Der Komponist
Cerha beim Komponieren
Zwei Hauptarbeitsplätze lassen sich Cerha, dem Komponisten, zuordnen: Ein von Pflanzen überwuchertes Glashaus in Maria Langegg und das Komponierzimmer in seiner Wiener Wohnung (der Schauplatz dieses Portraits).
Foto: © Hertha Hurnaus
Eine kurze Geschichte des Komponisten Friedrich Cerha
Friedrich Cerha, ein Jahrhundertkomponist: In zehn Dekaden, von den 1930er bis zu den 2020er Jahren, schrieb er Musik – und wie sich die Gesellschaft spürbar wandelte, so veränderten sich auch seine Klangwelten. Mit der Violine begann alles: Von den Saiten war es zu den Seiten – denjenigen des Notenblocks – nicht weit. So waren die ersten Kompositionen, die Cerha kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schrieb, Stücke für ‚sein‘ Instrument. Sie fingen den Geist früherer Zeiten ein, die Salonmusik und Walzerklänge des an sich selbst berauschenden Wiens. Spätestens nach dem Krieg schienen diese Klänge ein für alle Mal das Echo einer fernen Vergangenheit zu sein.
Nach 1945 suchte Cerha wie ein Forscher mit Vorliebe unbekannte musikalische Gefilde auf. Neugierig sog er alles auf, was ihm nicht bekannt war – auch Musik, die schon einige Jahrzehnte alt war, jedoch in der Kriegszeit auf den schwarzen Listen gestanden hatte. Anregungen gingen vom französischen Impressionismus, von slawischer Musik, von der Neoklassik und schon bald von den zwölftönigen Werken der damals kaum gespielten Wiener Schule aus. Aus der Akademiebibliothek nahm Cerha kofferweise Partituren mit, studierte und spielte sie – oft im Duo mit Weggefährten wie Hanns Kann oder Gerhard Rühm. Die experimentierfreudigen Wiener Komponisten schlossen sich nach und nach zu einer locker gefügten Gruppe zusammen, „die mit jungen bildenden Künstlern und Literaten aus dem „Art-Club“ sympathisierten.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 218 Zwar stand man einer strengen Kollektivästhetik skeptisch gegenüber (schließlich hatte die Aufhebung individueller Freiheit wenige Jahre zuvor zur Katastrophe geführt), doch Gemeinsamkeiten bildeten sich dennoch heraus. Gegen den herrschenden akademischen Stil wandte man sich mit den Mitteln einer eigenständigen Musiksprache. Das Stichwort hieß Reduktion: Im bewussten Verzicht auf die entwickelnde Arbeit mit Themen und Motiven entstand eine Art österreichischer Minimalismus. Cerhas Buch von der Minne (1946-64), ein gigantischer Liederzyklus, ist von derartigen Ideen besonders stark geprägt.
Mit großer Sensibilität entdeckte Cerha zugleich das Neue im Alten. Seine Interessen galten speziell dem frühen Barock, jener Zeit, in der sich ein nie dagewesener, zutiefst menschlicher Ausdruck in Kunst und Musik offenbarte. Werke wie die Arie und Fuge für acht Bläser (1946) oder Ricercar, Toccata und Passacaglia (1951/52) beschwören schon im Namen jahrhundertealte Gattungen, begegnen ihnen aber von einem gegenwärtigen Standpunkt. Sein Leben lang sollte Cerha ein Vermittler zwischen dem Alten und Neuen bleiben, nicht zuletzt baute er durch die eigens ins Leben gerufene Konzertreihe „Wege in unsere Zeit“ Brücken.
Mitte der 1950er Jahre wurde Cerhas Sehnsucht nach Neuem so groß, dass er die Grenzen Wiens zu verlassen suchte. Sein Weg führte ihn nach Darmstadt, in das Zentrum für zeitgenössische Musik. Hier bildeten die seit 1946 stattfindenden Internationalen Ferienkurse für Neue Musik ein Forum der Avantgarde; hier entstand ein neuer musikalischer Stil: der Serialismus, eine radikale Weiterentwicklung der Zwölftontechnik, die auch Cerha in den Bann zog. Progressive Werke wie Deux éclats en reflexion (1956), Relazioni fragili (1956-57) oder Intersecazioni (1959) spiegeln seine Deutung der seriellen Verfahren, eine Auffassung, die allerdings nie dogmatisch war. Cerha absorbierte das Neue mit stets kritischem Hintersinn. Immer stand es im Dienst der Fantasie: „Ich konnte und wollte das Ordnen von Vorgestelltem nicht missen. Mein Wille zu Ausdruck und Form war größer als mein Wille zur Befreiung“,Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 223 beschreibt der Komponist.
Das Darmstadt der 1950er Jahre war zugleich ein Ort, an dem um die Zukunft der Musik gerungen wurde. „Die Stimmung des Aufbruchs in neue musikalische Welten“, so Cerha, „die fieberhaft gespannte Atmosphäre, in der vom Frühstück bis in die späte Nacht in hitzigen Debatten neue Möglichkeiten der Strukturierung und Organisation von Musik diskutiert wurden, war wohl für alle ein aufregendes Erlebnis.“Cerha, „Viele Anregungen vom Rande. Stimmung des Aufbruchs in neue Welten“, in: Rudolf Stephan u.a. (Hg.): Von Kranichstein zur Gegenwart. 50 Jahre Darmstädter Ferienkurse. 1946-1996. Stuttgart 1996, S. 188-191, hier S. 188
In Cerhas damaligen Kompositionen lassen sich aktuelle Trends aufspüren – die Ideen einer formaler Offenheit etwa, gefasst mit dem Schlagwort Aleatorik, finden 1959 im Ensemblewerk Enjambements ihren Niederschlag, einem der letzten Werke der von Darmstadt inspirierten Periode. Im selben Jahr wandte sich Cerha völlig neuartigen, erträumten Klangwelten zu, bei deren Fixierung er „offensichtlich weiterer Anregungen von außen nicht mehr bedurfte.“Cerha, „Viele Anregungen vom Rande. Stimmung des Aufbruchs in neue Welten“, in: Rudolf Stephan u.a. (Hg.): Von Kranichstein zur Gegenwart. 50 Jahre Darmstädter Ferienkurse. 1946-1996. Stuttgart 1996, S. 188-191, hier S. 191
Um 1960 geriet die Idee der Masse ins Blickfeld Cerhas. Ausgehend von den Mouvements, „drei Zustandsstudien […], in denen [er] zum ersten Mal nicht nur auf Melodik, Harmonik und Rhythmik im überlieferten Sinn, sondern auch auf serielle Ordnungen“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 225 verzichtete, entstanden riesig besetzte Orchesterwerke – zunächst Fasce (1959), schließlich der Zyklus Spiegel (1960/61). Beide Kompositionen sind Beispiele für eine verästelte Klangflächenmusik, gewoben aus zahlreichen individuellen Stimmen. An ähnlichen Gebilden arbeiteten zur selben Zeit auch andere Komponisten, György Ligeti oder Krzysztof Penderecki etwa, ohne voneinander zu wissen. Das Grundproblem einer Lösung von den Ordnungszwängen der seriellen Musik lag in der Luft. Anders als seine Kollegen hatte es Cerha ungleich schwerer, seine Musik auf der Konzertbühne zu erleben: Das konservative Wien war mit Blick auf zeitgenössische Klänge und ihrer öffentlichen Repräsentation nicht sonderlich entwickelt. Von den widrigen Bedingungen ließ Cerha sich dennoch nicht beeindrucken: Er komponierte, was er innerlich empfand, wohl bewusst, dass seine Partituren zunächst in der Schublade landeten. Bis er seine sieben Spiegel als zusammenhängendes Werk hören durfte, vergingen zwölf Jahre – die visionäre Ausdruckskraft der Musik erhielt sich. Ein utopisches Moment haftet ihr jedoch bis heute an. So schafften es die Spiegel bislang nicht auf die Theaterbühne, obwohl ein ambitionierter Szenenentwurf existiert.
Nach Phasen mit experimentellen Schwerpunkten brach Cerha im Laufe der 1960er Jahre abermals zu neuen Ufern auf. Die Detailverliebtheit seiner Klangkompositionen sowie deren Hang zu monolithischer Masse weckte das Interesse für Gegenteile: Transparenz, Beweglichkeit und Tradition. Mit den Exercises (1962-67) verschaffte Cerha diesen Sehnsüchten Gehör, ohne jedoch seine vorangegangenen Erfahrungen als Komponist zu vergessen. Innerhalb eines Klangsystems mit verschiedenartigen Ebenen, die sich wechselseitig beeinflussten, integrierte er alles, was ihn zuvor beschäftigt hatte: serielle Ordnungen, verwachsene Klanggebilde, motivische Variationen und Mischungen daraus – sogar eine eigene Kunstsprache erfand er für das Stück. Maßgeblich genährt wurden seine kompositorischen Vorstellungen von der Kybernetik, einer jungen Universalwissenschaft, die sich mit im Gleichgewicht befindlichen Systemen und deren Störungen beschäftigt. Schon in Fasce hatte Cerha die Impulse aus diesem Gebiet genutzt, um dramatische Prozesse zu entwerfen, dort jedoch innerhalb einer puristischen Klangwelt. Diese Beschränkung auf ein bestimmtes Material, eine exklusive Art des Musikschreibens, gab Cerha nun auf. In den späten 1960er Jahren folgten Werke, die mit der forcierten Vielseitigkeit nahezu spielerisch umgingen: Der Catalogue des objets trouvés etwa oder die erste seiner drei Langegger Nachtmusiken (beide 1969). In diesen Stücken dringt auch fremde Musik ans Ohr: Zitate und Allusionen beschwören subtil die musikalische Vergangenheit. Die Konfrontation mit der Tradition schien unvermeidbar, um Wege aus der Sackgasse der Avantgarde zu finden.
Cerha komponierend in Maria Langegg
Foto: Hertha Hurnaus
Artikulierte sich in den Exercises und dem auf ihnen aufbauenden Bühnenwerk Netzwerk der Bruch, das „Nebeneinander von Ebenen“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 245, so wuchs in den 1970er Jahren Cerhas Interesse am Vereinigen. Die entstehende Oper Baal (1974-80) nach einem Libretto Bertolt Brechts förderte diese Tendenzen entscheidend. Um dem Publikum ein Identifikationserlebnis zu ermöglichen, verschmolz Cerha einzelne Aspekte seiner Kompositionserfahrungen zu einem homogenen Ganzen. Harte Kontraste wichen so einer suggestiven Musik mit feinen Übergängen, die dennoch ein enormes Ausdrucksspektrum kennt. Typisch für den Komponisten Cerha ist auch seine Achtsamkeit gegenüber dem Wort: Dort, wo Sprache Bedeutung transportiert, ordnet er sich „ihr bewusst und betont unter“.Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 150
Auf diese Weise gehen Wort und Ton eine sinnliche Einheit ein – eine Erklärung für die emotionale Intensität der Baal-Musik. In späteren Opern wie Der Rattenfänger (1984–86), Der Riese vom Steinfeld (1997–99) oder Onkel Präsident (2008–10) blieb Cerha diesem Prinzip treu. Doch auch andere Werke bezeugen die enge Bindung seiner Musik an das Wort. Die Anfang der 1980er Jahre entstandenen Keintaten (1980–85) verklanglichen auf originelle und humorvolle Weise österreichische Dialektpoesie. Verwandt sind ihnen Eine Art Chansons (1985/87), die sich der Wiener Gruppe und ihrer Sprachexperimente annehmen, um sich „auf dem gefährlichen Terrain der ‚Kleinkunst‘“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 249 zu bewegen.
Beide Werke sind die Ergebnisse von Cerhas ausgiebiger Beschäftigung mit der eigenen kulturellen Herkunft.
Auch in späteren Schaffensjahren blieb Cerha gegenüber neuen Impulsen offen. Zu ihnen zählt die Beschäftigung mit außereuropäischen Musikkulturen. Sie spiegelt sich vor allem in Werken, die um 1990 entstanden. Eine längere Reise nach Marokko löste die Auseinandersetzung mit traditionellen, arabischen Kompositionstechniken aus. Cerha nutzte sie, um die eigene Fantasie anzuregen, nahm aber von jeglichen Formen kultureller Aneignung Abstand. Auch Klangkulturen weiter entfernter Regionen hinterließen Spuren, etwa afrikanische oder ozeanische. Wie so oft beschäftigte sich Cerha mit diesen Phänomenen eine Zeit lang besonders intensiv. Subkutan wirkten die gewonnenen Einsichten jedoch lange nach.
Im neuen Jahrtausend scheinen viele Aspekte von Cerhas Schaffen in veränderter Gestalt wieder an die Oberfläche zu dringen. Deutlicher als zuvor entstehen parallel höchst unterschiedliche Werke. Monumentale Orchesterstücke wie Hymnus (2000), Nacht (2013) oder Eine blassblaue Vision (2013/14) knüpfen an das frühe Klangkomponieren an. Gegenüberstellungen von Kollektiv und Individuum verwirklichen sich sowohl in filigran besetztem Rahmen, z.B. in der Musik für Posaune und Streichquartett (2004/05), als auch in großen Dimensionen, wie im virtuosen Konzert für Schlagzeug und Orchester (2007/08) für Martin Grubinger. Einem akademischen Kompositionsstil tritt Cerha hingegen in Kompositionen entgegen, die kleine, poetische Formen zelebrieren: Momente (2005), Instants (2006/08) oder Kurzzeit (2016/17) bringen die „Freude an der Spontaneität des Einfalls, am ‚Blitz‘ der Intuition“ zum Ausdruck.Cerha, Begleittext zu Momente, AdZ, 000T0137/2
Verantwortlich für die offensichtliche Vielfalt seines Schaffens sei, erläutert Cerha, „dass [er] in mehreren Etappen [s]einer Entwicklung, jeweils von einem Punkt ausgehend, unterschiedliche Evolutionsstränge verfolgt habe, die sich auseinanderentwickelt haben.“Joachim Diedrichs: Friedrich Cerha. Werkeinführungen, Quellen, Dokumente, Wien 2018, S. 126 Sein Œuvre gleicht – um mit einem seiner sinnbildlichsten Titel zu sprechen – einem Netzwerk.