Relazioni fragili

Serielle Poesie

Enjambements

Spiegel

Resonanzboden eines Cembalos

angefertigt von Jean Denis II., Frankreich 1648

Die Ausschmückung von Instrumenten war in der Barockzeit eine angesehene Kunstform. Nicht selten zierten Bemalungen die Holzböden von Tasteninstrumenten wie dem Cembalo. Das barocke Instrument erlebte im 20. Jahrhundert ein Revival – Cerha verwendet es in zahlreichen seiner Kompositionen.

Bildquelle: Daniel Jolivet/Flickr

Gestischer Tanz und abstrakte Musik – können diese zwei vermeintlichen Gegensätze zusammenpassen?
Eine seltene Ballettaufführung zu Cerhas Relazioni fragili beweist es.

Aus: Zu Gast bei Friedrich Cerha, Dokumentation ORF, Wien 1975

„Zarte“ oder „zerbrechliche Beziehungen“, so lässt sich der Titel von Cerhas Komposition übersetzen. Diese Beziehungen gelten auch für die tänzerische Deutung der Relazioni, denn eine Choreografie ist ursprünglich nicht vorgesehen. Der frühere Ballettdirektor der Wiener Staatsoper, Aurel von Milloss, wagte sich 1974 dennoch an eine Umsetzung. Fantastische Akteure – unter ihnen ein Träumer, ein Dämon, eine silberne Gestalt und Sirenen – gewannen der Musik tanzend etwas Märchenhaftes ab, etwas, das auf den ersten Blick nicht zu ihrem ‚ungegenständlichen‘ Charakter passen mag. Warum die Verbindung dennoch funktioniert, liegt an Cerhas Bemühen um die Fasslichkeit des Erlebbaren…

Außenansicht

Cerha, Anmeldebogen zu den Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik, 1956,
Internationales Musikinstitut Darmstadt

Der Sommer 1956 war für den 30-jährigen Cerha nicht einer unter vielen, sondern ein wegweisender. Dank seines Kompositionslehrers Karl Schiske fand er den Weg zum ‚Mekka‘ der Avantgarde, den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik. Schiske verschaffte damals auch weiteren österreichischen Komponisten ein Stipendium für Darmstadt. Unter ihnen befanden sich etwa Cerhas Freunde Kurt Schwertsik und Anestis Logothetis. Trotz des erfolgreichen Einsatzes von Schiske zeigte sich hier auch eine Schattenseite: Die meisten österreichischen Komponisten hatten die Möglichkeit, den musikalischen Puls der damaligen Zeit wahrzunehmen, erst vergleichsweise spät. In Österreich saßen „immer noch jene Verhinderer musikalischer Evolution in Schlüsselpositionen, die im Dritten Reich völkisches Tönen gepriesen hatten.“Lothar Knessl, „Die österreichische Kolonie“, in: Ders. u.a. (Hg.): Von Kranichstein zur Gegenwart. 50 Jahre Darmstädter Ferienkurse. 1946-1996. Stuttgart 1996, S. 281-287, hier S. 282 So kam es, dass die neuesten Entwicklungen „anfangs nur vereinzelt nach Wien“ durchsickertenLothar Knessl, „Versuch, sich Friedrich Cerha zu nähern“, in: Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 7-15, hier S. 12, wie der Musikwissenschaftler Lothar Knessl kommentiert.

In den anfangs verlorenen 1950er Jahre konnten Komponisten anderer Länder sich bereits einen Ruf im internationalen Musikleben erwerben. Die prominentesten unter ihnen: Karlheinz Stockhausen aus Deutschland, Pierre Boulez aus Frankreich und Luigi Nono aus Italien. Zusammen bildeten sie eine Trias, deren Innovation sich mit einem Schlagwort einfangen lässt: dem der seriellen Musik (auch Serialismus genannt). Ihr Ansatz ist schnell erklärt: Wie ein Wissenschaftler seziert der Komponist das musikalische Material und zerlegt es in seine Bestandteile. Tonhöhen, Rhythmen, Lautstärkestufen, Klangfarben, selbst räumliche Verortungen des Klangs – aus all diesen Komponenten werden Reihen gebildet, welche die Musik Schicht für Schicht zusammensetzen. Die Ergebnisse: damals revolutionär – zugleich aber auch problematisch.

Friedrich und Gertraud Cerha
mit Kollegen in Darmstadt,
Internationales Musikinstitut Darmstadt

Brücke

Cerhas Erkundung der seriellen Musik gleicht dem Aufbruch eines Forschers in ein unbekanntes Gebiet. Bevor sein erstes serielles Werk entstand, gelangten Vorstellungen in sein inneres Ohr, die ihm neu waren. Sie sind der eigentliche Ausgangspunkt für Cerhas neuen Weg. Die Begegnung mit der seriellen Musik in Darmstadt bot Cerha die Möglichkeit, Werke zu realisieren, die sich nicht mehr auf Themen, Motive oder Harmonien stützte, sondern mit kleinsten Partikeln – musikalischen Atomen – arbeitete. Als Splitter („Deux éclats en reflexion“) bezeichnet Cerha konsequenterweise sein erstes Werk dieser Art. Es ist ein Geigenstück mit Klavierbegleitung, erprobt also auf einem Terrain, das Cerha als Geiger vertraut war, das Unvertraute. Obwohl das temperamentvolle Werk den Eindruck des „Spontan-Improvisatorischen“ hervorruft, erinnert sich Cerha, eine „Vielzahl an rhythmischen Zellen entworfen“ zu haben, „deren Abfolge“ er „sehr lange überlegt habe.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 222 Was sich vermeintlich widerspricht, gehört in der Musik Cerhas zusammen: Akribie im Konstruieren auf der einen, freie und reflexhafte Klangentfaltung auf der anderen Seite.

Violine: Friedrich Cerha, Klavier: Ivan Eröd, Aufführungsdaten unbekannt

Die Erprobung der seriellen Strukturen führte Cerha nach den 1956 entstandenen Deux éclats en reflexion schrittweise in Richtung einer größeren Instrumentalbesetzung. Mit Formation et solution entstand im gleichen Jahr noch ein weiteres Geigenstück, ebenfalls mit französischem Titel. Kurz darauf entwarf Cerha schließlich das Konzept für die Relazioni fragili, dem ersten Werk in serieller Sprache mit vielfachen Klangfarben. Ein Faible für das Extravagante und klanglich Noble könnte man der Zusammensetzung des Kammerensembles durchaus unterstellen: Ins Auge sticht besonders ein solistisches Cembalo. Nicht minder auffällig ist die breite Palette an Schlaginstrumenten (9 Spieler werden benötigt), doch besonders zwei Sängerinnen heben sich vom Rest des Ensembles ab. Der Sopran und der Mezzosopran tragen jedoch nicht etwa einen Text vor, sondern agieren wie zwei zusätzliche Instrumente, deren Klangfarben aus Vokalen bestehen.

Cerha, Relazioni fragili, Autograf, Besetzungsliste (frühe Version), AdZ, 00000049/94

Cerha, Relazioni fragili, Autograf, Besetzungsliste (überarbeitet),
AdZ, 00000049/3

Das eigenwillige Stück bildet eine Gruppe mit zwei weiteren seriellen Orchesterwerken, den Espressioni fondamentali und den Intersecazioni. Dass alle einen italienischen Titel tragen, geht auf einen Aufenthalt Cerhas in Rom zurück.Dass alle einen italienischen Titel tragen, geht auf einen Aufenthalt Cerhas in Rom zurück. Hier hielt er sich bis zum Ende des Sommers 1957 ein halbes Jahr auf, mit einem Stipendium des österreichischen Unterrichtsministeriums versehen. Er begegnete hier nicht nur namhaften Kollegen, unter ihnen Bernd Alois Zimmermann oder Franco Evangelisti, sondern bewältigte auch ein enormes Arbeitspensum. Cerha arbeitete gleichzeitig an den Relazioni fragili als auch an der Partitur von Espressioni fondamentali, die drei Jahre später von Ernst Krenek in Berlin uraufgeführt wurden. Die Relazioni fragili erlebten ihre Premiere ebenfalls 1960 – mit Cerhas kurz zuvor gegründeten Ensemble „die reihe“, gemeinsam mit Klavierstücken von Stockhausen und der Uraufführung von Cornelius Cardews Octet, wohl die ersten seriellen Werke, die in Wien zu hören waren.

Innenansicht

Zu den frühesten Dokumenten, die Cerhas Engagement als Dirigent der „reihe“ einfangen, gehört der Filmmitschnitt einer Probe zu den Relazioni fragili. Er zeigt panoramaartig einen Ausschnitt aus dem zweiten Satz des insgesamt viersätzigen Werks. Zu erleben ist nicht nur Friedrich Cerha am Dirigentenpult, sondern auch Gertraud Cerha am Cembalo – sie spielte bereits in der Uraufführung den Solopart. Das Stück zählt zu den eindrucksvollsten Zeugnissen einer auch künstlerischen Partnerschaft.

Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha, Gertraud Cerha (Cembalo), ca. 1960

Wann genau die Performance gefilmt wurde, ist nicht bekannt. Es handelt sich jedoch mit großer Sicherheit um eine Aufzeichnung der frühen 1960er Jahre. Damals führte die „reihe“ die Relazioni etliche Male auf, unter anderem beim Warschauer Herbst, im Hessischen Rundfunk (jeweils 1961) und den Semaines Musicales in Paris (1962).
Zum Kreis der Bewunderer gehörte auch der Pianist Alfred Brendel. In einem Brief an den Musikwissenschaftler Harald Kaufmann berichtet er über das Wiener Musikfest, bei dem es „nur Ödnis“ gegeben habe – bis auf „eine einzige Oase“, Cerhas Relazioni: „Alles atmete auf, wieder Musik zu hören (die doch nicht antiquarisch klingt)“. Was jedoch erhob das Werk über den Durchschnitt ab?

Alfred Brendel an Harald Kaufmann, 20.6.1961, AdZ, BRIEF001/16

In gewisser Hinsicht bedeutet es für einen Komponisten, der sich serieller Techniken bedient, ein Stück Freiheit hinsichtlich der Gestaltung abzugeben. Die Arbeit gleicht vielleicht der eines Architekten: Erst wird entworfen, im Anschluss streng nach diesem Entwurf gebaut. Ein Musikstück, das einem seriellen Bau folgt, ist demzufolge nicht mit schneller Hand aufs Notenpapier zu bringen, sondern bedarf einer exakten Vorarbeit. Im ersten Schritt werden Reihen entworfen: Reihen für alle zwölf Tonhöhen, Reihen für Rhythmen, Reihen für Lautstärkestufen, Reihen für Artikulation und Spielarten, Reihen für Klangfarben, selbst Reihen für die Klangfolgen im Raum oder theatralische Elemente sind vorstellbar. All diese möglichen Reihen laufen schließlich in verschiedenen Varianten in der nach dem Entwurfsplan entstehenden Musik ab – die Reihen können auch rückwärts gelesen werden, die einzelnen Elemente vertauscht werden. Das, was schließlich entsteht, entzieht sich jedoch in seinen Details der menschlichen Vorstellungskraft. Die Vielzahl an Kombinationen und Überlagerungen der Reihen ist schlicht nicht vorhersehbar, eine sich aus den Bedingungen automatisch ergebende Musik die Folge.
Doch nicht nur für den Komponisten herrscht in Teilen das Unvorhersehbare. Auch für den Hörer ist die Orientierung in einem seriellen Musikstück beträchtlich erschwert. In ihrer Komplexität sind die strukturellen Netzwerke oft nur sehr oberflächlich erfassbar. Gegen ebendiese Unergründlichkeit im Wahrnehmen positionierte sich Cerha mit seiner Musik. Bezeichnend ist, dass er sich den Potenzialen der zu ihrer Zeit ‚modischen‘ Kompositionstechnik nicht widersetzte. Er veränderte jedoch den Umgang mit dieser Technik:

Die neuen technischen Möglichkeiten im Serialismus faszinierten mich, gleichzeitig habe ich aber sofort kritisch auf eine Gefahr reagiert, die sich in den Ergebnissen eines orthodoxen Frühserialismus abzeichnete. Ein systematisches Reihen von Einzelelementen auf allen Ebenen der Gestaltung, ein totales Aufsplittern der Gestaltzusammenhänge bringt ein totales Abschaffen von Bezugspunkten für das Hören mit sich und produziert statt der gewünschten Komplexität eine graue Uniformität. Um dieser Gefahr zu begegnen, habe ich bewusst die Atomisierung nicht in allen Schichten des musikalischen Materials gleich weit vorgetrieben, sondern vor allem im für das Gestalterlebnis so wesentlichen rhythmischen Bereich mit Elementgruppen gearbeitet.

Friedrich Cerha

Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 222

Cerhas Bemühen um eine Musik, die fasslich bleibt und hörend nachvollziehbar ist, unterscheidet ihn von vielen Zeitgenossen. Auch die Relazioni fragili zehren entscheidend von dieser Haltung. Ihre vier Sätze atmen den Geist der seriellen Ära, schlagen aber einen individuellen Ton an, der sich von seiner Zeit vor allem dadurch abhebt, dass große Entwicklungsbögen ohne Weiteres auch von weniger informierten Hörern verfolgt werden können. Eine passende Anekdote aus Cerhas Zeit in Darmstadt: Als Luigi Nono, einer der berühmtesten Verfechter des Serialismus, 1958 einige der ersten seriell gearbeiteten Stücke aus der Feder Cerhas hörte, sagte er danach zu ihm: „Du machst ja mit unseren Mitteln alte Musik!“Gundula Wilscher, „Das Instrument in der Hand haben“, in: mdw Webmagazin, 30. April 2019, https://www.mdw.ac.at/magazin/index.php/2019/04/30/das-instrument-in-der-hand-haben/ Die Bemerkung ist nicht aus der Luft gegriffen, hält man sich das damalige Ideal einer abstrakten Struktur vor Augen, die man gegenüber dem Ausdruck und der unmittelbaren vorzog. Verdächtig schien alles, das statt Abstraktion auf die Gestalt setzte. 
Wie reizvoll die Schwebe zwischen strukturellen Details und sich großräumig entwickelnden Klanggesten in Relazioni fragili ist, demonstriert der Beginn der Komposition. Er entspricht auch der Stimmung des Titels: Auf fragilste Art und Weise verknüpfen sich die langsam herausschälenden Bestandteile des ersten Gewebes – nie aber mutet die Zerstreuung unterschiedlicher Klangquellen beziehungslos an, alles fügt sich wundersam ineinander. Ein Kritiker attestierte dem Stück in der Wiener Arbeiterzeitung denn auch „bemerkenswerte Ansätze zu einer seriellen Poesie.“O.A., „Serielles Esperanto“, in: Arbeiterzeitung vom 21.6.1961, AdZ, KRIT0008/172

 

Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha, Gertraud Cerha (Cembalo)

Anders als viele serielle Kompositionen, betonen die Relazioni die Verwandtschaft der einzelnen Bestandteile stärker als ihre Unterschiede. Dies sorgt für den Eindruck einer verzahnten, ineinandergreifenden Musik statt einer disparaten, gestaltlosen. Im expositionsartigen Beginn durchwachsen sich beispielsweise einige rhythmische Grundformen, die sich streng mit bestimmten Klangfarben verbinden. Besonders deutlich ist dies in den drei Streicherstimmen: Die Violine und die Bratsche bilden eine Serie aus langen Dauerwerten, deren einzelne Elemente sowohl abwechselnd als auch überlagernd auftauchen. So ergibt sich eine zarte, oft mit Obertönen angereicherte Klangebene, die mit ebenso langen Tönen des Vibrafons, der Celesta, der Harfe und der Flöte verschmilzt. Das Cello hingegen nimmt eine völlig andere Funktion ein: Seine Serie besteht ausschließlich aus kurzen Tondauern, die entweder gezupft oder produziert werden, indem der Finger auf die Saite klopft. In den so entstehenden perkussiven Klang fügen sich diverse Schlaginstrumente ein (Tambourin, Bongos, kleine Trommel und auch ein Marimbafon).

Cerha, Relazioni fragili, Autograf, Streichergewebe, AdZ, 00000049/8

Zwischen diesen beiden grundsätzlich voneinander abzuhebenden Ensemblegruppen schaltet sich nach einigen Takten das Solocembalo ein. Seine Serie besteht aus rhythmisch ähnlichen (oft triolischen) Figuren, die eine fast zweistimmig zu nennende Melodie produzieren – ein im Serialismus verpöntes Gestaltungsmittel, das Cerha dennoch nicht dem Zeitgeist opfert. Alle drei Schichten der Musik im eröffnenden Abschnitt durchdringen sich und schaffen eine hochdifferenzierte musikalische Struktur, die einheitlich wirkt. Die Art und Weise, wie sich verschiedene rhythmische Bewegungsmuster zu Gestalten überlagern, erinnert vom Gestus an ein weiteres serielles Werk Cerhas, die bereits erwähnten, zeitgleich entstandenen Espressioni fondamentali: Deren erster Satz beginnt ebenfalls mit einer Passage, in der die aufkommenden „Bewegungsformen verzahnt und verflochten“Cerha, Begleittext zu Espressioni fondamentali, AdZ, 000T0051/5 erscheinen, wie Cerha betont.

Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha, Gertraud Cerha (Cembalo)

RSO Wien, Ltg. Friedrich Cerha, ORF-Funkhaus Wien, Großer Sendesaal, 1994,
CD: Edition Zeitton. Neue Musik aus Österreich, ORF 1997, LC 5103, CD 160

Vergleicht man die Anfänge der beiden Werke, kann man außer den von Cerha herausgearbeiteten „variablen und profilierten Gestalten“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 222 ein Denken in Abschnitten wahrnehmen. Die musikalischen Entwicklungen erstrecken sich bis zu einem bestimmten Punkt, ehe eine kurze Zäsur erfolgt und etwas Neues beginnt. In Relazioni fragili schließt sich an die ruhige und gedehnte Anfangspartie eine zügig aufbauende Passage von nur vier Takten an. Sie ist durchweg von rhythmisch kurzatmigen Zellen geprägt, die sich serienartig aneinander ketten und durch ihre Schichtungen eine plötzliche, weitaus größere Bewegtheit in den Verlauf der Musik einbringen. Von solchen Wechseln wird der gesamte Satz geprägt, sodass sich auch in der Vogelperspektive eine Spielart des seriellen Denkens fortschreibt: Abschnitte werden hier in Reihe gesetzt.

Cerha, Relazioni fragili, Autograf, 1. Satz, AdZ, 00000049/8

Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha, Gertraud Cerha (Cembalo)

Zum Umschlagen in einen anderen Charakter tragen vor allem Farbwechsel bei. An der Bruchstelle vom eröffnenden zum zweiten Abschnitt tauscht Cerha zum Beispiel ätherische Farben wie Vibrafon, Celesta, Harfe oder auch die Frauenstimmen gegen dominierende Blasinstrumente (Bassklarinette, Trompete, Flöte) ein. Diesen besonderen Stellenwert der Klangfarben in Cerhas Musik nahmen auch frühere Zeitgenossen wahr. So heißt es in einer Kritik über die Uraufführung der Relazioni fragili (Wien, Konzerthaus, 16. Mai 1960), der oberflächige Beobachter könne das Stück „als reine Farbkomposition abtun, in der ein formaler Plan mehr nach sinnlichen als nach logischen Vorstellungen verfolgt wird.“F.G:, „Serielle Musik will sich auflockern“, unbekannte Zeitung, AdZ, KRIT0008/37

Auch György Ligeti registrierte die Bedeutsamkeit wechselnder Farben für die Kompositionsweise seines Freundes. An den Relazioni fragili bekundete er ein besonderes Interesse. Gemeinsam mit Cerhas seriellen Geigenstücken sei „dieses Cembalokonzert der wichtigste Beitrag Österreichs zur Musik der fünfziger Jahre, stilistisch mit den Darmstädter und Kölner Bestrebungen verwandt, doch ganz persönlich und originell.“György Ligeti, „Ein Wienerischer Untertreiber“, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Monika Lichtenfeld, Mainz 2007, Bd. 1, 470-472, hier S. 472 Ligeti ließ es sich folglich nicht nehmen, für die Uraufführung den Einführungstext zu verfassen.

F.G:, „Serielle Musik will sich auflockern“,
unbekannte Zeitung, AdZ, KRIT0008/37

Programmheft der „reihe“ zur Uraufführung von Relazioni fragili, AdZ, KRIT0008/36

Ligetis sich im Programmtext äußerndes Interesse am dritten Satz der Relazioni fragili berührt auch seine eigenen ästhetischen Vorstellungen. Die zwei kompositorischen Gestaltungstypen, die er beschreibt, finden sich auch in den eigenen Werken wieder. Weiche, osmotische und eng verflochtene Texturen prägen Kompositionen wie Atmosphères (1961) oder Lontano (1967). Disparate und rhythmische Schichtungen sind hingegen in den Aventures (1962) zu finden, die  Cerha mit der „reihe“ uraufführte.
Neben den äußeren Klangreizen ist es aber besonders die strukturelle Verknüpfung, die Ligetis Interesse hervorrief: Die Wechselwirkung zwischen den beiden sich gegenüberstehenden Erscheinungsformen. Zwei „Regionen, wo einer der beiden Typen herrscht“ seien kurz vorgestellt, um die Gestaltwerdung im Stück zu verstehen.
Die besonders typische, laut Ligeti „aparte und originelle Kombination“ von kurzen Cembalotönen und dem Knistern und Knacken verschiedener Schlaginstrumente wird im Satz an einer Stelle geradezu vorgeführt. Es herrscht hier die Klangfamilie „mit trockenem Klang“ vor: Kastagnetten, Maracas, Bongos, Claves und viele andere Instrumente. Bereits ein erster Blick in die Partitur offenbart den Charakter. Größtenteils einzelne Töne legen sich schichtweise übereinander, sodass ein körniges Klangbild entsteht. Diese Passage ist ein Paradebeispiel für den punktuellen Stil, der frühesten Spielart des Serialismus. Sie geht vom einzelnen Klangereignis aus und lässt ihrem Namen nach Tonpunkte entstehen. Bei Cerha ist diese Komponierweise typischerweise nur episodenhaft.

Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha, Gertraud Cerha (Cembalo)

Die zweite von Ligeti beschriebene Gestalt, das „gallertartig-dichte, weiche und sensible“ Gewebe, verzichtet völlig auf punktuelle Gesten. In den Tonhöhen fluktuierende Auf- und Abwärtsbewegungen der Streicher und der zwei Sängerinnen schließen sich zu einer horizontal entfaltenden Fläche zusammen. Eine Passage am Anfang des Satzes führt diese Gestalthaftigkeit vor Augen. Hier steht das weiche Gewebe im Vordergrund, während sich hintergründig punktuelle Gebilde der Schlagzeuger abbilden. Die Dominanz des einen Gewebes unterdrückt also die Präsenz des anderen.

Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha, Gertraud Cerha (Cembalo)

Ein umgekehrtes Beispiel, nämlich für die Zurückdrängung der weichen, glissandierenden Fläche ergibt sich gegen Ende des Satzes. Hier tritt die Klangfamilie gesammelt ins Zentrum, die Ligeti mit dem Merkmal des Nachhalls verbindet. Wiederum ist das Schlagzeugregister präsent, allerdings mit ganz anderen Instrumenten (z.B. Becken, Gongs, Glocken und Vibrafon). Außerdem mit von der Partie: die Harfe, als eine Art weicheres, dunkleres, auch resonanzreiches Pendant zum Zupfklang des Cembalos. Kräftige Schläge bzw. Anrisse auf den betreffenden Instrumenten vermitteln zwischen Punktuellem und Flächigem: Ein einzelner Ton reicht oft aus, um sich im Nachhall zu entfalten. Die Vielzahl der auftretenden Instrumente überdeckt schließlich das weiche Gewebe der Streicher und Stimmen. Erst eine prozesshaft etablierte ‚Entdichtung‘ bringt es am Ende des Satzes wieder an die Oberfläche.

Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha, Gertraud Cerha (Cembalo)

Ein Merkmal, das nicht nur den von Ligeti bewunderten dritten Satz, sondern die Relazioni insgesamt betrifft, tritt in den Gegensätzen Zustand und Prozess zutage. Die Bildung von Geweben mittels der seriellen Technik zeigt Cerhas Liebe zum Detail, zum Feilen an differenzierten, exakt geformten Elementen und ihrer Verknüpfung. Es entstehen Klangzustände mit einem jeweils bestimmten, einzigartigen ‚Geschmack‘. Andererseits ist es aber auch die Entwicklung solcher Zustände, die Cerha in besonderem Maß interessiert. Durch ein Zusammendenken verschiedener, manchmal auch gegensätzlicher oder gegeneinander ankämpfender Zustände entsteht die spezielle Spannung, die den Relazioni fragili zueigen ist. Der Komponist fasst zusammen:

Es gibt in dem Stück Blockbildungen, die zuständlich wirken, es gibt aber auch Zustandsänderungen; dass sie sich hauptsächlich an Nahtstellen, an bewussten Bruchstellen vollziehen, zeigt, wie sehr „Dispersion“ und „Komposition“ in der Großform und im Detail mich gleichzeitig beschäftigt haben. Was für mich an dem Stück heute noch reizvoll ist, ist das Oszillieren zwischen Zustandshören und Gestalterlebnis.

Friedrich Cerha

Schriften – ein Netzwerk, Wien 2001, S. 61.

Ihre eigene kompositorische Geschichte schrieben die Relazioni fragili nach der Uraufführung 1960 weiter: Cerha nahm sich des Stücks erneut an und erweiterte es an einigen Stellen (u.a. wurde der Schlagzeugapparat vergrößert). Die handschriftliche Umarbeitung in einer Kopie des Manuskripts gewährt faszinierende Einblicke in die Werkstatt des Komponisten. Der gesamte dritte Satz ist nachfolgend mit diesen teils wüsten Partiturseiten zusammengefasst, unterlegt mit einer Aufnahme der „reihe“ aus dem Jahr 1976. Am Dirigierpult: Friedrich Cerha, am Cembalo: Gertraud Cerha.

Interpretenangaben

Schatztruhe