Ricercar, Toccata und Passacaglia

Neue Musik auf alten Instrumenten

Hymnus

Paraphrase über den Anfang der 9. Symphonie von Beethoven

Johannes Florenus Guidantus, Viola d’amore, 18. Jahrhundert

Zur Barockzeit war die kunstvolle Verzierung von Musikinstrumenten weit verbreitet. Die Schnecken historischer Streichinstrumente wie der Viola d’amore wurden manchmal so geschnitzt, dass ein menschlicher Kopf daraus entstand – eine Muse für den:die Spieler:in. Das dargestellte Instrument stammt aus der Hand des Geigenbauers Johannes Florenus Guidantus und wurde in Bologna angefertigt. 

Bildquelle: The Metropolitan Museum of Art

Neue Musik auf alten Instrumenten“:
So lautete nicht nur das Motto eines Konzerts im Jahr 1956, sondern auch die Überschrift zu einer Rezension desselbigen in der Tageszeitung „Weltpresse“.

O.A., „Neue Musik auf alten Instrumenten“, Weltpresse, Februar 1956, AdZ, KRIT0007/71

Wie viele Wiener Konzertkritiken aus den 1950er Jahren zeigt sich auch die in der „Weltpresse“ gegenüber der zeitgenössischen Musik nicht gerade aufgeschlossen. Kaum differenziert sie zwischen den einzelnen Werken der sieben Komponisten und greift nur drei explizit heraus. Neben einigen ‚cembalesken‘ Zwölftonspielen des damals noch lebenden Josef Matthias Hauer erwähnt die Rezension die zwei jüngsten seiner Kollegen: Paul Angerer und Friedrich Cerha, beide damals um die 30. Ihre frischen Ideen konnten, so heißt es, die Gefahr des „unfruchtbaren Historismus“ umschiffen – und doch steht die Frage im Raum, warum ein zukunftsorientierter Komponist wie Cerha damals drei barocke Sätze (Ricercar, Toccata und Passacaglia) für drei barocke Instrumente (Flöte, Viola d’amore und doppelchörige Laute) schrieb, während der etwa gleich alte Karlheinz Stockhausen in Köln beispielsweise schon an elektronischer Musik tüftelte. Antworten finden sich nicht nur im damals abgekapselten Kulturraum Wiens, sondern auch in Cerhas Interesse an einer anderen, vergangenen Moderne…

Außenansicht

Cerha, Klavierübung in barocken Formen für R.C., Skizzen, AdZ, 000S0044

Lässt man den Blick über Cerhas Werkverzeichnis der frühen 1950er Jahre schweifen, fällt eine unbestreitbare Affinität zu älteren Musikformen auf. Neben Ricercar, Toccata und Passacaglia finden sich Suiten, eine einzelne (heute verschollene) Toccata für Klavier (1950) oder eine Sonate für Bratsche und Gitarre (1951), für die auch eine Version mit Laute existiert. Selbst in zunächst unauffälligen Stücken wie dem Strawinsky nahestehenden Triptychon für solistische Bläser und Streichorchester (1948/51) tauchen alte Gattungen auf, hier in Form von Präludium, Canzonetta und (wieder einmal) Toccata. Ein Gipfel und Endpunkt stellt die Klavierübung in barocken Formen für R.C. (1954) dar, eine Suite mit Tanzsätzen à la Bach.
In einer Zeit, in der die aufstrebende Musikavantgarde
die Traditionsverbundenheit ablehnte, fällt Cerhas Bekenntnis zum Barock auf. Zugleich ist es selbst nicht ohne Tradition: Ins Gedächtnis kommt unweigerlich Arnold Schönbergs Klaviersuite (1921-23) aus der Frühzeit der Dodekaphonie. Der „Vater“ der Neuen Musik ließ durch Gavotte, Menuett oder Gigue ebenfalls den Barock aufleben, wenn auch im Gewand der zwölftönigen Methode. Schönberg hatte die alten Formen als Gerüst verwendet, um Neues zu schaffen. Ebenso nutzte Cerha die tradierten Gattungen für die Erkundung fortschrittlicher Techniken. Die „alte[n] Formen und Instrumente“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 218 weisen jedoch auch auf seine schon damals ausgeprägte Liebe zur Alten Musik hin, die seit seinem Studium „nie mehr abreißen sollte“.Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 217 Bei Erich Schenk belegte Cerha Kurse über die Barockzeit: Er lernte die Geschichte von Suite und Sonate kennen, vertiefte sich in Generalbassübungen und beschäftigte sich mit der Instrumentalmusik des 17. Jahrhunderts.Vgl. Cerhas Studienbuch 1948, AdZ, S. 10 Typisch für den jungen Komponisten: Seine eben gesammelten Kenntnisse verwandelte er unmittelbar seiner Kunst an.

Cerha, Studienbuch 1944, Eintragungen im Wintersemester 1945/46, AdZ (ohne Signatur), S. 8.

Brücke

Zur Entstehungszeit von Ricercar, Toccata und Passacaglia, war Cerha nicht nur Komponist, sondern auch Wissenschaftler. Erst 1950 hatte er seine germanistische Promotion zum Turandotstoff in der deutschen Literatur fertig gestellt. Doch auch in musikalischen Belangen verfolgte er Forschungsinteressen. Allen voran faszinierte ihn die italienische Musik „der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts“, einer Zeit des Umbruchs, „in der der individuelle Affekt auf besondere Weise Ausdruck gefunden“ habe.Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 29 Der Blick zurück beinhaltete zugleich den Blick nach vorn. Obwohl durch Jahrhunderte getrennt hatte die Phase um 1600 mit der um 1950 einiges gemeinsam: Die Aufbruchsstimmung, die rasanten künstlerischen Neuerungen oder das harte Aufeinanderprallen von Altem und Neuem. Zugleich unterschieden sich „die virtuose Expressivität, die Klarheit der Formen und die Buntheit der charakterlichen Gegensätze“ im Frühbarock von der Moderne, die Cerha in Wien erlebte. Diese war vor allem vom Neoklassizismus geprägt, aber auch vom originellen ‚österreichischen‘ Minimalismus, den Paul Kont vertrat.
Neugierig auf musikhistorische Entdeckungen begann Cerha, ‚archäologische‘ Recherchen zu betreiben.Vgl. AdZ, SCHR0028/6 Er suchte italienische Bibliotheken auf und „sammelte und kopierte“ unermüdlich „Material von Komponisten, die damals noch ganz unbekannt waren.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 29 Seine erste Reise führte ihn zunächst nach Bologna. Vom dortigen Konservatorium brachte er die frühbarocken Musikschriften auf Mikrofilmen nach Wien und richtete sie schließlich für Aufführungen ein. Als erstes Ergebnis seiner Editionsarbeit gab er bei der Universal Edition sechs Soloviolinsonaten von Johann Heinrich Schmelzer heraus,Siehe Universal Edition: https://www.universaledition.com/johann-heinrich-schmelzer-646/werke/sonatae-unarum-fidium-4795 intensivierte seine Forschungstätigkeit in Italien aber Mitte der 1950er Jahre weiter. Eine Bewerbung auf einen Stipendienaufenthalt in Rom, den Cerha 1957 einlöste, verrät seine damaligen Pläne. 

Cerha, Bewerbung für das Rom-Stipendium, Manuskript, 1955, AdZ, SCHR0028/8

Cerhas eifrige Forschungstätigkeiten zahlten sich bald aus. In Kooperation mit dem Doblinger-Verlag entstand die Reihe „Diletto musicale“ – ein Querschnitt von Kammermusik aus dem frühbarocken Italien. Die erschienenen Werke bilden ein buntes Mosaik aus Komponisten und Gattungen. Bekannte Namen wie Girolamo Frescobaldi oder Giovanni Battista Fontana stehen neben auch heute noch weitgehend unbekannten wie Martino Pesenti, Niccolò Corradini oder Marco Venetiano Facoli. Manuskript gebliebene Abschriften bringen weitere Namen zu Tage: Vincenzo Castelani, Maurizio Cazzati, Andrea Grossi oder Biagio Marini. Obwohl sich auch Vokalmusik unter den Werken findet, überwiegen die instrumentalen Duos (meist für Violine und Basso continuo) oder Solostücke für Tasteninstrumente, unter ihnen auch die Intabulatora Nova, ein Gemeinschaftswerk mehrerer Komponisten.

Cerha, Abschriften italienischer Barockmusik, Manuskript, AdZ, SCHR0017/97,98; SCHR0018/34,68; SCHR0019/20,21

Von oben nach unten: Intabulatora Nova (Venedig 1551); Biagio Marini, Romanesca per violino e basso se piace (1620); Girolamo Frescobaldi, Trio (undatiert)

Insgesamt spiegelt Cerhas Engagement für die Musik des Frühbarocks mehrere Aspekte wider. Einerseits trieb es ihn an, das Vergessene buchstäblich ‚auszugraben‘, das Material neu verfügbar zu machen und auch selbst aufzuführen. Andererseits war er als Komponist an den vielfältigen Techniken interessiert, die in der Zeit koexistierten. Beide Facetten, der praktizierende Musiker und der aufgeschlossene Komponist, begünstigten die Entstehung von Ricercar, Toccata und Passacaglia. Von seinem Interesse an der Musik des beginnenden 17. Jahrhundert zeigt sich die Komposition deutlich berührt, wenngleich sich die „unmittelbare Expression“, die Cerha am Epochenumbruch in den Bann zog, eher in späteren Werken niederschlägt.Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 29 Das Stück beschwört den Barock in anderem Sinne: Es integriert durch seine Besetzung klangliche Allusionen, spielt aber auch mit formalen Rückgriffen, ohne musiksprachlich rückschrittlich zu sein.

Innenansicht

Drei Instrumente, drei Sätze – so einfach ist das Rezept für Cerhas Ricercar, Toccata und Passacaglia. Wie das Trio jedoch im Einzelnen zusammengesetzt ist, hängt von der Fassung ab, für die sich Interpret:innen entscheiden. Für das Stück existieren zwei Versionen. In beiden sind die Melodieinstrumente identisch: Flöte auf der einen, Viola d’amore auf der anderen Seite. Das historische Streichinstrument mit seinen zusätzlichen Resonanzsaiten erfreute sich zur Barockzeit großer Beliebtheit, insbesondere wegen seines anmutigen Klanges, der „silbern“, „überaus angenehm und lieblich“ sei (so berichtet Johann Mattheson 1713Johann Mattheson, Das Neu=Eröffnete Orchestre, Reprint Hildesheim/Zürich/New York 1993, S.283). In Cerhas Trio entsteht der barocke Grundton klangfarblich jedoch vorwiegend durch das Harmonieinstrument. In einer ersten, 1951 erstellten Fassung setzt er eine doppelchörige Laute ein. Zur Zeit der Renaissance und des frühen Barocks besaß die Laute etwa den Stellenwert, den in der Romantik das Klavier innehatte: Sie war gesellschaftlich verbreitet und dominierte das Musikleben. Ähnlich wie bei der Viola d’amore ist der Lautenklang im Vergleich zu modernen Instrumenten (etwa der Gitarre als Nachfolger) besonders obertonreich, zart und hell. Das Klangideal ist außerdem durch die Vervielfachung von gleich gestimmten Saiten geprägt, die sich zu Chören zusammenfinden, vor allem, damit sich die ohnehin leisen Töne besser durchsetzen können.
Cerhas private Sammlung
beherbergt eine Barocklaute, welche etwas von der historischen Entwicklung des Instruments erzählt. Die verbreiteten Lauten der Blütezeit (15./16. Jahrhundert) besitzen einen kurzen Hals, an dessen Ende der Wirbelkasten nach hinten abknickt. Ab etwa 1600 verändert sich die Bauweise. Zu den normalen Spielchören kamen erweiterte Basssaiten hinzu. Um diese zu befestigen, wurde ein zweiter Wirbelkasten gebaut. Bei deutschen Modellen, wie dem in Cerhas Besitz, ist das Verbindungsstück von erstem zu zweitem Kasten geschwungen und wird deshalb auch Schwanenhals genannt.

Deutsche Barocklaute, Privatsammlung Cerha, Wien-Hietzing

Foto: Christoph Fuchs

Zur Urfassung von Ricercar, Toccata und Passacaglia mit Laute trat nur ein Jahr später eine zweite Fassung mit nicht minder prominentem Barockinstrument hinzu: dem Cembalo. Das Stück ist das erste Beispiel in Cerhas Œuvre, in dem der Komponist von diesem Instrument Gebrauch macht – wahrscheinlich auch inspiriert durch seine Frau Gertraud, die eine ausgezeichnete Cembalistin war. Beim Einzelstück sollte es jedoch nicht bleiben: In völlig anderer, weitaus experimentellerer Klangsprache stellen die 1956 entstandenen Relazioni fragili als (zugleich ambivalentes) Cembalokonzert den wohl wichtigsten Beitrag Cerhas für die Wiederentdeckung des Instruments dar. Das Cembalo taucht als selbstverständlicher Teil des Ensembles aber auch in vielen späteren Werken wie Intersecazioni, Spiegel oder der Langegger Nachtmusik I auf. Obwohl äußerlich und spieltechnisch extrem verschieden, teilen Laute und Cembalo den beiderseits gezupften Klang, weshalb es nahe lag, eine entsprechende zweite Fassung anzufertigen. Auch folgen die beiden Angebote einer Praxis des Barocks. Zuweilen wurden Laute und Cembalo je nach Bedingungen quasi „ad libitum“ eingesetzt, wie in Frescobaldis Toccata e Canzona, die Cerha für „Diletto musicale“ editierte.

Cerha, Ricercar, Toccata und Passacaglia, Werktitel auf Mappe, AdZ, 00000038/2

Abseits von klangfarblichen Reizen zeichnet Cerhas Trio aus, dass es kompositorische Möglichkeiten in benachbarten Gebieten erkundet, gewissermaßen oszillierend zwischen ihnen. Das „Erproben des für mich Neuen und das Einschmelzen von Erfahrenem, dessen Herkunft oft nicht mehr ortbar ist“, charakterisiere „vieles im Bereich“ seiner Frühwerke, fasst der Komponist zusammen.Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 221 Neben minimalistischen Tendenzen (etwa im Buch von der Minne) beschäftigte Cerha um 1950 besonders der Neoklassizismus. Im österreichischen Musikleben war der damals einzige Richtung einer modernen Strömung präsent. „So zeigten sich zunächst Hindemith, Strawinsky und Bartók als Leitsterne am […] noch spärlich bestückten Firmament der Musik des zwanzigsten Jahrhunderts.“Lothar Knessl, „Versuch, sich Friedrich Cerha zu nähern“, in: Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 7-15, hier S. 11 Besonders mit Strawinsky setzte sich Cerha auseinander, wie v.a. sein Divertimento für acht Bläser und Schlagzeug (1954) bezeugt, im Untertitel eine „Hommage“ an den russischen Zeitgenossen. Gleichermaßen interessierte er sich in der Nachkriegszeit auch für die große Gegenströmung zum Neoklassizismus: die  Zwölftonmusik. Neugierig spürte er dem Pfad der Wiener Schule nach, von deren Protagonisten 1951 nur noch Arnold Schönberg lebte (und im gleichen Jahr in Los Angeles verstarb). Im Kulturleben von Schönbergs Heimatstadt Wien fand seine und die Musik seiner Schüler jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg kaum statt, so, als ob es sie nie gegeben hätte. Ein junger Komponist wie Cerha war darauf angewiesen, sich das Meiste selbst durch Partiturstudien beizubringen. Dies erklärt, warum Cerha sich zu einem Zeitpunkt mit der Zwölftontechnik auseinandersetzte, als sie im Epizentrum Darmstadt bereits überwunden bzw. weiterentwickelt wurde.
Wie auch andere Werke aus der Zeit ist Ricercar, Toccata und Passacaglia insgesamt ein musikalischer Zeuge für ein kreatives Zusammentragen verschiedener Einflüsse, die zu eigener Form finden. Ihren Spuren soll im Folgenden dreischrittig nachgegangen werden, der äußeren Gestalt des Werks folgend.

An den Anfang seines Trios setzt Cerha ein Ricercar – eine Entscheidung, die dem Werk einen akademischen Anstrich verleiht, erhielt sich die Gattung über Jahrhunderte hinweg doch den „Status einer ‚gelehrten‘ Studienkomposition.“Markus Grassl, Art. „Ricercar‟, in: Österreichisches Musiklexikon online Das Ricercar entstammt einer verzweigten musikhistorischen Linie. In der Zeit des Frühbarocks entwickelte sich das sogenannte Imitationsricercar als Vorform der barocken Fuge. Das gemeinsame Prinzip ist die Reduktion: Möglichst nur ein Soggetto (die charakteristische Tonfolge) wird durch kontrapunktische Techniken verarbeitet (schon der italienische Begriff ricercare für „suchen“ spielt auf das ständige „Wiederaufsuchen“ der Tonfolge an). Das Ergebnis ist eine geistige wie musikalische Konzentration.
Dass Ricercari im 20. Jahrhundert wieder von Komponist*innen aufgegriffen werden, verdankt sich dem Neoklassizismus, der auch Cerha beeinflusste. Möglicherweise kannte er 1950 auch bereits Anton Weberns farbige Instrumentation des berühmten sechsstimmigen Ricercars aus Bachs Musikalischem Opfer.
Die Viola d’amore führt in Cerhas Ricercar ein. „Ruhig fließend“ präsentiert sie ein schwebendes, stufenartig nach oben strebendes Thema. Geschickte Überbindungen verschleiern metrische Schwerpunkte, ein natürlicher Duktus gibt ‚den Ton an‘. Der imitatorischen Tradition des Ricercars folgend greift die Laute (bzw. das Cembalo) das Thema nach drei Takten auf einer anderen Tonstufe auf, während die Viola das Material weiter variiert (auch diese Variationen werden später imitiert). Als letztes „sucht“ die Flöte das Thema auf. Ganz nach alter Praxis beginnt sie wieder auf dem ursprünglichen Anfangston, eine Gepflogenheit, die einst dafür sorgen sollte, dass die Musik in einer Tonart verhaftet bleibt. Cerha übernimmt sie, ohne dieses Ziel zu verfolgen. Die Stimmen überlagern sich frei und sind nicht an feste Harmonien gebunden. Gleichzeitig ergeben sich durch die streng eingehaltenen Tonstufen (die auch in den Folgetakten weiter aufgegriffen werden) Ankerpunkte. Die Musik wahrt ihr strenges Profil.

Cerha, Ricercar, Viola d’amore, Soggetto, 1952, AdZ, 00000038/4

Erwin Klambauer (Flöte), Margit Urbanetz-Vig (Viola d’amore), Walter Würdinger (Laute)

Neuen Antrieb gewinnt das Ricercar nach rigoroser, einheitlicher Verflochtenheit mit einem zweiten Thema, das die Flöte einführt. Geschickt lässt Cerha diesen neuen Gedanken nur durch die Viola begleiten. Wirkt ihre Linie zunächst völlig frei, so stellt sich schon bald das Gegenteil heraus: Sie spielt das gleiche Thema, beginnt jedoch an einer späteren Stelle und somit versetzt. Das kunstvolle Rätsel löst sich mit der weiteren Entfaltung des Themas durch die Flöte auf: Gehört werden muss hier nicht nur vorwärts, sondern auch rückwärts.
Das Spiel des Zusammenschiebens und Nachahmens von Gedanken spinnt sich bis zum Ende des Ricercars fort. Verquickt sich nach Vorstellung des zweiten Themas dieses mit dem ersten, führt Cerha (nun im Harmonieinstrument) auch noch ein drittes Thema ein – so erfüllt das Trio seinen Namen auch in struktureller Weise. Um den neuen Gedanken fassbar zu machen, wird aus dem Trio wieder kurzzeitig ein Duo. Entdichtung auf der einen Seite, Verdichtung auf der anderen: In der Abschlusspartie tauchen alle drei Themen in komplexer Schichtung auf, um in ein kraftvolles Finale zu münden. Die Polyfonie endet hier: Viola und Laute/Cembalo produzieren mächtige Akkorde, die auf das nächste Stück vorbereiten.

Cerha, Ricercar, Duos mit Thema 2 (links) und Thema 3 (rechts), 1952, AdZ, 00000038

Erwin Klambauer (Flöte), Margit Urbanetz-Vig (Viola d’amore), Walter Würdinger (Laute)

Mit der Gattung der Toccata setzte sich Cerha um 1950 zweifach auseinander. Nicht nur steht sie an zweiter Stelle seines Trios, schon ein Jahr zuvor schrieb er eine Toccata für Klavier, die jedoch unaufgeführt blieb (Manuskript verschollen). 2020, 70 Jahre später und im Alter von 94 Jahren, entstand wieder eine Toccata, diesmal für das traditionell mit ihr verbundene Instrument, die Orgel. Toccaten entstanden ursprünglich jedoch nicht für Tasteninstrumente, sondern für die Laute.
Über die Jahrhunderte hinweg kristallisiert sich ein Element aus der Gattung heraus: Ihr Gestus ist an die Improvisation angelehnt. Der barocke „Stylus Phantasticus“, genährt vor allem vom Toccatenspiel, taugt als Schlagwort auch für spätere Entwicklungen. Virtuosität und Dramatik treffen in der Toccata als freie Radikale aufeinander.
Auch in Cerhas Toccata ist der Richtungswechsel spürbar. Von der Strenge des Ricercars ist im Folgestück kaum noch etwas übrig. Seine grundlegenden ‚Zutaten‘ werden sofort offengelegt: Auf einen kräftigen, arpeggierten Akkord folgt eine gelöste Figur in der Flöte – eine kurze, wachsame Eröffnung. Direkt schließt sich ein motorisches Element an, das den Satz in Großteilen dominiert und immer wieder antreibt. Sportliche Läufe ziehen sich durch die Stimmen, werden anfangs von den Melodieinstrumenten übernommen, während im Untergrund akkordische Ostinati brodeln: Eine energetische, tänzelnde Musik.

Cerha, Toccata, Beginn, 1952, AdZ, 00000038/10

Erwin Klambauer (Flöte), Margit Urbanetz-Vig (Viola d’amore), Walter Würdinger (Laute)

Im Verlauf der Toccata steigert sich die Virtuosität merklich. 32-tel-Ketten im Staccato ziehen in der Flöte für kurze Zeit vorüber, während Viola und Laute/Cembalo mit schrammelnden, weit aufgespannten Akkorden zu kämpfen haben. Die treibenden Akkorde lösen ein verstecktes Wesensmerkmal der Toccata ein, stammt ihr Name doch vom italienischen Begriff toccare für „schlagen“. Schließlich erinnert die geballte (oft polytonale) Perkussionskraft auch an andere Vertreter der Moderne: Béla Bartók oder Igor Strawinsky etwa, damals Cerhas Vorbilder.
Etwa in der Mitte des Satzes überschlagen sich die virtuosen Figuren fast und finden zu einem Höhepunkt. Ein kurzes, ausklingendes Intermezzo bereitet die Wiederkehr des tänzerischen Gestus mit folkloristischem Kolorit vor.

Cerha, Toccata, Mittelteil, T. 37 ff., 1952, AdZ, 00000038/14

Erwin Klambauer (Flöte), Margit Urbanetz-Vig (Viola d’amore), Walter Würdinger (Laute)

Der Toccatenschluss verrät auch etwas über den späteren Komponisten Cerha. In einer Art Coda finden sich alle Instrumente zu einer dicht gewobenen Textur zusammen, die einerseits stetig nach vorn strebt, andererseits fast statisch um sich selbst kreist. Veränderungen sind hier nur minimal zu vernehmen – man bekommt den Eindruck, das Gewebe könne sich unendlich fortsetzen. Entfernt kündigen sich hier Cerhas spätere Formungen von innerlich bewegten Klangflächen an, so wie sie etwa zehn Jahre später in den Spiegeln zu finden sind – ein Vorausgriff, den der Komponist um 1950 kaum selbst ahnen konnte.

 

Cerha, Toccata, Klangtextur, T. 69 ff., 1952, AdZ, 00000038/17

Erwin Klambauer (Flöte), Margit Urbanetz-Vig (Viola d’amore), Walter Würdinger (Laute)

Den Schluss von Cerhas Trio bildet eine Passacaglia – eine barocke Variationsform, die es im 20. Jahrhundert zu neuem Ruhm brachte. Einer ihrer alten Meister war Frescobaldi, doch auch Bach hinterließ eine Passacaglia, die wohl bis heute die bekannteste ihrer Art ist und stilprägend war. Das typische Merkmal ist ein Basso ostinato, meist bestehend aus vier oder acht Takten, über dem sich Variationen aller Art abspielen. In die Moderne geholt wurde die Gattung durch die Wiener Schule: Bekannt ist Anton Weberns Passacaglia in d-Moll, sein kompositorisches Gesellenstück. Doch auch von Arnold Schönberg und Alban Berg existieren Passacaglien, die das barocke Vorbild jedoch teilweise neu, zumindest wesentlich freier interpretieren.
Cerhas Passacaglia im Trio ist zwar die erste im gesamten Œuvre, doch längst nicht die letzte. Erstaunlicherweise gibt es besonders im späteren Bühnenwerk einige Beispiele. Passacaglien finden sich sowohl im Baal
als auch in Der Rattenfänger und im Riesen vom Steinfeld, oft an morbiden oder persiflierenden Stellen.
Die Passacaglia im Trio ist dasjenige Stück, das am deutlichsten an die von Cerha damals neu entdeckte Zwölftontechnik andockt. Zu Beginn wird ein gesangliches Thema aus zwölf Tönen von Laute/Cembalo vorgetragen. Das gemächliche Tempo und die tiefe Lage docken an traditionelle Vorstellungen der Gattung an: schreitend in der Bewegung, melancholisch im Charakter. Typisch ist auch ist die anfängliche Exponierung der Bassfigur, die außerdem an das Ricercar des Trios erinnert. Trotz der zurückgewonnen, dreistimmigen Polyfonie entwickelt sich die Passacaglia anders weiter. Auf dem letzten Ton des Bassthemas setzt eine neue zwölftönige Reihe ein. Zunächst trägt sie die Viola d’amore vor, ehe sie von der Flöte (startend auf dem gleichen Anfangston) aufgegriffen wird. Währenddessen wiederholt das Harmonieinstrument stoisch die Bassfigur, ganz nach Art der traditionellen Passacaglia.

Cerha, Passacaglia, Beginn, 1952, AdZ, 00000038/19

Erwin Klambauer (Flöte), Margit Urbanetz-Vig (Viola d’amore), Walter Würdinger (Laute)

Obwohl die kompositorische Formung anfangs sehr konsequent wirkt, zeigt sich im weiteren Verlauf, dass Cerha die Passacaglia in ihren Details freier interpretiert. Schon nach dem zweiten Durchgang bricht das Ostinato ab und lässt den Imitationen von Flöte und Viola Platz, bevor sie freier agieren. Die Viola bewegt sich in schnellen Wellen fort, denen sich später auch die Flöte anpasst. Im Bass taucht das Passacaglia-Ostinato schließlich wieder auf, ohne die Oberhand zurückzugewinnen. Stattdessen lenkt Cerha das Geschehen in andere Bahnen. Zunächst sehr unauffällig entfaltet sich in der Flöte das Thema des Ricercars, begleitet vom Ostinato der Passacaglia. Wenig später schält sich aus den Achtelwellen der Laute/des Cembalos gar das tänzerische Thema der Toccata heraus. Frei kommentieren sich nun die Gedanken aller drei Sätze gegenseitig – ein Beleg für Cerhas Formwillen. Angetrieben von den motorischen Elementen der Toccata steuert die Musik auf ein furioses Finale zu, das von einem gemeinsamen Gedanken beschlossen wird. Das barocke Zwiegespräch endet in Einigkeit.

Cerha, Passacaglia, Schluss, 1952, AdZ, 00000038/26

Erwin Klambauer (Flöte), Margit Urbanetz-Vig (Viola d’amore), Walter Würdinger (Laute)

Schatztruhe