Klavierstücke für Kinder
oder solche,
die es werden wollen
Was wissen denn die Erwachsenen…
Piccola commedia
Konzert für Violine, Violoncello und Orchester
Irina Cerha, „Kinderspielplatz“, undatiert
Einige von Irina Cerhas Zeichnungen stehen in unmittelbarem Bezug zur Musik ihres Vaters – andere wiederum stehen für sich selbst. Die Zeichnung „Kinderspielplatz“ gehört zu den frühen Arbeiten der Künstlerin und ist keinem konkreten Stück zugeordnet. Zu den Klavierstücken für Kinder passt die verspielte Grafik dennoch.
Foto: Christoph Fuchs
Wie der Vater, so die Tochter?
Quelle: Robert Neumüller/Irina Cerha
2005 dreht der Regisseur Robert Neumüller den Portraitfilm So möchte ich auch fliegen können. Er zeichnet Friedrich Cerhas Stationen als Mensch und Komponist nach. Im Zuge der Dreharbeiten interviewte Neumüller auch seine Töchter Irina (*1956) und Ruth (*1963). Beide sind künstlerisch aktiv, wählten aber (trotz instrumentaler Ausbildung) nicht die Musik als erstes Tätigkeitsfeld aus. Während Ruth sich als Schriftstellerin einen Namen machte, war Irinas Leidenschaft visueller Natur. Bereits als Kind griff sie oft zum Bleistift, um ihre inneren Bilder auf Papierbögen zu bannen. Einige expressive Zeichnungen aus ihrer Jugend sind in besonderer Weise auch mit dem Werk ihres Vaters verflochten – sie begleiten einen Zyklus von Klavierstücken, die Friedrich für Irina komponierte.
Außenansicht
Die Klavierstücke für Kinder oder solche, die es werden wollen entstanden in einem Umfeld, das ihnen in vielerlei Hinsicht widersprach. Fast alle Stücke wurden 1964 geschrieben, nur einzelne bereits früher. Der experimentelle und erforschende Geist der 1960er Jahre ebenso wie Cerhas damalige avantgardistische Ausrichtung passen kaum zu den miniaturartigen, witzigen und leichten Stücken. Allein die ein Jahr zuvor entstandene Elegie für Klavier deutet an, wie sehr sich die Klavierstücke für Kinder von den anderen Werken aus dieser Zeit unterschieden.
Cerha, Elegie für Klavier, Autograf, 1. Zeile, 1963
Cerha, Elegie für Klavier (1963)
Interpret: Wolfram Weiss
Hier, in der Elegie, ein konzentriertes, spannungsreiches und ernstes Strukturgefüge von tonsprachlicher Abstraktion – dort, in den Klavierstücken, ein kunterbuntes Spiel mit Gesten, Bewegung und Bildern. Es sind diese Kontraste, die deutlich zu Erkennen geben, dass sich in Cerhas Œuvre nichts kategorisch ausschließt. Koexistenz in der Breite prägt die künstlerische Entwicklungslinie ebenso wie Stringenz im Einzelnen. Gleichzeitig ist an den Klavierstücken eine typische Arbeitsweise erkennbar: Neben den großen Werken entstehen parallel fast immer kleinere. Sie leben in Gegensatz zur ausdauernden Kraftanstrengung vom spontanen Ausdruck. 1964 arbeitete Cerha besonders intensiv am Großprojekt Exercises – im gleichen Jahr schrieb er neben den besagten Klavierstücken aber auch weitere pianistische Kleinformate: Fünf kleine Stücken etwa, im Duett mit einer Klarinette, oder Sieben Anekdoten, dort mit Flöte. Unter all diesen schmal dimensionierten Werken stechen die Klavierstücke durch ihre einzigartige Widmung – für Irina und „für Kinder“ – hervor. Für junge Finger und Ohren komponierte Cerha jedoch nicht nur einmal: Auch seiner zweiten Tochter Ruth schenkte er später einen Klavierzyklus. Die Adaxl-Suite beschreibt in 15 fantasievollen Stücken tonmalerisch das Leben einer Eidechse (österreichisch: Adaxl), inspiriert von den Echsen, die Friedrich und Ruth „oft auf den warmen Steinen“Cerha, Begleittext zur Adaxl-Suite, AdZ, 000T0076/2 in Maria Langegg beobachteten.
Cerha, Adaxl-Suite, Autograf, Ausschnitte, 1987, AdZ, 00000076
Brücke
Mit dem Vorhaben, Klaviermusik speziell für Kinder zu schreiben, reiht sich Cerha in eine Tradition ein, die vor allem im 19. Jahrhundert Bedeutendes hervorbrachte. Die künstlerische Aufmerksamkeit in Richtung eines jungen Publikums geht dabei auf einen breiten kulturgeschichtlichen Hintergrund zurück: Mit Anbruch der Aufklärung rückte man von der Vorstellung ab, Kinder als Mängelwesen zu betrachten, die erst im erwachsenen Alter zu vollwertigen Menschen werden. Man begann, der ersten Phase des Lebens vermehrt Beachtung zu schenken. „Die Kindheit“, so Jean-Jacques Rousseau, „hat ihre eigene Art zu sehen, zu denken und zu fühlen, und nichts ist unvernünftiger, als ihr unsere Art unterschieben zu wollen.“Jean-Jacques Rousseau, Emil oder Über die Erziehung, Paderborn 1971, S. 69 Eine logische Folge aus diesem Denken: Kinder sollten nicht die gleiche Literatur wie ihre Eltern spielen – es galt, eine eigene für sie zu kreieren. In der Folge entstand ein eigenes Marksegment mit Notenalben für Kinder. Die Urheber waren oft gestandene Künstler: Felix Mendelssohn Bartholdy, Stephen Heller, Peter Tschaikowski oder Carl Reinecke. Besonders ein Name aber klingt bis heute nach: Robert Schumann.
Er komponierte etwa Zwölf vierhändige Klavierstücke für kleine und große Kinder (titelverwandt mit Cerhas Klavierzyklus) und 1848 das berüchtigte Album für die Jugend – der Gradmesser für pianistische Kinderstücke schlechthin. In Schumanns Album, aufgeteilt in eine Abteilung „für Kleinere“ und eine „für Erwachsene“, offenbaren sich einige Merkmale des Kinderstück-Genres besonders deutlich. Einerseits sind die enthaltenen Stücke meist besonders kurz – meist füllen sie etwa eine halbe Notenseite –, andererseits sind sie Träger einer Stimmung, die durch einen entsprechenden Titel ausgedrückt ist: Soldatenmarsch, Jägerliedchen, Wilder Reiter oder Knecht Ruprecht.
Beide Eigenschaften finden sich auch in Cerhas Klavierstücken für Kinder wieder. Alle Kompositionen tragen mindestens einen, manchmal sogar mehrere Namen und beschränken sich meist auf wenige Zeilen. Wie in Charakterstücken der Romantik ist jedes Stück von einer poetischen, mit dem Titel verflochtenen Idee durchdrungen. In den mehrfachen Überschreibungen kommt ein (doppelbödiger) Humor zum Tragen. Gleichzeitig regen sie zu eigener Fantasie an: Es liegt nahe, die Titel beliebig zu ergänzen. Mit Schumanns Albumblättern haben Cerhas Stücke schließlich auch gemein, dass sie in Abschnitte aufgeteilt sind, die sich an Klavierspieler:innen unterschiedlichen Niveaus und Alters richten. Obwohl die Adressaten bewusst in der Schwebe gelassen werden (durch ambivalente Bezeichnungen wie „ausschließlich für Kinder und Erwachsene“), gibt es dennoch Schwerpunkte. Die ersten zehn Stücke sind der (wie auch immer sich ausdrückenden) kindlichen Erlebniswelt gewidmet, während die restlichen acht eher die Jugend in den Blick nehmen. Auf einer Manuskriptseite für den späteren Verleger, die Universal Edition, fasst Cerha die Sektionen inklusive ihres Entstehungsjahres zusammen.
A Duet, Holzstich für das Magazin „Harper’s Young People“, Vol. 9/419, 1887
Quelle: Hathi Trust Digital Library
Ein weiterer Aspekt, der Cerhas Klavierstücke auszeichnet, ist ihre des Öfteren persönliche Natur. Zwischen den Notenzeilen hinterließ seine Tochter ihre Spuren. Einerseits gehen die überwiegend „parodistische[n] Charaktere“Cerha, Begleittext zur Klavierstücke für Kinder, oder solche, die es werden wollen, AdZ, 000T0067/2 auf sie zurück: Seit Kindheitstagen habe sie es „besonders geliebt“, mit ihrem Vater „zu blödeln“ – ein Wesenszug, den die Musik behutsam einfängt. Andererseits beteiligte sich Irina Cerha auch auf kreative Weise an der Sammlung: „Mit etwa 13 Jahren begann sie intensiv zu zeichnen“. Für die Druckausgabe der Klavierstücke wählte sie mit ihrem Vater in den 1970er Jahren einige ansprechende, „zum Teil karikaturistische Blätter“ aus. Die Zeichnungen wurden im Kleinformat schließlich neben den Notentext gesetzt. Wieder zeigt sich hier eine Verwandtschaft zum Album für die Jugend, denn Schumann hegte ebenfalls Pläne, seine Stücke illustrieren zu lassen – auch wenn er sie letztlich nicht verwirklichte.Schumann schrieb an seinen Kollegen Carl Reinecke, er plane, für jedes Stück eine Illustration nebenbei zu stellen, dieser Plan hätte jedoch aufgrund der Verlagspläne und zu wenig Zeit nicht realisiert werden können. Vgl. Erler, Robert Schumanns Leben, Bd. 2, S. 62
Irina Cerha, diverse Zeichnungen, ca. 1970er Jahre
Foto: Christoph Fuchs
Im Jahr 2020 wandte sich Irina Cerha den ihr gewidmeten Stücken erneut zu. Gespielt hatte sie diese schon seit ihrer Jugend. Nun, zum Anlass des anstehenden 95. Geburtstag ihres Vaters, nahm sie alle Kompositionen erstmals am eigenen Klavier auf. In einem eigens produzierten Video verband sie die persönlichen Aufnahmen mit ihren Zeichnungen – ein Geschenk, das die Verschmelzung der visuellen und akustischen Kunst zelebriert und zugleich ein Zeugnis der innigen Beziehung zwischen Vater und Tochter ist.
Innenansicht
Für die Betrachtungen der Klavierstücke für Kinder konnte „Cerha Online“ eine Expertin gewinnen: Univ.-Prof. Dr. Anne Fritzen schloss ihre Dissertation 2019 über die Oper Der Riese vom Steinfeld ab und studierte (künstlerisch wie pädagogisch) Klavier an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig. Derzeit ist sie Professorin für Musikpädagogik und künstlerisch-pädagogische Ausbildung an der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ in Weimar. Für unsere Plattform schrieb sie einen Gastkommentar:
Cerhas Klavierstücke für Kinder oder solche, die es werden wollen (1964) ist – wie der Name schon verrät – eine Sammlung, die sich wiederum aus vier kleineren Sammlungen sowie einem Einzelstück zusammensetzt.Fünf Stücke für Kinder oder solche, die es werden wollen, Noch fünf Stücke, ausschließlich für Kinder und Erwachsene, Vier Klavierstücke für Schimpansen oder Pubertierende aller Altersstufen, ein Rondo mit dem Untertitel Wut über die eigene Schlamperei und Drei Stücke [für frühzeitig alternde Jugendliche (aller Altersstufen)]
Obwohl sich im progressiv ansteigenden Schwierigkeitsgrad der Stücke von leichten Zweizeilern bis mittelschweren zweiseitigen Stücken sowie im Titel eine gewisse pädagogische Ausrichtung wiederfindet,Damit ist es eines der wenigen pädagogisch konzipierten Werke Cerhas. Als weitere pädagogische Werke seien beispielsweise die Adaxl-Suite für Klavier (1970/1987), Band 2 der Klavierstücke für Kinder (2016/17), Bekenntnis für Kinderchor (2008) sowie je nach Blickwinkel Cerhas 21 naseweise Notizen für Klavier (2016) und das Zebra-Trio (2010) genannt. richten sich die Stücke dennoch nicht nur an Kinder, wie sowohl die Titel der Sammlungen als auch die Kompositionen selbst verdeutlichen. Ansprechen soll die Musik alle, die sich selbst nicht zu ernst nehmen und sich für ironische Unter- und Zwischentöne begeistern können.
Die Themenwahl der ersten Stücke berührt zunächst Fragen, mit denen sich Kinder in ihren ersten Klavierstunden auseinandersetzen, beispielsweise Ist er oder sie – damit ist der oder die Klavierlehrende gemeint – streng?? Oder nicht streng??, was sich dann praktisch daran zeigt, wie genau auf die Umsetzung der von Cerha detailliert angegebenen Dynamik- und Artikulationsangaben im Unisono-Satz geachtet wird. Aber auch leidige Themen wie das „Zählen“ greift Cerha auf: Dieses verflixte Zählen spielt mit ständigen Taktwechseln und lässt mit dem Untertitel Was wissen denn die Erwachsenen, was einem Kind Spaß macht! gleichzeitig offen, ob das Wirrwarr an Taktwechseln nun mehr oder weniger lustig für Kinder ist.
Als weitere „Belustigungen“ – diesmal aber wohl eher für musikalisch schon etwas Bewandertere – spielt Cerha in den Kinderstücken auf diverse Komponisten an: Tanz der Oma nutzt beispielsweise humorvoll ständig wechselnde Taktarten und scharfe Akzentuierungen wie sie auch bei Igor Stravinskij zu finden sind. Gleichzeitig setzt Cerha Akzente und Motive so, dass das Metrum zu „hinken“ scheint und ahmt damit das Tanzen einer älteren, etwas gebrechlichen Dame nach. Cerhas Rondo mit dem Untertitel „Wut über die eigene Schlamperei“ lässt hingegen unweigerlich an Ludwig van Beethovens Rondo a Capriccio op. 129, die Wut über den verlorenen Groschen, denken. Frei kombiniert Cerha hier Beethoven-Motive, überspringt aber bisweilen „schlampig“ Zählzeiten und Takte aus dem „wütenden“ Vorbild. Weitere Anspielungen und Ironisierungen reichen von Carl Czerny (in Das in den Spiegel schauen ist was Blödes!! oder Aber Stumpfsinn wirkt angenehm beruhigend) über Béla Bartók (in Reise auf den Balkan) bis hin zu Eric Satie (in Ich finde das Leben viel zu aufregend oder Auch Kinder haben das Recht auf einen Psychiater).
Doch neben Verrücktheiten und Ironie schwingen in einigen Stücken auch immer wieder Ernst und Nachdenklichkeit mit wie in Die schlimme Hand oder Angeblich muss Polizei auch sein. Hier soll der oder die Ausführende mehrmals mit der einen auf die andere Hand schlagen, um einen Klang zu erzeugen, welcher dann mit dem Pedal als Echo aufgefangen wird. Damit ist spieltechnisch wie akustisch das Empfangen einer Strafe nachgebildet.
So entsteht in den Stücken ein Oszillieren zwischen Spaß und Ernst, zwischen Kind- und Erwachsensein, wobei die Grenzen, wem nun Spaß und wem Ernst, wem Vernunft und wem Weitsicht zugeordnet wird, fließend sind und ironisch immer wieder versetzt werden. Bei allen Stücken, so Cerha, liegen „die Rechte (einschließlich das Einschreiben von Fingersätzen und Verbesserungsvorschlägen) […] bei den Kindern.“ So räumt er ihnen für den Unterricht demokratisches Mitgestaltungsrecht ein und lässt dezidiert auch die kreative Auseinandersetzung mit dem Material zu, denn, so Cerha im Vorwort: „Wer weiß schon, was Kindern lustig ist?“
Speziell für „Cerha Online“ konnten zwei Jungstudentinnen der Gustav-Mahler-Privatuniversität als Interpretinnen gewonnen werden. Paula Liebhauser und Hannah Senfter erarbeiteten die Klavierstücke gemeinsam mit Anne Fritzen und spielten 2020 alle Nummern ein. Die Videoaufnahmen führen im Folgenden nochmals durch den Zyklus – diesmal jedoch durch eine andere Perspektive betrachtet und ergänzt um kurze Anmerkungen zur Musik.
Klavier: Paula Liebhauser
Ton & Schnitt: Bruno Singer
Klavier: Hannah Senfter
Ton & Schnitt: Bruno Singer