Der Weltbürger

Cerha am Lamsenjoch, Tirol

Während und kurz nach dem Krieg arbeitete Cerha als Hüttenwirt in den Tiroler Alpen. An jenen Ort der Freiheit reiste er 2005 im Alter von 79 Jahren zurück. Der Regisseur Robert Neumüller drehte hier Szenen zu seinem Portraitfilm So möchte ich auch fliegen können.

Foto: Robert Neumüller

Cerhas Reisepass, Seite 2-3 mit Personenprofil

Friedrich Cerha ist nicht nur qua Geburt ein Wiener. In der Hauptstadt liegen auch die geistigen Wurzeln des Komponisten, dessen Schaffen so eng mit ihrer (Kultur-)Geschichte verbunden ist. Und doch ist sein Künstlertum vom Blick über Grenzen geprägt, lokalen wie geistigen. Intensives und sinnliches Welterleben, Interesse an vielerlei Phänomenen (bei weitem nicht nur musikalischen), Verzicht auf gesellschaftliche Schutzzonen, Ablehnung von gewohnten Denkmustern, Dogmen sowie verhärteten Ideologien – all das gehört zum Kern seines Wesens. Unvoreingenommen und neugierig begegnet er den Dingen, ein Verhalten, das die immense Vielfalt seines Werks erklären hilft.
In der frühen Neuzeit veränderte sich die Beziehung des Menschen zur Welt wesentlich. Seefahrten und Forschungsexpeditionen erschlossen neue Regionen und sogar Kontinente, die den Europäer:innen bis dahin unbekannt waren. Vom „Zeitalter der Entdeckungen“ blieb auch die westliche Kunst nicht unberührt. Künstler:innen von Albrecht Dürer bis Paul Klee gewannen auf ihren Reisen anregende, nachhaltige Eindrücke. „Grand Tours“ führten Schriftsteller wie Johann Wolfgang von Goethe oder Hans Christian Andersen in mediterrane Gefilde. Besonders Italien wurde zu einem Sehnsuchtsort, den auch vermehrt Musiker aufsuchten, seien es Wolfgang Amadeus Mozart, Felix Mendelssohn-Bartholdy oder Hector Berlioz. Die Inspiration durch die Ferne beflügelte den Kulturtransfer – und spätestens seit der Technologisierung verminderten sich Distanzen zwischen verschiedenen Kulturen (nicht nur im geografischen Sinne). Interkultureller Austausch bestimmt die Gegenwart und verdichtete die „Welt als vernetztes System“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 84, wie sie Cerha schon in den 1980er Jahren erahnte. In ihr ist er ein freier Bürger.

 

Wurzeln im Osten

Cerha, Sieben Stücke für Mandoline und Gitarre, I. Fernöstlich, 2014, AdZ, 00000198/2

2014 schrieb Cerha Sieben Stücke für ein Duo aus Zupfinstrumenten: Mandoline und Gitarre. Das erste von ihnen trägt die Satzbezeichnung „Fernöstlich“, es sind also asiatische Klänge, die musikalisch heraufbeschwört werden sollen. Der Titel spielt auch auf eine Himmelsrichtung an, weist in den Osten, in das Land von Cerhas Vorfahren, über die genaue Belege leider fehlen. Sein zur Kriegszeit angelegter Ahnenpass ist lange verschollen. Eine eigene Familiengeschichte zirkuliert dennoch: Cerhas Großvater väterlicherseits, ein Uhrmacher, stammte aus Ungarn und wurde in der Stadt Győr geboren, ehe er ins niederösterreichische Gänserndorf übersiedelte. Blickt man noch eine Generation zurück, so geht es weiter ostwärts, nach Budapest, wo Cerhas Urgroßvater das Licht der Welt erblickte. Von dort aus lassen sich die Ursprünge der väterlichen Linie nach Hermannstadt im rumänischen Siebenbürgen zurückverfolgen (in die Heimat von Cerhas Freund György Ligeti). Doch ist die imaginäre Reise damit nicht beendet: „Der Legende in meiner Familie nach“, so Cerha, gingen die Wurzeln „noch weiter zurück nach Istanbul, wo es in den 1490er Jahren einen Großwesir meines Namens gab.“Sabine Töfferl, Friedrich Cerha. Doyen der österreichischen Musik der Gegenwart. Eine Biografie, Wien 2017, S. 21 Ein undatiertes Manuskript zeugt von entsprechenden Nachforschungen. Es handelt sich um eine Abschrift ohne Quellenangabe, die von einem missglückten, sommerlichen Feldzug mit dem Ziel der Eroberung Budapests erzählt. Der Name des Wesirs: Cerrha Mohammed Pascha.

Cerha, Notizen über einen möglichen Vorfahren, undatiert, AdZ, SCHR0027/2

Noch heute, so bekundet CerhaSabine Töfferl, Friedrich Cerha. Doyen der österreichischen Musik der Gegenwart. Eine Biografie, Wien 2017, S. 21 gibt es in Istanbul eine Moschee mit dem ursprünglichen Familiennamen: „Cerrah Mehmed Paşa Camisi“, 1594 erbaut. Während einer Türkeireise in späteren Lebensjahren besuchte Cerha die Moschee, wohl auch, um den eigenen Wurzeln nachzuspüren. Zeitweise überlegte er sogar, ob er für eine Weile in Istanbul leben solle, verwirklichte den Plan jedoch nicht.Wilhelm Sinkovicz, „Vier Tage für zehn Menuette“, Interview mit Friedrich Cerha, Die Presse, 11.2.2006, AdZ, SCHR0043/72 Der arabisch-islamischen Welt blieb er jedoch zeitlebens verbunden.

Die Moschee „Cerrah Mehmed Paşa Camisi“, private Fotos von Friedrich Cerha

In eine andere, doch auch wieder östliche Richtung führt die mütterliche Ahnenlinie – „nach Mähren, in die Slowakei und nach Galizien“Thomay Meyer, Interview mit Friedrich Cerha, https://www.evs-musikstiftung.ch/de/preise/preise/archiv/hauptpreistraeger/friedrich-cerha/interview.html. Cerhas zweiter Großvater war Weinbauer, der in den 1930er Jahren slowakische Mägde und Knechte beschäftigte.Sabine Töfferl, Friedrich Cerha. Doyen der österreichischen Musik der Gegenwart. Eine Biografie, Wien 2017, S. 20 Mit ihnen freundete sich der Enkel schnell an.Begleittext zu Slowakische Erinnerungen aus der Kindheit, AdZ, 000T0099/2. Indem er sie auf ihren Heimaturlauben begleitete, lernte er ihre Kultur aus erster Hand kennen. Die Slowakei, vor allem die Orte Gayring, Senica, Myjava und Trnava, erlebte er als „eine sehr ursprüngliche Gegend“. Dort habe es „viele Häuser nur mit Stroh oder Schindeln gedeckt, alle ebenerdig, schmale Sandstraßen und viele Gänse und Schafe;“ gegeben; und „es wurde damals viel musiziert – Hackbrett und Klarinette waren die bevorzugten Instrumente, und an den Kirtagen Blasmusik, die mich damals sehr fasziniert hat und die ich verfolgt habe.“Sabine Töfferl, Friedrich Cerha. Doyen der österreichischen Musik der Gegenwart. Eine Biografie, Wien 2017, S. 20 f.
Mitte der 1950er Jahre hielt der Komponist die musikalischen Kindheitserinnerungen „in einer Reihe von Klavierstücken und Skizzen fest.“ Erst viel später, 1989, erweckte eine ihm zugesandte Kassette mit slowakischen Volksliedern sein erneutes Interesse an den viele Jahr zuvor erfolgten Niederschriften, um sie in einem großen Klavierzyklus zu vereinen, den Slowakischen Erinnerungen aus der Kindheit. Die Titel der einzelnen Nummern lassen Orte, Menschen, Stimmungen und Landschaften vorüberziehen: „Miava“, „Holíč“, „Göding“, „Allein in dunklen Gassen von Tyrnau“, „Auf den Mauern der Ruine Kokö“, „Im Gestrüpp an den Hängen des Visoka“, „Weinlese an der Waag“, „Schlafen bei den Schafen im Gras“, „Den Eidechsen auf den warmen Steinen zuschauen“, „Eine Gänseprozession versperrt den Weg“ und viele mehr. Am deutlichsten spricht das letzte Stück: „Heimweh nach einer versunkenen Welt“.

Cerha, Slowakische Erinnerungen aus der Kindheit, Skizze zu „Eine Gänseprozession versperrt den Weg“, AdZ, 000S009/51

Zwei Fotos aus Cerhas Kindheit, ca. 1940

Aufblühender Kosmopolitismus

Cerhas unbeschwerte, kulturell bunte Kindheit endete mit dem Krieg. Nach seinem Ende galt es, sich die Unabhängigkeit wieder zurückzuerobern – mit den Freiheitserfahrungen ‚im Gepäck‘, die er 1945 als Bergführer in den Tiroler Alpen gewonnen hatte. Seine hier gewonnene Verbundenheit mit der Natur erschwerte ihm, sich wieder in gesellschaftliche Strukturen einzufügen. Andererseits eröffnete ihm die zurückgewonnene Urbanität zahllose Chancen, die ‚weite Welt‘ zu entdecken. Schon bald unternahm Cerha Fahrten in andere Länder, um so seinen Horizont zu erweitern. Italien war eines seiner Lieblingsziele. Anfang der 1950er Jahre reiste er erstmals nach Bologna. Weil er in Vergessenheit geratene Barockmusik wieder ans Licht befördern wollte, suchte er hier die „Biblioteca del Conservatorio“ und die „Accademia Filarmonica“ auf. Die aufgefundenen Partituren kopierte er handschriftlich – mit dem Ziel, sie in Wien aufzuführen. Es folgten weitere Italienreisen: so nach Florenz, Neapel und Rom. In der italienischen Hauptstadt verbrachte Cerha die meiste Zeit. Einen Frühling lang, von Anfang Februar bis Ende Juni 1957, lebte er hier – ein Aufenthalt, den ihm ein Stipendium des österreichischen Bundesministeriums für Unterricht ermöglicht hatte. Das mediterrane Lebensgefühl, die Kultur und Musik des Landes inspirierten den Komponisten. Mit Relazioni fragili und Espressioni fondamentali entstanden in Rom zwei wichtige Werke, die einen internationalen Esprit atmen – nicht nur durch ihre italienischen Titel. Angeregt von den Debatten der Darmstädter Avantgarde arbeitete Cerha hier, in der italienischen Metropole, an den für Österreich zentralen Beiträgen zum aktuellen Kompositionsstil, dem Serialismus. Rückblickend schilderte er: „Ich habe lange Zeit Wert darauf gelegt, mich als Weltbürger zu sehen, und habe auch gemeint, dass ich eine entsprechende Musik mache.“Thomay Meyer, Interview mit Friedrich Cerha, https://www.evs-musikstiftung.ch/de/preise/preise/archiv/hauptpreistraeger/friedrich-cerha/interview.html

Stadtaufnahmen einer Italienreise, private Fotos von Friedrich Cerha

Nicht nur als Komponist fühlte sich Cerha welt(zu)gewandt. Die Tätigkeit, wegen der er meist das internationale Parkett betrat, war das Dirigieren, vor allem die Leitung des Ensembles „die reihe“, das er 1959 (mit-)gegründet hatte, um die internationalen Novitäten nach Wien zu holen. Doch sorgten seine Leistungen als Leiter der „reihe“ schon nach kurzer Zeit für zahlreiche Gastspiele: so in Paris, Warschau, Hamburg, Stockholm, Brüssel, Prag, Zagreb, Rom, Berlin, Budapest, Amsterdam oder Venedig (um nur einige Städte zu nennen) – mit der Konsequenz, dass Cerha als Dirigent und Spezialist für moderne Musik auch unabhängig von seinem Ensemble vermehrte Beachtung erfuhr und entsprechende, auch internationale Einladungen erhielt.

Cerha zu Besuch in Amsterdam, 1962

Unter den Konzertreisen der „reihe“ ragt eine besonders hervor. Im April 1970, nach bereits vielen Erfolgen in Europa, gelang der Gruppe der Sprung über den ‚großen Teich‘. Cerha bereiste mit seinen Musiker:innen einen Monat Nordamerika, von der kanadischen Hauptstadt Ottawa bis weit in die USA: Maryland, Massachusetts, Cincinnati, Ohio, Wisconsin, Illinois und zuletzt Kalifornien. Die Musiker:innen traten hauptsächlich in den Auditorien von Universitäten auf. Das Programm: Österreich pur, eine Art ‚Exportschlager‘. Zum Kernrepertoire gehörten Arnold Schönbergs Pierrot Lunaire, Cerhas eigener Catalogue des objets trouvés, Roman Haubenstock-Ramatis Multiple II und György Ligetis in Ottawa uraufgeführtes, der „reihe“ auf den Leib geschriebenes Kammerkonzert. Bis auf Schönbergs 1912 entstandenes Melodram waren alle anderen Kernstücke erst 1969 komponiert worden. Cerha vertrat konsequent den Anspruch, ein aktuelles, frisches Programm zu präsentieren und der Wiener Musik so einen Platz auf der Weltbühne zu verschaffen.

Dokumente der Amerika-Tournee der „reihe“, alle 1970
Konzertplakat der University of California, Davis (l.), Zeitungsartikel aus Wien (o.r.), Überschriften zu Artikeln aus San Francisco Examiner, The Cincinnati Enquirer, Chicago Sun-Times

In Amerika stieß Cerha auf ein ebenso kundiges wie begeisterungsfähiges Publikum. Auch die Presse feierte das Ensemble. Fast schien es, als ob man hier der „reihe“ freundlicher gesonnen wäre als in Wien. Langsam aber sicher schien sich jedoch auch in Österreich der Wind zu drehen – ein Verdienst Cerhas, der die internationale Moderne jahrelang in die Hauptstadt importiert hatte.
Die Zeit der großen Tourneen neigte sich im Lauf der 1970er Jahre dem Ende entgegen, auch wenn die „reihe“ weiterhin im Ausland gastierte, etwa in London, Madrid oder Barcelona. Das Reisen blieb für Cerha nicht nur als Dirigent wichtig. Impulse aus aller Welt wirkten mit der Zeit immer stärker auch auf sein künstlerisches Schaffen ein.

Rückkehr der „reihe“ von ihrer Amerika-Tournee, 1970

Spuren der Welt

Die „kleine Welt, in der“ Cerha „groß“ geworden war, wirkte wie ein kultureller Schmelztiegel.Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 18 In der Wiener Vorstadt besaß das „bäuerliche Hinterland“ die selbe Präsenz wie das „mit dem großstädtischen Proletariat konfrontierte Kleinbürgertum“. Kulturell verschiedene Identitäten prägten Cerhas „später sehr waches Bewusstsein für das Weltgeschehen“. Sein Leben lang blieb er anderen Kulturen gegenüber offen. Häufig waren es Gemeinsamkeiten, die ihn inspirierten, Kerne des Menschseins. Das große Interesse an spirituellen Fragen „aller Weltreligionen“Cerha, Begleittext zum Requiem, AdZ, 000T0131/2 zählt etwa dazu. In den 1970er Jahren reiften erste Überlegungen, ein universales Requiem zu schreiben. Cerha zog „Totenbücher aus verschiedenen Kulturen und auch das Buch Kohelet aus dem Alten Testament“ in Erwägung. Viel später, zur Jahrtausendwende, änderte er seine Pläne und entschied sich stattdessen, eigene Dichtungen zu vertonen und sie in das entstehende Requiem einzugliedern. Nichtsdestotrotz ist das monumentale Stück von einer spürbaren Achtung gegenüber allen Glaubensrichtungen geprägt. „Noch heute stehen neben meinem Bett Bibel, Talmud und Koran friedlich nebeneinander und ich frequentiere sie auch“, so Cerha – „nicht, weil ich ein so religiöser Mensch bin, sondern weil mich das Rätselhafte der Offenbarungsreligionen, die so sehr unsere kulturelle Evolution bestimmt haben, reizt.“Sabine Töfferl, Friedrich Cerha. Doyen der österreichischen Musik der Gegenwart. Eine Biografie, Wien 2017, S. 26 Auf der anderen Seite beeinflusste ihn auch die asiatische Spiritualität, angeregt von der „fernöstliche[n] Weltanschauung“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 32 Josef Matthias Hauers oder dem Zen-Buddhismus à la John Cage, Kollegen, denen Cerha auch persönlich begegnete. Aus dem chinesischen I-Ging, einer uralten Sammlung von Strichzeichen und Sprüchen aus dem 3. Jahrtausend v. Chr., vertonte er bereits 1952 einen Abschnitt für Solostimmen, Chor und Orchester, fasziniert vom „Denken in Wandlungen“ und „Entwicklungslosen“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 219. Das Manuskript des Fragments ist heute leider verschollen.
Koran und I-Ging, Exemplare im Privatbestand Cerhas

Foto: Christoph Fuchs

Auch in Cerhas visuellen Arbeiten ist eine Art universaler Spiritualität ortbar. Private Fotografien, die seine Reisen dokumentieren, offenbaren sein Faible für Architektur, Skulptur und Natur. Im Jahr 1969 reiste die Familie nach Kreta. Dort besuchte sie antike Ausgrabungsstätten wie den minoischen Palast von Knossos – versunkene Welten, die ihre Aura jedoch nie verloren haben. Die Bilder der prächtigen Säulen und Jahrtausende alten Ruinen ließen Cerha zum Baumeister werden: Seine mediterran anmutende Kapelle in Maria Langegg ist zwar seine einzige architektonische Arbeit, aber ein beredtes Beispiel für die Wechselwirkung von Welteindrücken und (buchstäblich) eigenhändiger Gestaltung.

 

Eindrücke aus Kreta, private Fotos von Friedrich Cerha

Als Steingestalter und Sammler nutzte Cerha seine Reisen auch, um Rohmaterial für Skulpturen und Assemblagen aufzuspüren. Wie viel davon er in seine Bilder integrierte, ist schwer zu sagen – zahlreiche Objekte verschweigen ihren Fundort. Andere wiederum tragen ihn nach außen: In Triest, der Hafenstadt im Nordosten Italiens, fand er während der 1960er Jahre einige Steine mit ungewöhnlichen Grundformen – Naturmaterial im besten Sinne. Er wandelte sie zu Kunstobjekten um, indem er sie abschliff und einsockelte. Die so entstandenen ‚Objets trouvés‘ verbinden Kreations- und Entdeckerfreude.

Stein aus Triest am mutmaßlichen Fundort, privates Foto von Friedrich Cerha, 1960er Jahre

Anderenorts waren es Klänge, welche Cerhas Vorstellungskraft anregten. 1989, zur selben Zeit, als er auch die slowakischen Melodien seiner Kindheit wiederentdeckte und bearbeitete, gerieten gleich mehrere außereuropäische Kulturen in sein Sichtfeld. Starke Impulse erhielt er von einer Frühjahrsreise nach Marokko. Im Süden des nordafrikanischen Lands verweilte er für längere Zeit und hatte so die Gelegenheit, der musikalischen Kultur und der Geschichte der Region nachzuspüren. „Live-Erlebnisse arabischer Musik“ waren schließlich das „unmittelbar auslösende Moment“ für sein erstes Streichquartett, das er zu Großteilen noch vor Ort komponierteSchriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 259. Gleichwohl war Cerha die marokkanische Sphäre nicht völlig unbekannt. Mit islamischer Kultur hatte er sich im Studium beschäftigt, wie seine in jener Zeit entstandenen Zehn Rubaijat bezeugen, Vertonungen alter, persischer Dichtung. Nun jedoch nisteten sich erstmals auch die Klänge der Ferne in seine Musik ein. Symptomatisch ist die Art ihrer Verarbeitung: Zwar nutzte Cerha im Quartett erstmals (in westlicher Musik nicht vorkommende) Vierteltöne oder wendete die alte arabische Technik „maqam“ an, der sich auch der Werkuntertitel verdankt. Vordergründig orientalisch klingt das Stück jedoch wenig. Vielmehr zeigt es, „dass die schöpferische Fantasie sich an musikalischen Zuständen und Konstellationen beflügelt hat, wie es sie in unseren Breiten nicht gibt,“ so der KomponistSchriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 259. In dieser Weise sind auch andere Stücke zu verstehen, die in die Welt hineinhören – etwa das mit dem ‚Ohr‘ nach Ozeanien gerichtete Zweite Streichquartett oder das multikulturell geprägte Phantasiestück in C.‘s Manier. Nicht alle Orte, die in Cerhas Musik präsent sind, besuchte er auch: Papua-Neuguinea etwa musste er nicht bereisen, um dennoch von der uralten, ethnischen Kultur fasziniert zu sein, die sich rund um den tropischen Fluss Sepik bis heute erhielt. Die Neugierde genügte, um aus der eigenen, gewohnten Welt geistig aus- und zu unerkundeten Ufern aufzubrechen.

Cerha, 1. Streichquartett „Maqam“, Skizze zum Material mit Vierteltönen, 1989, AdZ, 000S0104/14