Der Dirigent

Cerha am Dirigierpult, Oper Graz 1981

An der Schnittstelle von Komposition und Dirigat führte Cerha im September 1981 die von ihm komplettierte Fassung der Oper Lulu von Alban Berg erstmals in Österreich auf. Seine Akribie bei der Rekonstruktion geht mit einer solchen in der Einstudierung der Musik ein. Das Foto zeigt Cerha bei der Probenarbeit zum Projekt.

Bildquelle: Archiv der Zeitgenossen

Komponisten dirigieren, Dirigenten komponieren: früher eine Selbstverständlichkeit! Jean-Baptiste Lully, der Hofkomponist des „Sonnenkönigs“, rammte sich gar versehentlich einen Dirigentenstab in den Fuß – mit tödlichem Ausgang. Vom Cembalo aus leitete Wolfgang Amadeus Mozart das Orchester. 1817 führte Carl Maria von Weber den heute gebräuchlichen Taktstock ein. Zuvor wurde oftmals mit gerolltem Notenpapier dirigiert. Welche der beiden Professionen, das Komponieren oder das Dirigieren, Vorrang hatte, schien keine wichtige Frage zu sein – beide Tätigkeiten gingen oft miteinander einher. Hier und dort gibt es jedoch Rangordnungen. Richard Wagner etwa setzte sich als Dirigent leidenschaftlich für die Sinfonien Beethovens ein und wurde dafür von seinen Zeitgenossen bewundert. Im Kern verstand sich Wagner jedoch als Komponist. Leonard Bernstein schrieb ebenfalls Werke, die heute zum Repertoire gehören, man denke nur an die West Side Story. Sein Kerngeschäft blieb aber die Arbeit am Dirigentenpult. Unvergesslich sind seine Aufführungen der Sinfonien Gustav Mahlers. Dass er gerade mit Mahler sympathisierte, ist bezeichnend, hatte dieser doch das zwiespältige Leben zwischen Komponisten- und Dirigentendasein gewissermaßen vorgelebt.

Den Spagat zwischen Pult und Schreibtisch kennen seit Mahler nur wenige hochrangige Künstler:innen. Friedrich Cerha gehört zu ihnen, und dies in einer Zeit der Spezialisierungen, die auch das Musikleben nicht unberührt ließen. Es gehört zu seinem Wesen, Musik multiperspektivisch zu erleben und zu gestalten. Als Geiger, als Dirigent, als Komponist begegnete er ihr in vielen Facetten. Zeitweise dominierte seine Tätigkeit als Orchesterleiter sogar die öffentliche Wahrnehmung.

 

Ein eigenes Ensemble: „die reihe“ und der Weg dorthin

Das Stammensemble der „reihe“ bei Proben, 1964

Cerha und „die reihe“ im Garten des Museum des 20. Jahrhunderts, Mai 1963

Bei seinem Studium an der Wiener Musikakademie konnte Cerha erste Erfahrungen in der Führung von Ensembles sammeln. Zu den Pflichtfächern im Rahmen seiner Ausbildung zum Mittelschullehrer gehörte auch das Dirigieren. Einer seiner Lehrer: Hans Gillesberger, „einer der bedeutendsten Chorlehrer der Nachkriegszeit“Andrea Harrandt und Christian Fastl, Art. „Gillesberger, Familie“, in: Oesterreichisches Musiklexikon online und Leiter unzähliger Chöre im Wiener Musikleben; Ein anderer, Ferdinand Grossmann, ebenfalls Chorleiter: „Unter seiner Anleitung“, berichtet Cerha, dirigierte er schon früh „auch die Rezitative der Matthäus-Passion, freilich in Mantel und Hut, weil es nach dem Krieg im Unterrichtslokal keine Fenster gab und Glas Mangelware war.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 28

Lehrbefähigungszeugnis der Akademie für Musik und darstellende Kunst, Auszug, 1950

Nach Cerhas Ausbildung rückte das Dirigieren zunächst in den Hintergrund, von seiner musikerzieherischen Arbeit an einigen Mittelschulen abgesehen. Das Komponieren gewann Oberhand, auch als Folge seiner Teilnahme an den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik (ab 1956). Die hier gewonnenen Erfahrungen einer lebendigen Avantgarde und ihrer professionellen Infrastruktur erweckten andererseits das Bedürfnis in ihm, der Neuen Musik auch in Österreich ein Forum zu bieten. Den Entschluss, ein entsprechendes Ensemble zu gründen, fasste Cerha 1958 gemeinsam mit seinem Freund und Kollegen Kurt Schwertsik auf der Rückreise von Darmstadt, angeregt vom undogmatischen Erstauftritt John Cages in Europa. Schnell nahm das Vorhaben Form an: „Schwertsik kannte viele Musiker“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 52, Cerha hatte außerdem gute Kontakte zur Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM). Unterstützung bekamen beide vom Generalsekretär des Wiener Konzerthauses, Egon Seefehlner. Er bot dem Ensemble „eine Heimstatt“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 52. Für das erste Konzert rechnete man allerdings mit nur wenigen Besucher:innen. So fiel die Wahl für die Premiere auf den kleinsten Raum, den Schubertsaal. Bald war auch ein Name für das Ensemble gefunden: „die reihe“ – eine Anspielung nicht nur auf die Reihentechnik, das ‚Aushängeschild‘ moderner Musik, sondern auch auf die Absicht, kontinuierliche Konzertreihen zu planen. Am 22. März 1959 öffneten die Türen des Schubertsaals. Auf dem Programm: Reihenkompositionen jeglicher Art. Anton Weberns zwölftöniges Quartett op. 22 bildete ein beinahe ‚klassisches‘ Zentrum, umrahmt von seriellen Kompositionen von Henri Pousseur und Pierre Boulez.

Wiener Konzerthaus, Programmheft, 22.3.1959, AdZ, KRIT007/183

In vielerlei Hinsicht war das erste Konzert der „reihe“ symptomatisch. Es widmete sich einem bestimmten Themenkreis und vernetzte ältere Kompositionen mit jüngst entstandenen. Das Dirigat teilten sich die beiden Ensembleleiter. Schwertsik war für Pousseurs Werk zuständig, während Cerha die übrigen Stücke dirigierte. In gewissem Sinn kann das erste Konzert der „reihe“ als Cerhas Initiation zum Dirigenten betrachtet werden. Erstmals stellte er sich als solcher einer breiteren Öffentlichkeit. Die Resonanz war groß: Ein „überfülltes Haus“Karl Löbl, „Von Schubert zu Pierre Boulez. Zwei Welten unter einem Dach“, unbekannte Zeitung, 24.3.1959, AdZ, KRIT007_1947-1959/199 lauschte den neuen, in Wien immer noch unbekannten Klängen. Interessant ist auch ein Blick auf das Publikum: Es bestand nämlich „zum großen Teil aus jugendlichen Zuhörern“Helmut A. Fiechtner, Rezension in unbekannter Zeitung, unbekanntes Datum, AdZn, KRIT007_1947-1959/202. Die älteren zog es eher zu einem im selben Haus parallel stattfindenden Konzert: Dietrich Fischer-Dieskau trug zeitgleich im Großen Saal Schuberts Die schöne Müllerin vor. Die Presse nahm das Premierenkonzert unterschiedlich auf. Lothar Knessl zelebrierte den Abend als „sensationelle[n] Erfolg mit seriellen Träumen“Lothar Knessl, „Sensationeller Erfolg mit seriellen Träumen“, unbekannte Zeitung, unbekanntes Datum, AdZ, KRIT007_1947-1959/198, ein anderer Rezensent stellte in der Überschrift seines Artikels die polemische Frage „Wann kommt das Ohr an ‚die Reihe‘?“O.A., „Wann kommt das Ohr an ‚die Reihe‘?“, Heute, 4.4.1959, ArdZ KRIT007_1947-1959/201
Zweifelsohne setzte „die reihe“ mit ihrem ersten Konzert eine Erfolgsgeschichte in Gang. Schon im dritten Konzert reichte der Schubertsaal nicht mehr aus, um die Publikumsnachfrage zu stillen. Man siedelte in den größeren Mozartsaal über. Hier fand im November 1959 zugleich eines der aufsehenerregendsten Konzerte des Ensembles statt. Auf dem Programm standen Werke, die allesamt aleatorisch waren, also den Zufall als bewusste Komponente einbezogen. Während Cerha Christian Wolffs Music for Merce Cunningham für sechs bis sieben Spieler dirigierte, leitete Schwertsik die Aufführung von John Cages Konzert für Klavier und Orchester, einem Schlüsselwerk musikalischer Zufallsoperationen. „Das Konzert“, so Cerha, „löste den größten Skandal seit dem Ende des zweiten Weltkriegs aus; alle Zeitungen waren voll von Bildern des – gleich einer Uhr – die Zeit mit beiden ausgestreckten Armen angebenden Schwertsik, der sich bei mir am Salzgries vor den zahlreichen Gaffern auf der Straße verbarg.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 36

„Skandal nach Noten“, Zeitschriftenblatt, 1959,
AdZ, KRIT0010/25

„Wenn das der Mozart hätt‘ erleben müssen…“, Zeitschriftenblatt, 1959, 
AdZ, KRIT008/14

Nicht nur befeuerte das Cage-Konzert das öffentliche Interesse an den Aktivitäten der „reihe“ – es verdeutlichte auch den Anspruch des Ensembles, in Österreich Allerneuestes (und nicht bloß einigermaßen Gegenwärtiges) auf den Spielplan zu bringen: Die Uraufführung des Klavierkonzerts in New York sowie die europäische Erstaufführung in Köln hatten jeweils erst im Vorjahr stattgefunden. Aktualität und unmittelbare Nähe zum Zeitgeist blieben auch in den folgenden Jahren ein Fixpunkt. Er sicherte der „reihe“ und somit auch Cerha, dem Dirigenten, einen festen Platz im Wiener Kulturleben. Als „Avantgarde im Abonnement“ bezeichnete die Wochen-Presse denn auch die für 1960/61 geplante Konzertreihe.

O.A., „Mit gemischten Vorgefühlen“, Die Wochen-Presse, 22.10.1960, AdZ, KRIT008/69

Aufführungen und Uraufführungen – national und international

Sein Renommée als Dirigent konnte Cerha 1961 nachhaltig untermauern. Die Internationale Gesellschaft für Neue Musik richtete im Juni das 35. Weltmusikfest in Wien aus. Im Zuge dessen wurde in zahlreichen Konzerten ein „Durchschnitt durch das Schaffen der jüngeren Generation geboten“Rudolf Klein, „Moderne Musik in Wien“, Baseler Nachrichten, unbekanntes Datum, AdZ, KRIT008_1959-1960 – mit Kompositionen aus Frankreich, Italien, Deutschland, Polen, Norwegen, Island, England, Japan und den USA. Zwei dieser Konzerte bestritt „die reihe“ unter der Leitung Cerhas, dessen Relazioni fragili als Repräsentation der österreichischen Musik ebenfalls auf dem Programm standen. Das Weltmusikfest sicherte dem Dirigenten erstmals eine beachtliche internationale Aufmerksamkeit, sodass seine Engagements zahlreicher wurden. Nur wenige Monate später zog es ihn ins (nahe) Ausland. In der frisch eröffneten Deutschen Oper Berlin leitete Cerha im Oktober 1961 seine erste Ballettaufführung. Getanzt wurde zu Pierre Boulez‘ Improvisations sur Mallarmé, Igor Strawinskys Les Noces und Benjamin Brittens Les Illuminations. Egon Seefehlner, der Cerha und der „reihe“ zwei Jahre zuvor die Bespielung des Wiener Konzerthauses ermöglicht hatte, war inzwischen zum Intendanten der Berliner Oper geworden. Er schlug Cerha vor, „als Dirigent am Haus zu bleiben“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 53. „Ich habe kurz darüber nachgedacht – und abgelehnt“, heißt es lakonisch in den Schriften zu der Möglichkeit, Wien den Rücken zu kehren. Die Hintergründe der Entscheidung verraten viel über Cerhas Einstellung zu Kunst und Leben: Als er an der Oper eine Aufführung von Giacomo Puccinis Madame Butterfly sah, entschied er, „so nicht leben“Vgl. Interview mit Friedrich Cerha für „Friedrich Cerha Online“, September 2019 zu wollen, wobei „so“ für ein Leben steht, das sich voll und ganz einem Kulturapparat unterwirft. Mit der Aussicht, nur noch etablierte Repertoirestücke zu dirigieren, konnte sich Cerha nicht anfreunden und bestritt andere, jedoch nicht minder erfolgreiche Wege als Dirigent. Berlin musste er allerdings nicht ganz hinter sich lassen. Mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester der deutschen Hauptstadt ergab sich eine fruchtbare Zusammenarbeit. Viele Werke, die lange nicht mehr aufgeführt wurden, holte Cerha wieder aus der Versenkung, unter ihnen die Altenberg-Lieder Alban Bergs.Vgl. Interview mit Friedrich Cerha für „Friedrich Cerha Online“, September 2019Seine zunehmende Präsenz im Ausland ging mit einer regen Beteiligung an wichtigen Musikfestivals einher. Blieb in der Anfangszeit das Wiener Konzerthaus noch die einzige Spielstätte der „reihe“, so erweiterte sich der Radius in den 1960er Jahren: Zu Gast war das Ensemble etwa bei den „Semaines musicales“ in Paris, der „Nutida Musik“ in Stockholm, dem „Prager Frühling“ oder der Biennale in Zagreb. Beim „Warschauer Herbst“ 1961 dirigierte Cerha mehrfach Werke von Igor Strawinsky, Maurice Ravel und Arnold Schönberg, aber auch von Edgard Varèse. Letzterer blieb – ähnlich wie Erik Satie oder Anton Webern – ein Komponist, zu dem Cerha als Dirigent nicht nur mit der „reihe“ immer wieder zurückkehrte. Dass die vier genannten Kollegen auch Spuren in seinen Kompositionen hinterließen, ist eine wichtige Beobachtung: Sie verdeutlicht die engen Wechselbeziehungen zwischen dem produzierenden und reproduzierenden Künstler, der stets gegen die Unterrepräsentation ihm zentral erscheinender Werke aus der ersten Jahrhunderthälfte kämpfte.

Konzerthausnachrichten, Ankündigung eines Varèse-Konzerts, Wiener Konzerthaus, November 1961, AdZ, KRIT009/38

ORF-Orchester, Ltg. Friedrich Cerha, 1976

In den 1960er Jahren konnte Cerha seine Erfahrungen mit dem Musiktheater vertiefen. Anders als er es im Falle seiner Verpflichtung an die Deutsche Oper Berlin getan hätte, blieb er seiner Kunstauffassung jedoch treu. So nahm er eine Offerte des Theaters an der Wien an, im Rahmen der Wiener Festwochen die drei Einakter Arnold Schönbergs zu dirigieren: Erwartung, Die glückliche Hand und Von heute auf morgen. Die Inszenierung übernahm Werner Kelch, damals Regisseur an der Staatsoper Berlin. Bühnenmusikalisches Neuland betrat Cerha auch durch avancierte Projekte der Avantgarde, etwa bei der ersten szenischen Umsetzung von György Ligetis Paarstücken Aventures und Nouvelles Aventures, eine Aufführung, welche die Württembergische Staatsoper Stuttgart 1966 auf den Weg brachte: eine „pantomimische Version“Konzertankündigung, Württembergische Staatsoper Stuttgart, 1966, AdZ, KRIT0012_1966-1967/78 von Ligetis „musikalisch-dramatischer Aktion in 14 Bildern“Vgl. Ligetis eigener Untertitel: Aventures & Nouvelles Aventures, Textbuch, Edition Peters 2002. Rolf Scharre, ein Spezialist auf dem Gebiet der Pantomime, zeichnete für die Inszenierung verantwortlich.
Die Aventures, ein Meilenstein avantgardistischer Sprachkomposition, gehören zweifelsohne zu den spektakulärsten Uraufführungen der „reihe“. Am 4. April 1963 waren sie in Hamburg erstmals unter Cerhas Leitung zu erleben und gehörten schon bald (gemeinsam mit seinem ‚Zwilling‘) zum Kernrepertoire des Ensembles.

Proben zu Ligetis Aventures und Nouvelles Aventures, Hamburg, Mai 1966

Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha, 1968

Trotz der Erfolge im Ausland blieb Cerha der „reihe“ treu. Er hob mit dem Ensemble Ligetis Kammerkonzert (1969/70) aus der Taufe, und verhalf ebenso anderen Kollegen zu Uraufführungen, unter ihnen: Krzysztof Penderecki (Dimensionen der Zeit und Stille, 1961), Anestis Logothetis (Parallaxe, 1961), Istvàn Zelenka (Adaptionen, 1964), Roman Haubenstock-Ramati (Multiples, 1969), HK Gruber (Vertreibung aus dem Paradies, 1969), Jungsang Bahk (Seak I, 1971), Ernst Krenek (Von vorn herein, 1974), Bojidar Dimov (Bewegliche Signallandschaften, 1975), Luna Alcalay (New Point of View, 1975) oder Dieter Kaufmann (Boleromaniaque, 1976). Schließlich bezeugen unzählige österreichische Erstaufführungen Cerhas Verdienste für die Musikkultur seines Heimatlandes, darunter: Arnold Schönbergs Drei Stücke für Kammersensemble, Claude Debussys Les Chansons de Bilitis, Erik Saties Le Piège de Méduse, Charles Ives The Unanswered Question, Luciano Berios Tempi concertati, Iannis Xenakis‘ Atrées, Morton Feldmans The Straits of Magellan, Witold Lutosławskis Paroles tissées oder Alfred Schnittkes Konzert für Violine und Kammerorchester.

Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha, 1968

Cerhas schier grenzenlose Loyalität zu seinem Ensemble geriet 1968 auf den Prüfstand. Der damalige Generalsekretär der Wiener Konzerthausgesellschaft, Peter Weiser, nahm das zehnjährige Jubiläum der „reihe“ zum Anlass für ein fragwürdiges Angebot. Voraus ging ein in der lokalen Presse gut dokumentierter StreitVgl. den Artikel „Nicht für zehn Schilling“, unbekannte Zeitung, 23.6.1967, AdZ, KORR0014/20 zwischen dem Konzerthaus und der „Musikalischen Jugend“, einem der größten Kartenabnehmer der „reihe“. Weisers Forderung, die Kartenpreise für die Konzerte der „reihe“ zu erhöhen, lehnte die „Musikalische Jugend“ entschieden ab. So entstand ein „Kleinkrieg mit verwaschenen Fronten“Gertraud Cerha, Brief an Peter Weiser, 16.6.1967, AdZ, KORR0014/19. Um eine „Flurbereinigung in der verzwickten Landschaft des zeitgenössischen Musiklebens“Peter Weiser, Brief an Gertraud Cerha, 23.6.1967, AdZ, KORR0014/21 vorzunehmen, unterbreitete Weiser dem Ehepaar Cerha einen Drei-Punkte-Plan:

  1. „Das Ensemble ‚die reihe‘ spielt in der Saison 1967/68 vier Konzerte im Mozart-Saal […].“
  2. „Das Ensemble ‚die reihe‘ bestreitet in der Saison 1968/69 einen repräsentativen Zyklus anläßlich seines 10-jährigen Bestandes, gibt in diesem Zyklus einen Überblick über das in dieser Zeit Geleistete und stellt mit diesem Zyklus seine Tätigkeit zumindest im Rahmen der Wiener Konzerthausgesellschaft ein.“
  3. „Dr. Cerha beginnt im Rahmen der Wiener Festwochen 1969 mit einem Konzert mit großem Orchester einen neuen Abschnitt seiner Tätigkeit, der es ihm ermöglichen soll, aus dem kammermusikalischen Rahmen auszubrechen und sich als Interpret moderner Musik in ganz normalen Orchesterkonzerten zu betätigen.“

Weisers Vorschlag, die „reihe“ einzustellen und das Ensemble zu zerschlagen, um in der Folge seine Karriere als Orchesterdirigent auszuweiten, lehnte Cerha kategorisch ab. In einem Brief vom Dezember 1967 warf er Weiser eine „typisch diktatorische Machtpolitik“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 56 vor: „Man macht einem Dirigenten keine zweideutigen Angebote“. Zum Bruch mit dem Wiener Konzerthaus führte der Konflikt zwar nicht – dennoch veränderte sich die Tätigkeit der „reihe“ und ihres Dirigenten. Hatten sie in den vorangehenden Jahren bereits alternative Spielorte in Wien genutzt, etwa das Museum des 20. Jahrhunderts oder den ORF-Sendesaal, bespielte das Ensemble ab 1968 verstärkt internationale Bühnen, etwa auf einer großen Tournee durch Amerika.

Cerha im Dirigentenprofil

Karikatur: Cerha als dirigierender „Ichtyosaurus“

Zwei skurrile Karikaturen aus den frühen 1980er Jahren zeigen Cerha vor dem Dirigierpult als ein Mischwesen aus Mensch und Dinosaurier. Verraten sie auch etwas über ihn als Dirigenten? Auf dem Pult ist die Bezeichnung „Ichthyosaurus“ zu lesen. Weiß man um das originäre Aussehen des Fischsauriers, der im Erdmittelalter in den Ozeanen schwamm, irritieren die Karikaturen noch mehr. Abgesehen vom Dirigierstab, welcher der spitzen Schnauze des Urzeittieres ähnelt, haben Cerhas Dinosaurierschwanz, seine Krallenhände und -füße nichts mit dem prähistorischen Wesen gemein. Stößt man hingegen weiter in sein Œuvre vor, so lösen sich die Irritationen auf. Der Tiername spielt nämlich auf die „Ichthyosaurus-Parabel“ in Bertolt Brechts Theaterstück Baal an, der textlichen Grundlage von Cerhas gleichnamiger Oper. Baal berichtet hier von Noahs Arche und der Weigerung des Ichthyosaurus, das ‚Schiff’ zu betreten, um sich vor der Sintflut in Sicherheit zu bringen. Als Sinnbild für die gesamte Oper beschreibt die Erzählung die Eigensinnigkeit des Individualisten, der sich nicht der Gesellschaft anpasst, sondern nach den eigenen, seinem Wesen entsprechenden Bedürfnissen trachtet. Demnach, darf man folgern, teilen die Karikaturen auf sublime Art etwas über Cerhas Willen mit, sich nicht zu einem rein kommerziell denkenden Orchesterleiter verbiegen zu lassen. Sein Interesse an der Förderung solcher Musik, die im kommerziellen Getriebe nur schwer einen Ort findet, charakterisiert in der Tat seine gesamte Dirigentenlaufbahn. Die Botschaft der Karikaturen hat also auch eine durchaus (kultur-)politische Komponente. Andererseits geben die Bilder ebenso Auskunft über Cerhas spezielle Art zu dirigieren. Stoisch und unbeirrt der Blick, konzentriert auf nichts anderes als die Musik selbst – so etwa ließe sich die unterschwellige Mitteilung dechiffrieren.

Cerha dirigiert ein Stück von Anton Webern (vermutlich Zwei Lieder nach Rainer Maria Rilke op. 8) mit der Sopranistin Adrienne Czengery, Madrid 1983

Die Silhouette eines Dirigenten ist meist auch ein Spiegelbild des hinter ihm stehenden Menschen. Gustav Mahler und Richard Strauss gehörten zwar der gleichen Epoche an, doch waren ihre Schlagtechniken zutiefst verschieden. Während Mahler überaus gestisch, mit großen und teils hektischen Bewegungen dirigierte, wirkte Strauss als Minimalist, als einer überdies, den Cerha noch selbst erlebt hatte:

1944 hatte ich Urlaub vom Militär, als man in Wien den 80. Geburtstag von Richard Strauss feierte. Ich war jeden Tag in der Oper oder im Konzert. In einer Pause der Frau ohne Schatten stand er vor dem Haus und ich betrachtete ihn aus der Ferne wie ein zeitloses Denkmal: Es war mir unfassbar, dass in diesem Kopf all diese Musik entstehen konnte. Damals erlebte ich ihn auch als Dirigent seiner Sinfonia domestica und bewunderte seine äußerst sparsamen, ganz unspektakulären Bewegungen.

Friedrich Cerha

Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 27

Ob dieser Eindruck auf Cerhas eigenen Dirigierstil abfärbte, ist schwer zu beantworten. Eine Orientierung an Strauss im Sinne karger Bewegungen ist sicher auszuschließen. Die avancierten Werke, die Cerha seit seiner Frühzeit als Dirigent aufführte, verlangten eher eine überdeutliche und unmissverständliche Führung – sei es aufgrund von komplizierten Taktwechseln, vertrackten Stimmeinsätzen oder aleatorischen, demnach kommunikationsbedürftigen Momenten. Auf der anderen Seite liegen theatralische Bewegungen à la Mahler Cerhas frühen Auftritten eher fern. Jedenfalls zeigte er sich einem sachlichen, nur der Musik dienenden Dirigierstil verpflichtet, wie sich HK Gruber mit Blick auf die 1960er Jahre erinnert:

Cerha selbst entwickelte damals geradezu einen Stil des „Anti-Show-Dirigierens“. Während der Erfolg anderer Dirigenten ganz offenbar auf gymnastische Anstrengungen zurückzuführen war, sah er sich nie genötigt, Vorgänge wie etwa eine Umkehrung kopfstehend zu dirigieren. Trotz aller Verweigerung herkömmlich musikantischer Gebärde wurde aber hier offensichtlich auf allen Linien Begeisterung erzielt; – kaum wo in Wien war lebhafteres Publikumsinteresse zu verzeichnen und mancher Enthusiast sprach von „reihe“-Konzerten, – dabei im Überschwang den inneren Widerspruch in seinem Kompliment übersehend – als von den „Philharmonischen“ der Moderne.

Heinz Karl Gruber

„Friedrich Cerha: Vollblut mit Maske“, Programmheft zu Netzwerk, Wiener Festwochen 1981, S. 4-7, hier S. 5, AdZ, KRIT003/5

Cerhas schnörkelloser Dirigierstil in der Frühzeit der „reihe“ entsprach seiner Probenarbeit, die sich gleichermaßen als ebenso sachlich wie stringent erwies. Im Mittelpunkt stand dabei die gründliche Aufarbeitung der Musik – bis in die Tiefenschichten hinein. Seine Probenarbeit brachte ihm den Ruf eines „Bitzlers“ ein, wie einmal mehr Gruber erläutert. „Bitzeln“, ein österreichischer Ausdruck für PedanterieVgl. „Das Österreichische Wörterbuch“, https://www.ostarrichi.org/wort/5245/bitzeln, bezieht sich hier auf das Abschneiden von kleinen Stücken: „Genau das tut Cerha, wenn er ein Werk bei der Probe völlig auseinandernimmt, kleinste Teilchen ‚herausbeißt‘, um sie nach genauer Betrachtung mit den Musikern wieder zusammenzusetzen.“Heinz Karl Gruber, „Friedrich Cerha: Vollblut mit Maske“, Programmheft zu Netzwerk, Wiener Festwochen 1981, S. 4-7, hier S. 5, AdZ, KRIT003/5

Filmstills zu Cerhas Dirigat der dreiaktigen Fassung von Alban Bergs Lulu, österreichische Erstaufführung, Oper Graz, 1981

Allein, die Befunde analytischer Schärfe und musikalischer Sachlichkeit reichen nicht aus, um ein vollständiges Bild des Dirigenten zu projizieren. Der Vielfalt seines kompositorischen Schaffens entspricht Cerhas variantenreiche Orchesterleitung. Es wäre falsch, ihn lediglich als nüchternen ‚Werktätigen‘ zu beschreiben: auch Impulsivität und leidenschaftlicher Ausdruck finden ihren Platz, jedoch nur dort, wo die musikalische Textur sie verlangt. Die große Geste kommt besonders in der Arbeit mit Sinfonieorchestern zum Einsatz – nachvollziehbar in einem Probenmitschnitt von Anton Weberns Passacaglia in d-Moll. Die spätromantische Orchesterbesetzung und Kraftschübe des Werks verlangen hier nach einem dirigentischen Analogon.

Ein zweites Beispiel für Temperament am Pult: Cerhas eigene Baal-Gesänge. Auch sie bieten ein enormes Ausdrucksspektrum, vor allem eine Vielzahl an dramatischen Eruptionen. Ihnen dirigentisch angemessen zu begegnen erfordert zuweilen die extrovertierte Geste. Mit Theo Adam als Interpreten führte Cerha den Zyklus einige Male auf. Als Dirigent seiner Opern trat er selbst aber nur einmal Erscheinung: bei der Uraufführung von Der Rattenfänger.

Proben zu den Baal-Gesängen mit Theo Adam und der Staatskapelle Berlin, Konzerthaus Berlin 1987

Cerha, Baal-Gesänge, Nr. 1 ("Ichthyosaurus-Parabel")

RSO Wien, Ltg. Friedrich Cerha, Theo Adam (Bass), Produktion ORF 2006