Ein Buch von der Minne
Dû bist mîn, ich bin dîn…
Konzert für Schlagzeug und Orchester
Monumentum
Portrait von Walther von der Vogelweide
Wandmalerei, Burg Berwartstein, Rheinland-Pfalz (Deutschland)
Die Lyrik von Walther von der Vogelweide gehört zu den zentralen Errungenschaften mittelalterlicher Dichtung. Eine bildliche Darstellung aus dem „Codex Manesse“ (zwischen 1305 und 1315) zeigt den Versschreiber sitzend auf einem großen Stein, in seiner Hand ein leeres Spruchband. Diese Darstellung verbreitete sich und wurde vielfach ausgestaltet – hier mit einer Variation der anonymen Verse „Dû bist mîn, ich bin dîn“ auf dem Band, die auch in Cerhas Buch von der Minne auftauchen.
Bildquelle: H.Zell/Wikimedia
Die Lyrik des Mittelalters gehört zu den besonderen Interessen des literarisch hochgebildeten Cerha.
Kein Wunder, dass sich ein Band mit gleichem Namen in seiner Privatbibliothek findet.
Max Wehrli, Deutsche Lyrik des Mittelalters, Zürich 1955, Exemplar im Privatbestand Cerhas
Foto: Christoph Fuchs
Mit großem Engagement widmete sich der Schweizer Literaturhistoriker Max Wehrli der vormodernen Überlieferungsgeschichte deutschsprachiger Literatur. Der von ihm herausgegebene Gedichtband gehört zur Reihe „Manesse Bibliothek der Weltliteratur“ – mit „Manesse“ ist der „Codex Manesse“ gemeint: die umfangreichste, erhaltene Handschrift mittelalterlicher Lieder. Auf 426 Pergamentblättern wurden die Texte zahlreicher Autor:innen im 14. Jahrhundert niedergeschrieben. So erhielt sich die Poesie bis in die Gegenwart. Für die Dichtungen des „Codex“ konnte sich Cerha schon früh begeistern. Seine Neugier war nicht nur literarischer, sondern auch musikalischer Natur. Im Liederzyklus Ein Buch von der Minne ordnete er die Texte zu einem neuen Ganzen und vertonte sie. Gewidmet ist er seiner eigenen Liebe: Gertraud Cerha.
Außenansicht
Kompositorisch beschäftigten den jungen Cerha in den 1930er und 40er Jahren besonders zwei Dinge: einerseits Geigenmusik, andererseits das Vertonen von Texten. Beides bot ihm Rückhalt: Auf seinem eigenen Instrument kannte er sich gut aus, wohingegen die Lyrik eine Hilfe war, eigene musikalische Vorstellungen heranreifen zu lassen. Im Alter zwischen 14 und 16 Jahren entstanden etwa vierzig Lieder nach diversen poetischen Texten, alle für Singstimme und Klavier. Nur zwei davon, eines von Eduard Mörike und eines von Theodor Storm, sind bis heute erhalten geblieben (alle anderen vernichtete der Komponist zwei Dekaden später). Allein die Zahl der Lieder spricht jedoch für sich. Sie deutet auf Cerhas frühe literarisch-musikalische Neugier.
Nach der Zäsur des Weltkriegs setzte sich die Linie fort, verlief aber in eine andere Richtung. Waren viele frühe Lieder Cerhas noch von der Tradition geprägt gewesen, indem sie einem opulenten Stil (im Sinne der späten Romantik) nacheiferten, so interessierte sich der Komponist nun für das Schlichte. Weniger ist mehr – nach diesem Motto komponierten auch andere, zum Beispiel Gerhard Rühm, Ernst Kölz oder Paul Kont. Besonders letzterer wurde für Cerha zu einer „Art Vaterfigur“, obwohl „nur sechs Jahre älter“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 28. Sein „minimalistisches Vorgehen, ein Stück auf eine Bewegung, auf ein Motiv zu stellen“, hatte bald Vorbildcharakter für die gesamte Gruppe: Ihre Ideen der Reduktion reiften im Untergrund heran, ohne an die ‚Oberfläche‘ (die großen Kulturstätten Wiens) zu dringen. Die progressiven Musiker trafen sich stattdessen in den Lokalen des „Art Club“, wo sie auch Maler und Literaten begegneten:
In den anderen Kunstgattungen hatte sich aus naheliegenden Gründen die Auseinandersetzung mit Erscheinungs- und auch Extremformen der Vorkriegskunst viel früher als in der Musik vollzogen. Prinzipiell an Neuem interessierte Musiker waren davon fasziniert und entwickelten unter der Ägide Konts eine eigene Art von Opposition, die sich bewusst gegen den Akademismus der herrschenden Stile wandte. Ihre Tendenzen standen im Gegensatz zur Ästhetik und zur motivisch-thematischen Arbeitsweise der Romantik wie auch der Schönberg- Schule, ebenso zu den Nachfahren des Fin de siècle, aber auch zu den damals aus dem Boden schießenden „Mathis-Kreisen“ der Hindemithianer. Dem Lied kam in unserer Arbeit eine besondere Bedeutung zu und mein großer Zyklus Ein Buch von der Minne (1946-1964) ist ein Dokument, das Wesentliches am zugrundeliegenden stilistischen Wollen belegt.
Friedrich Cerha
Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 218 f.
Die ersten Lieder aus dem Buch von der Minne entstanden schon ein Jahr nach Kriegsende, die letzten erst 1966, zwanzig Jahre später. Trotz des langen Zeitraums, in dem Cerha etliche Entwicklungen als Komponist durchlebt hatte, zeigt sich der Zyklus als ein homogenes Ganzes. Er spiegelt vorwiegend die heute fast vergessenen und damals oft verborgenen Strömungen der Wiener Nachkriegsjahre.
Brücke
Cerhas Jahre nach 1945 waren nicht nur vom Flanieren durch die Lokale des „Art Club“ geprägt, sondern auch von seiner Lernzeit. Neben den vielfältigen musikalischen Aktivitäten an der Akademie, nahm das Studium der Germanistik an der Wiener Universität viel Raum ein. An Literatur war er im doppelten Sinne interessiert: Einerseits packte er seine Koffer mit Partituren aus der Musikbibliothek voll, um diese auch praktisch zu studieren. Andererseits war er ein begeisterter Leser: Bereits vor dem Studium vertiefte er sich in die zeitgenössische Literatur, las Texte von Thomas Mann bis Arthur Schnitzler. Doch auch dem Fernen konnte er viel abgewinnen: Mit Studienbeginn trat die Dichtung des Mittelalters in den Vordergrund. Ihre Lektüre schlug Cerha besonders in den Bann. Mit welchen Aspekten er sich damals beschäftigte, bezeugen die beiden erhaltenen Studienbücher aus den Jahren 1944 und 1946.
Erstaunlicherweise gingen die ersten Impulse auf dem Gebiet vom Musikstudium aus: Bereits im Sommersemester 1944 (seinem ersten) belegte Cerha den vielsagenden Kurs „Minnesang und Troubadour“. Die Kriegszäsur folgte auf dem Fuß. Erst nach einer Zwangspause von gut einem Jahr konnte er das Studium wiederaufnehmen. Nun intensivierte sich seine Auseinandersetzung: An der Akademie studierte er 1946 die „weltliche Musik im Mittelalter“, während er an der Universität zeitgleich „mittelhochdeutsche Übungen“ absolvierte. Auch Seminare zur Dichtung zwischen dem achten und zehnten Jahrhundert sind verzeichnet – insgesamt ergab sich also ein reichhaltiges, sowohl sprachlich, literarisch und musikalisch grundiertes Gesamtbild von der zeitlich fernen Lyrik. Mit den ersten, parallel zum Studium entstandenen Liedern aus dem Buch von der Minne verknüpfte Cerha die gewonnenen Einsichten unmittelbar künstlerisch miteinander.
Einige verzeichnete Kurse aus Cerhas Studienbüchern, 1944 und 1946, AdZ
Die Dichtungen, die Eingang in Cerhas „Minnebüchlein“ fanden, sind divers. Viele der Texte lassen sich nicht mehr auf eine:n Autor:in zurückführen. Andere wiederum knüpfen sich an prominente Namen: Zwei Lieder stützen sich etwa auf Texte des wohl bedeutendsten mittelalterlichen Lyrikers, Walther von der Vogelweide, der – wie die meisten anderen – nicht nur Verse schrieb, sondern diese auch selbst vortrug. Auch andere berühmte Minnesänger geben sich als Autoren der von Cerha ausgewählten Texte zu erkennen. Unter ihnen: Der Schwabe Meinloh von Sevelingen (einer der frühesten Künstler seiner Zunft), der aus Mitteldeutschland stammende Heinrich von Morungen oder Dietmar von Aist, ein Liebeslyriker aus dem Donauraum. Am häufigsten tritt im Zyklus der Name „Der von Kürenberg“ in Erscheinung, ein Minnedichter mit niederösterreichischen Wurzeln. Sehr wahrscheinlich stammte er aus einem Ort, der unweit von Cerhas Domizil in Maria Langegg liegt (Kirnberg an der Mank im Bezirk Melk). Seine wohl schlagkräftigste Dichtung, das „Falkenlied“, taucht auch im „Minnebüchlein“ auf: Erzählt wird hier von der Zucht des anmutigen Vogels, der sich eines Tages losreißt und in die Ferne fliegt. An seinem Gefieder hängt jedoch noch der goldene Schmuck seines Besitzers – eine Allegorie über den Widerspruch zwischen Freiheits- und Bindungsbedürfnissen.
Schließlich findet sich auch eine Frau in der Dichterriege wieder: Die christliche Mystikerin Mechthild von Magdeburg. Ihre originelle Liebespoesie verbindet die sinnlichen Bilder des alttestamentarischen Hohelieds visionär mit den Motiven des Minnesangs – die „vielleicht kühnste erotische Dichtung, die wir aus dem Mittelalter besitzen.“Wolfgang Mohr, „Darbietungsformen der Mystik bei Mechthild von Magdeburg“, in: Hugo Kuhn und Friedrich von der Leyen (Hg.): Märchen, Mythos, Dichtung. Festschrift zum 90. Geburtstag Friedrich von der Leyens am 19. August 1963, München, 1963, S. 375-400, hier S. 393 Die beiden von Cerha ausgewählten Texte hingegen, die das „Minnebüchlein“ beschließen, erweisen sich fast als freie Varianten einer buddhistischen Gesinnung: „Dein eigenes Etwas / muss werden Nichts“ heißt es im vorletzten Lied – die Auflösung des Subjekts, seiner Leiden, seiner Begehren, wird hier zum letzten Thema eines Zyklus, der alle Schattierungen der zeitlosen Liebeswelt erkundet.
Der Minnesänger Konrad von Altstetten mit Frau und Falke, Codex Manesse, 14. Jahrhundert
Bildquelle: Universitätsbibliothek Heidelberg
Innenansicht
Sowohl der lange Entstehungszeitraum als auch die vielen Texte verschiedener Dichter:innen beeinflussen den ‚Einband‘ von Cerhas Minnebüchlein. Wie bereits der Titel suggeriert, handelt es sich nicht um eine lose Sammlung von Stücken – so wie noch die vierzig Lieder, die einige Jahre zuvor entstanden. Der Anspruch, einen zusammenhängenden Zyklus zu schaffen, zeigt sich bereits in der allumfassenden Beschränkung auf die mittelalterliche Dichtkunst. Zugleich schaffen die verschiedenen Textquellen neue Herausforderungen: Ein innerer Zusammenhang zwischen den einzelnen Minnedichtungen ist nicht per se gegeben, so wie in Liederzyklen, die auch auf Gedichtzyklen aufbauen (genannt seien Schumanns Dichterliebe nach Heinrich Heine oder Schönbergs Buch der hängenden Gärten nach Stefan George). Es lag an Cerha, einen solchen Zusammenhang zu schaffen. Für die Fügung der einzelnen Lieder zu einem Ganzen kommt ihrer Anordnung eine zentrale Bedeutung zu. Ein dem Zyklus angestellter Untertitel gibt Aufschluss über die spezielle Kombinatorik:
Cerha, Ein Buch von der Minne, Autograf, Titelblatt, ca. 1966, AdZ, 00000014/102
„4 x 11 Lieder“ – dieser Zusatz weist darauf hin, dass es sich beim Minnebüchlein nicht nur um einen großen, sondern eigentlich um vier Zyklen handelt, die sich zusammenschließen. Die gleichgewichtige Proportionierung mag etwa an Schuberts Winterreise (nach Wilhelm Müller) erinnern, in der es zwei symmetrische Hälften à 12 Lieder gibt. „Abteilungen“ sind jedoch nicht nur aus Gedicht- oder Liederzyklen bekannt, sondern kennzeichnen auch große, romanhafte Formen – etwa einige von Mahlers Sinfonien, die je mehrere Sätze zusammenfassen. Hier wie dort handelt es sich um erzählerische Mittel der Strukturierung: Eine Einteilung in Kapitel.
Im Zusammenhang mit den Binnenordnungen ist für Cerhas Buch von der Minne noch etwas anderes charakteristisch: Es ist innerhalb eines beträchtlichen Zeitraums erst zu einem musikalischen Ganzen angewachsen. In den 1960er Jahren führen die Exercises die Vernetzungsidee eines solchen Prozesses in anderer Weise fort. Auch dort entstehen mit der Zeit unterschiedliche Einzelsätze, die sich schließlich fast wie von selbst zu einem Organismus zusammenfügen. Das Minnebüchlein fühlt dieser Art der Entstehung vor – seine Zyklusbildung ist erst 1966 abgeschlossen. Dass sich die Aufteilung in vier Abschnitte erst mit der Zeit vollzog, beweisen etliche Niederschriften in den Skizzen. Die bereits fertigen Lieder wurden mehrmals in eine immer andere Reihenfolge gebracht. In diesen früheren Stadien lassen sich die späteren vier Unterzyklen noch nicht erkennen. Auch gibt es teils deutliche Abweichungen in der Kombination der Lieder. Am Anfang des Zyklus steht in mehreren der frühen, handgeschriebenen Auflistungen noch das Lied „Du bist mein, ich bin dein“ (auf den Manuskripten noch mit „Ich bin dein“ abgekürzt) – der Titel enthält einen der bekanntesten mittelalterlichen Verse überhaupt, prototypisch für die Minnelyrik und deshalb wohl als eröffnende Nummer gut geeignet. In der endgültigen Fassung jedoch wanderte das Stück an die siebte Stelle, umringt von einer sehr ruhigen und einer lebendigen Nummer. An den Anfang setzte Cerha stattdessen das Lied „Ich schlaf, ich wach, ich geh ich steh“ mit einem äußerst charakteristischen Thema. Der Wunsch nach einer einprägsamen Einleitung mag ihn zu dieser Rekombination bewogen haben. Tausch und Umschichtung sind auch an anderen Stellen zu beobachten. Das sanfte, lyrische Lied „Es ist ein Schnee gefallen“ bildet in vielen frühen Anordnungen den Abschluss des ersten Teils – mal ist es Nummer 7, mal 9, mal 10, je nach Ausdehnung der Teile, die ebenfalls immer unterschiedlich ausfällt. Erst viel später, innerhalb des endgültigen Zyklus, wandert es beträchtlich nach hinten. Es findet sich in der Schlussfassung an vierzigster Stelle, gehört also zu den letzten Nummern überhaupt. Die Gründe für die Verschiebung sind wohl dramaturgischer Art: Möglicherweise wollte Cerha im Schlussteil die Verbindung zum früheren ersten Teil stärken – schließlich knüpft das Lied mit seiner strengen, einprägsamen Monothematik an das oberste Gestaltungsprinzip des damaligen Künstlerkreises um Paul Kont an. Im finalen Zyklus wird es hingegen von jüngeren Stücken (Nr. 39 und Nr. 43) umgeben, die neuen musikalischen Ideen nachgehen. Der Kontrast (und so auch die innere Spannung) wird durch die Kombination erhöht.
Friedrich und Gertraud Cerha, Manuskriptseiten mit jeweils anderen Anordnungen der Lieder des Buch von der Minne, undatiert, AdZ, 000S0014
Bereits die mehrfachen, im Detail immer anderen Liedkombinationen deuten an, dass auch der finale Zyklus keiner zwingenden Strenge folgt. Eine später von Cerha formulierte, ästhetische Maxime ließe sich auch auf das Minnebüchlein beziehen: „Verschiedenes, locker zusammengefügt zur Einheit, reiche Vielfalt, aufgehend in Einem“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 239. Allein die Aufführungsgeschichte weist auf eine gewisse Autonomie der einzelnen Lieder hin. Die erste Interpretation im Wiener Frauenclub 1951 sah eine Auswahl verschiedener Lieder vor. Ähnlich geschah dies in späteren Konzerten, wobei immer eine andere Auswahl getroffen wurde – meist mit zwei Sänger:innen (Sopran und Tenor), die Cerha für zyklische Aufführungen empfiehlt.Cerha, Ein Buch von der Minne, Autograf, AdZ, 00000014/106
Kaum verwunderlich ist vor diesem Hintergrund, dass die „4 x 11“-Kombination aller Lieder keiner Narration folgt. Auch gibt es kein verbindendes lyrisches Ich, das erzählerischen Zusammenhalt stiften würde. Im Vergleich der vier Unterzyklen lassen sich aber einige Tendenzen, auch hinsichtlich der verwendeten Dichtungen, feststellen. Es fällt beispielsweise auf, dass im ersten Teil fast ausschließlich Texte mit „namenloser“ Autorenschaft gruppiert sind (bis auf Nr. 11). Die meist wenigen Verse sind im zeitlosen, beinahe archaischen Tonfall gehalten. Nach diesem ersten Zyklus geht es konkreter zu: Cerha wählt im zweiten Teil schwerpunktmäßig Gedichte des Kürenbergers aus und mischt sie mit anderer Minnelyrik. Die Poesie wird erzählerischer, spielt hier deutlicher auch mit mittelalterlichen Motiven (etwa der Falkenjagd oder dem Rittertum). Diese Tendenz erhält sich auch im dritten Teil, in welchem die Diversität an Autoren am höchsten ist. Reich sind auch die Szenerien: Eine Aue wird zum Schauplatz erotischer Begierde (Nr. 27), in einer nächtlichen Szene vereinigen sich die Liebenden, um mit Anbruch des Morgens wieder getrennt zu werden (Nr. 28), ein Jüngling wirbt um „des Königs Tochter“ (Nr. 32). Der vierte und letzte Teil hingegen schlägt teilweise den Bogen zum überzeitlichen Anfangsteil zurück. Dafür sprechen die transzendenten, unpersönlichen Verse Mechthilds von Magdeburg (Nr. 43 und 44), aber auch die spirituelle Dichtung „O Röslein rot“, die es im 19. Jahrhundert unter dem Titel „Urlicht“ nicht nur in Clemens Brentanos Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn schaffte, sondern auch in Gustav Mahlers Zweite Sinfonie.
Trotz der großen Anzahl von 44 Liedern herrscht musikalisch eine ungezwungene Einheitlichkeit – und zwar nicht nur im Vergleich der Stücke, sondern auch in ihnen selbst. Die österreichische ‚Minimalismus‘-Bewegung der ersten Nachkriegsjahre, der sich Cerha zugehörig fühlte, zelebrierte das Statische als musikalische Qualität. Ein Lied sollte von nur einer Idee leben: Von nur einem Motiv, das auf verschiedenen Tonstufen wiederkehren kann, von nur einem Charakter, der von Anfang bis Ende durchgehalten wird. Zu den Liedern aus dem Minnebüchlein erläutert Cerha:
Die radikale Beschränkung auf einen Charakter widerspricht der den Text nachzeichnenden, illustrierenden Technik Wolf-Strauss’scher Prägung und schließt bewusst an ältere Liedformen an. […] Größere Abschnitte oder ein ganzes Stück werden auf eine Art von Bewegung gestellt, thematische Entwicklung findet kaum statt, melische Figuren erscheinen in wenigen Varianten, harmonische Ebenen rücken oft, entfalten sich aber in meinen Liedern spannungsmäßig häufiger, als dies bei anderen Komponisten des Kreises der Fall war. Gleichwohl hat auch mich das Entwicklungslose, dem fernöstlichen Denken in „Wandlungen“ Nahestehende fasziniert, was eine verlorengegangene Vertonung aus dem I-Ging (1952), wie auch mein Besuch eines Kompositionsseminars bei Josef Matthias Hauer (1953) und das Studium seiner „Zwölftonspiele“ belegen.
Friedrich Cerha
Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 219
In ihrer Schlichtheit grenzen sich Cerhas Minnelieder von vielen Gestaltungsmitteln ab, die jahrhundertelang die Vorherrschaft der europäischen Kunstmusik innehatten: dramatische Formen, duale Kontraste, Entwicklung und motivische Weiterverarbeitung. Durch ihren Verzicht schlägt Cerha auch den musikalischen Bogen in eine weit zurückliegende Zeit: Echter Minnesang und vorgetragene Trobadordichtung konzentrierten sich in ähnlicher Weise auf den natürlichen, eng am Sprechen orientierten Gesang und eine schlichte Begleitung (etwa auf Laute oder Harfe).
4 x 1 Lied aus dem Buch der Minne
44 Lieder auf einmal sind für Aufführungen unpraktikabel. Es leuchtet ein, dass der gesamte Zyklus nicht oft in Konzerten zu hören ist. Daher hat sich mit der Zeit ein ‚Unterzyklus‘ gebildet. Er stützt sich auf eine Auswahl, die Cerha für den Verlag Doblinger vornahm. 14 Lieder stellte er aus den Teilen 1, 3 und 4 zusammen (die Hälfte davon entstammen allein dem ersten Teil). Für Konzerte wird im Regelfall nochmals neu kombiniert, durch eine ‚Auswahl der Auswahl‘. Einige Lieder (1–3; 5–7; 11; 28 und 41) haben sich zu einem Kern vereint, der viele Einspielungen prägt. Vier dieser ‚Kernlieder‘ sollen einen vertieften Einblick in Cerhas Vertonungen geben.
[Interpreten: Georg Klimbacher (Bariton) und Andreas Fröschl (Klavier)]