum ersten Mal – schon frühere Stücke, wie die gigantischen Fasce wurden auf solchem Papier skizziert, und zwar immer dann, wenn der Komponist besonders dichte und überlagernde Stimmgeflechte kreieren wollte. Die winzigen quadratischen Kästchen des Skizzenpapiers zu den Verzweigungen behandelt Cerha wie Tonzellen: Ein Kästchen gleicht einem Ganzton, die Hälfte des Kästchens einem Halbton – eine Oktave wiederum benötigt dadurch sechs ‚gestapelte‘ Kästchen. Dadurch, dass auf den Papierbögen 36 Kästchen übereinander angeordnet sind, ergibt sich ein extrem großer Tonraum von sechs Oktaven. Cerha nutzt ihn in vollem Maße aus. Die aneinandergereihten Skizzenblätter lassen das über diesen Oktavraum gestaltete Wachstum der Musik auf einen Blick erkennen.

Cerha, Skizze zu Verzweigungen auf Millimeterpapier, ca. 1988, 000S0097/72

Der Idee der Verzweigung entsprechend greifen im Verlauf zunehmend Klangkomplexe ineinander, überlagern sich und verdichten das Geschehen. Um diese Komplexe in der Skizze noch voneinander unterscheiden zu können, gliedert Cerha den Entwurf mittels verschiedener Stiftfarben. Schwarze, rote, dunkelgrüne und blaue Linienführungen prägen das Skizzenbild. In Teilen weisen die verschiedenen Farben bereits auf die spätere Orchestrierung hin – zusätzlich notiert Cerha wie üblich in seiner Skizzierungsarbeit an vielen Stellen, welche Instrumente an welchen Stellen eingesetzt werden sollen. Die Klangfarben selbst treten in der späteren Ausarbeitung des Stücks teils deutlich in den Vordergrund.  
Lässt sich anhand der Skizze die Grundidee des Stücks – auch in einigen bereits antizipierten Details – direkt verstehen, so verschwindet diese im später gültigen Partiturbild gänzlich. Die Überführung der kühn verästelten Klangstruktur in eine konventionelle Notationsschrift zeugt vom Pragmatismus des Dirigenten Cerha, welcher grafische Fixierungen – so reizvoll sie auch fürs Auge sein mögen – nur in äußerst sparsamer Dosis und nur dort, wo sie auch wirklich nötig sind, zur Anwendung bringt. Die Transformation ins traditionelle Fünfliniensystem ist dennoch nicht als nüchterner Kompromiss anzusehen, in Gegenteil: Hier eröffnet sich Cerha die Möglichkeit, sein musikalisches ‚Gewächs‘ gleichsam hochzuzüchten, bereits entwickelte strukturelle Knospen vollends zum Aufblühen zu bringen. Von der Grundidee verliert die ausgearbeitete Version letztlich nichts. Eine Durchsicht der finalen Partiturblätter trägt die Arbeitsschritte zum Vorschein und zeigt, wie die Verzweigungen schließlich in den Gesamtkomplex von Monumentum eingebettet wurden.

Die Realisierung der Verzweigungen am Schluss von Monumentum macht aus diesem ein Naturstück. Nach den musikalisch durchlebten Stationen der von Prantls Steinen inspirierten Episoden stehen die Verzweigungen am Ende wie ein Bekenntnis dar. Ein Bekenntnis zur Vielfalt, die aus einem Keim hervorgeht, ein Bekenntnis zur strukturellen Faszination „floraler Gabelung“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 257, ein Bekenntnis auch zur Natur an sich und ihren fantasievollen Niederschlagungen im Geiste. In den letzten, in höchstem Maße ätherischen Klangausblendungen erfüllt sich auch ein fast spiritueller Gedanke. Von jeglicher Erdenschwere erleichtert wiegt sich der Klang nurmehr im leeren Raum. Die letzten Glockenschläge lösen sich schließlich vom in luftige Höhe gewachsenen Geflecht ab und hinterlassen eine Ahnung von Freiheit.

Schatztruhe