Netzwerk

Verstrickungen

Intersecazioni

Fasce

Friedrich Cerha, Netzwerk, Theater an der Wien 1981

Das Szenenbild zu den Teilen „Hauptsatz VIII B“ sowie „Regress L“ ist wohl das prominenteste zu Cerhas Musiktheater Netzwerk. Es zeigt fünf Männer, die nach ihren anfänglichen Versuchen, ins Zentrum eines Netzes zu gelangen, an diesem kleben bleiben – ein Sinnbild für die gefährlichen Verstrickungen des Menschen in der ihn umgebenden Welt.

Bildquelle: Archiv der Zeitgenossen

Ballett, Theater, Oper, Pantomimenspiel…
Es gibt viele Etikette, die man auf Cerhas Netzwerk kleben könnte – haften bleiben würde wohl keines. Vorhang auf!

Produktion Wiener Festwochen 1981, Theater an der Wien, 
Inszenierung: Giorgio Pressburger, 
Choreografie: Ivan Marko,
Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha, Peter Binder (Bariton)

Die Eröffnung des etwa zweistündigen Bühnenwerks – dem ersten Cerhas, das auch auf die Bühne gebracht wurde – bedient sich theatralischer Gesten: Ein Sprecher reißt den Vorhang nieder und beginnt einen Monolog zu sprechen, den niemand verstehen kann. Dennoch wirken die Art und Weise, wie er spricht seltsam vertraut, als ob er Dinge ankündige, für die es keine Sprache braucht. Seiner Rede folgen Bilder wie aus Urzeiten: Kreisende Planeten, verschwommene, flimmernde Formen, Dunkelheit. Aus dem Nichts erklingt gottartig eine menschliche Stimme. Die Symbole, deren sich Cerha bedient, verraten, worum es sich bei Netzwerk wirklich handelt: Es ist der Entwurf eines modernen Welttheaters.

Außenansicht

1967 beendet Cerha die Partitur von Exercises. Die letzten Noten sind geschrieben und damit eine jahrelange Arbeit beendet. Welchen Platz das Stück jedoch im Kulturbetrieb finden wird, ist dem Komponisten zunächst völlig schleierhaft. „Was wird er damit anfangen?“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 84 notiert Cerha nach Beendigung der Komposition, wohl wissend, dass Exercises „unabhängig von den Anforderungen durch den Apparat“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 84 entstanden sind.
Zwar dauert es nicht lange, bis das Stück schon im Folgejahr seine Premiere erlebt, der viele weitere Aufführungen folgen, doch die Geschichte der Exercises soll damit noch lange nicht besiegelt sein. Eine Notiz Cerhas kündigt 1967 an, was sich erst Anfang der 1980er Jahre erfüllen sollte: Die Überführung des Stücks auf die Theaterbühne:

Von Anfang an verfolgten mich bei der Arbeit an Exercises bildhafte Vorstellungen zu den einzelnen Sätzen. Ich dachte schon daran, der Anordnung des musikalischen Werks folgend ein Theaterstück oder einen Film zu entwerfen. So wie im Stück wäre nicht eine ablaufende logische Handlung darzustellen, sondern in den einzelnen Anläufen eines Individuums, die von verwandten Antrieben ausgelöst werden, die Möglichkeiten einer Existenz zu durchleuchten. Die Idee, Theaterstück und musikalisches Werk zu vereinen, war mir zunächst unangenehm. Beim Überdenken und Arbeiten ergab sich aber plötzlich alles zwangsläufig, fast möchte ich sagen, von selbst.

Friedrich Cerha

Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 83

Seinen theatralisch-visuellen Vorstellungen folgend, erfand Cerha bereits 1967 ein „ausführlich ausgearbeitetes Szenarium“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 235 zur Musik der Exercises. Autark in der Konzipierung, ohne Rücksicht auf die Verwertung innerhalb der Musiktheaterbranche selbst, ähnelt der theatralische Entwurf seinem ebenso eigensinnigen Bühnenerstling Spiegel. Auch dort waltet eine Spannung zwischen Stücken, die „rein musikalisch erfunden“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 228 sind und verwandten bildhaften Ideen, die sich während des Entstehungsprozesses parallel entwickelten, sodass beide Ebenen schließlich zusammengeführt wurden. Auch dort spricht Cerha von einem „Welttheater“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 66. Und auch dort verhinderte die unmögliche Einordnung des Gesamtwerks in eine der gängigen Schubladen des Musiktheaters die Umsetzung: Bis heute bleibt eine vollständige Bühnenaufführung der Spiegel Utopie. Den Exercises erging es glücklicherweise anders: Im Theater an der Wien dirigierte Cerha mit der „reihe“ 1981 die lang ersehnte Bühnenfassung unter dem neuen Namen Netzwerk. Der italienische Theaterregisseur Giorgio Pressburger sorgte für die Inszenierung, der ungarische Choreograph Iván Markó für die Aktionen der involvierten „Bewegungsgruppe“.

Szenenbilder zu Netzwerk, Wien 1981, AdZ, 000F0078

Brücke

Die lange Entstehungsgeschichte von Cerhas ersten musikalischen Niederschriften 1961 bis zur 20 Jahre späteren Bühnenaufführung wirft eine entscheidende Frage auf: Kann im Falle von Netzwerk überhaupt von einem eigenständigen Stück gesprochen werden? Oder verbergen sich hier nicht bloß Cerhas Exercises unter dem Mantel des Theaters? Eine Antwort ist nicht klar zu erteilen. Zwar ist es richtig, dass die Exercises das Rückgrat für Netzwerk bilden, sich so also eine große Schnittmenge zwischen beiden Stücken ergibt. Dennoch ist eine Abgrenzung mehr als berechtigt. Als sich Cerha 1978 die Chance bot, sein Stück auf die Bühne zu bringen, öffnete er den geschlossenen „Organismus“ der Exercises nochmals, um ihm neue Glieder hinzuzufügen. „Etliche Umbildungen und Erweiterungen“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 235trugen zu einer Metamorphose bei, als deren Ergebnis ein weitaus üppigeres Stück hervorging. Der vielsagende Titel Netzwerk verweist auf diesen neu entstandenen Beziehungsreichtum: Wie in einem tatsächlichen Netz spielen weit gespannte Verbindungslinien eine bedeutende Rolle, wie dort ist aber nicht alles mit allem verbunden, sondern durch bestimmte, herausgestellte Knotenpunkte zusammengehalten. So ergeben sich einerseits Räume zur freien Entfaltung, andererseits bewusste Zusammenhänge, Verknüpfungen, Schnittstellen.

Cerha, Plakatentwurf zu Netzwerk, 1981, AdZ, 000S0078

Der Titel Netzwerk lenkt darüber hinaus die Aufmerksamkeit auf eine besondere Facette: Die Zugehörigkeit des Stücks zu Cerhas von der Kybernetik inspiriertem Werkkreis. Für die Einordnung in dieses interessante Gebiet sind die Namen zweier Kybernetiker unentbehrlich: Norbert Wiener und William Ross Ashby. Beide Wissenschaftler – Wiener primär Mathematiker, Ashby primär Psychiater – gehören zu den Begründern der ab etwa 1946 systematisch erkundeten interdisziplinären Denkrichtung. Mit beiden Wissenschaftlern setzte sich Cerha während der langsam gedeihenden Komposition der Exercises gründlich auseinander.
Die Lektüre der Schriften Wieners strahlt Mitte der 1960er Jahre auf die Genese von Exercises merkbar ab. Durch die vorherige Kooperation mit dem Ingenieur und Tontechniker Hellmut Gottwald, der Komponisten bei der Realisierung ihrer Vorstellungen am Wiener „Studio für Elektronische Musik“ zur Seite stand, wurde Cerha auf Wieners Schrift Kybernetik aufmerksam und begann, sie zu studieren:

Das besonders bekundete Interesse an „lernenden und sich selbst reproduzierenden Maschinen“, ein Kapitel, das Wiener 1961 in der zweiten Ausgabe seiner Schrift hinzufügte, wird in Exercises zum Programm: Auch die Musik in Cerhas Stück lernt und reproduziert sich in gewisser Hinsicht, immer geschult an Veränderungen von geschickt in Szene gesetzten Bedingungen.
1966 notiert Cerha gar zwei Zitate aus Wieners Autobiografie auf „einer Partiturseite aus dieser Zeit“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 80. Das erste dieser Zitate eignet sich auf bemerkenswerte Weise auch zur Beschreibung der Struktur von Cerhas heterogenem Netzwerk:

Organisation müssen wir als etwas betrachten, bei dem eine Wechselwirkung zwischen den verschieden organisierten Teilen besteht, die aber Grundunterschiede aufweisen. Bestimmte innere Zusammenhänge müssen wichtiger sein als andere, das besagt, also, dass die innere gegenseitige Abhängigkeit nicht vollständig ist und dass die Festsetzung bestimmter Größen des Systems die Möglichkeit offenlässt, andere zu verändern. Diese Variation von Fall zu Fall ist statistischer Art, und nichts lässt für einen bedeutsamen Begriff von Organisation weniger Raum als eine statistische Theorie.

Norbert Wiener

Zitiert in: Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 80

Nicht minder wichtig als die Begegnung mit Wiener ist Cerhas Entdeckung einer Apparatur von Ross Ashby. Dieser entwickelte eines der frühesten Werkzeuge im Bereich der künstlichen Intelligenz, einen Schaltkreis aus vier elektromagnetischen Blöcken. Ashby taufte seine Maschine auf den Namen „Homöostat“ und folgte damit einem seit dem 19. Jahrhundert bekannten Konzept aus der Biologie, der Homöostase. Diese beschreibt die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts in einem Organismus und wurde für Cerha zu einem umfangreichen poetologischen Programm. 1966 schreibt er in seinen Notizen zu Exercises:

Ich habe ein Modell gefunden, das für mich wichtig werden kann: Ashbys Homöostat. Das ist ein umweltunabhängiges System, das aus vier Schalteinheiten oder Untersystemen besteht (bewegliche Magneten mit Stufenschaltern). Wird der Zustand der Stabilität gestört, versucht das System innerhalb der neuen Bedingungen wieder Stabilität zu erreichen; die untereinander verbundenen Stufenschalter beginnen sich spontan auf verschiedene Parameterwerte einzustellen, das System beginnt zu oszillieren, bis eine Parameterkombination gefunden wurde, die wieder Stabilität des gesamten Systems erreichen lässt.

 

Friedrich Cerha

Cerha, Notizen zu Exercises, AdZ, 000T0061A/43

Ashby selbst skizzierte den Homöostaten bereits in den 1940er Jahren, wie Aufzeichnungen aus seinen Manuskriptbüchern belegen. Als er 1948 schließlich gebaut werden konnte, schuf Ashby mit ihm die wohl erste wirklich kybernetische Apparatur, kryptisch und futuristisch anmutend, konzentriert in der Vermittlung einer nuancierten Poesie des Gleichgewichts, die sich Cerha aneignete.

W. Ross Ashby, Elftes Journal, Zeichnung des Homöostaten (Schaltkreis), 1948
W. Ross Ashby, Fotografie des Homöostaten, 1948

Innenansicht

Inspiriert von Ashbys Homöostat und Wieners Ausführungen über Gehirnwellen, die sich fortwährend in gleichgewichtigen Zuständen halten, wird die Problematisierung von Stabilität in Cerhas Netzwerk zum Dreh- und Angelpunkt der musikalischen und szenischen Abläufe. Bereits im Orchesterstück Fasce lotete Cerha derartige Problemstellungen künstlerisch aus, blieb dort allerdings in einer einheitlichen und gleichförmigen Musiksprache verhaftet. In Netzwerk wird diese Treue zu einem Stil aufgekündigt – Ungleichartigkeit beherrscht die verschiedenen Ebenen, die sich im Stück gegenseitig beeinflussen.
Wie schon in den Exercises lassen sich besonders zwei Niveaustufen unterscheiden: Hauptsätze und Regresse. In den Hauptsätzen stellt Cerha meist eine weitgehend stabile Ordnung dar, die sich jedoch immer wieder neu gegenüber feindlichen Kräften beweisen muss. Diese Kräfte rühren aus den dazwischen gelegten Regressen. Die „Regress“-Schicht symbolisiert am ehesten das, was die kybernetische Theorie als „Umwelt“ bezeichnen würde: Gemeint ist hiermit eine Sphäre, die einem regulierenden System gegenübersteht und aus der Störungen auf dieses einwirken können. In ähnlicher Weise fasst auch Cerha selbst die widerstreitenden Kräfte in Netzwerk auf:

In technischer Hinsicht wurde mein Stück immer mehr einem System vergleichbar, das aus verschieden strukturierten Untersystemen besteht. Ordnungen geraten da und dort in Widerspruch, Störungen treten auf. Das Problem, sie zu erzeugen, begann für mich eine immer größere Rolle zu spielen. Zwischen die Hauptabschnitte gelegte kurze Teile, die ich „Regresse“ nannte, haben eine derartige Funktion. Sie sind regressiv im Zurückfallen von höheren Organisationsebenen auf primitivere Gestaltungen des Grundmaterials, sie sind aber – traditionelle Formulierungen einbegreifend – meist noch stärker regressiv in stilistischer Hinsicht. Mit einem Schein von Unmittelbarkeit brechen sie in die weit puristischer geformten Blöcke der Hauptsätze ein.

Friedrich Cerha

Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 233

Die Umarbeitung von Exercises zu Netzwerk im Zuge der Anpassung für die Bühne bewirkte letztendlich, dass zu den beiden grundlegenden Ebenen der Hauptsätze und Regresse noch weitere hinzukamen, die in keines der beiden Schemata zu passen schienen: Das Stück wurde noch heterogener. Cerha komponierte Zwischenspiele, Rezitative, Trios sowie völlig eigenständige, experimentelle Sprachpartien und konzipierte zwei Szenen ohne Musik. All dies zusammengenommen ergibt ein Mosaik aus musikdramatischen Bildern, die im Kern nichts erzählen, sondern stets Zwischenzustände darstellen: Temporäre Episoden von Macht und Ordnung. Dass in dieser Sichtweise auch ein gesellschaftlich-politisches Potential steckt, ist nicht von der Hand zu weisen. Cerhas bewusste Anknüpfung an das barocke „Theatrum mundi“Vgl. Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 237: „Nicht von vornherein intendiert, entstanden in der Arbeit immer deutlicher erkennbar auch Bezüge zu historischen, vor allem barocken Formen von Welttheater […].“ verstärkt diesen Blickwinkel: Uranfangs- und Endzeitszenen, ganz ähnlich wie im Theaterentwurf zu den Spiegeln, beschwören die Klammern des Weltgeschehens, während sich dazwischen eine Art Geschichte der menschlichen Zivilisation entwickelt.

Cerha, Szenenübersicht zu Netzwerk, AdZ, 00000078/4

Netzwerk ist eine Art Welttheater – eine Schaubühne, auf der sich der Mensch als Gattung darstellt. Entsprechend den Vorgängen in der Musik gibt es keine ablaufende Story und kein sich entwickelndes Einzelschicksal. Grundsituation, auf die immer wieder zurückgegriffen wird, ist die Beziehung von Leben, das sich entwickeln muss und Ordnung, die sich erhalten möchte. Die Masse „Mensch“, aus unendlicher Ferne gesehen uniform in ihrem Verhalten – wie eine Art Insektenstaat –, schafft notgedrungen Ordnungen und ist ihnen unterworfen. Der „menschliche“ Überbau: Ordnungen werden willkürlich gelenkt, Unterwerfung wird gefordert, Ordnungssysteme werden – einem urtümlichen Bedürfnis folgend – mit höherem Sinn begründet. Macht- und Herrschaftsstrukturen politischer, religiöser und humanistischer Prägung werden logisch daraus abgeleitet. Die Menschheit reibt sich an ihnen – und produziert sie immer wieder. Systeme geraten zueinander in Widerspruch, beeinflussen einander, lösen einander auf oder ab.

Friedrich Cerha

Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 236

„Ordnung“ und „Ordnungssysteme“ – diese Begriffe fallen in Cerhas Beschreibungen zu Netzwerk immer wieder. Betrachtet man sie aus gesellschaftspolitischer Perspektive, so verbergen sich in ihnen Herrschaft und Unterdrückung. In kybernetischer Lesart ist das Bedürfnis eines Systems nach Regulierung gemeint: das Erreichen eines Ziels. Symptomatisch für Cerhas Ansatz ist es, die eigentliche Stärke des Systems in der unentwegten Durchbrechung von Ordnung, in der Infragestellung des stabilen Zustands zu suchen. Die Ideen zu dieser Geisteshaltung gehen maßgeblich auf Ross Ashby zurück. Wird am Homöostat einer der äußeren Schalter umgelegt, so beginnt im der Folge ein wahrlicher Balanceakt. Die mit Magneten verbundenen Drähte an den vier Blöcken geraten in unkontrollierte Bewegung, während elektromagnetische Drehwähler im Inneren der Blöcke neue Positionen suchen. Beruhigung tritt erst ein, wenn diese Positionen gefunden sind. Hat sich ein neues Gleichgewicht eingestellt, so ruhen die vier Drähte schließlich in mittiger Stellung. Was im Homöostaten technisch anmutet, besitzt eine große Aussagekraft: In der Fähigkeit, mit neuen und unvorhersehbaren Situationen zurechtzukommen, liegt eine Schlüsselqualifikation des Überlebens. Der Homöostat verhält sich deshalb wie ein Organismus, der Krisen übersteht und bewältigt. Ashby nannte diese Fähigkeit Ultrastabilität. Wie stark sich Cerha an diesem Konzept orientiert hat, wird deutlich, wenn er die Anlage von Exercises und Netzwerk mit „multistabilen Systemen im biologischen Bereich“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 63 vergleicht.
Im theatralischen Konzept von Netzwerk gehört das Wechseln von Ebenen zur Idee der Multistabilität dazu. Steter Wandel von musikalischen und szenischen Ausdruckstypen ermöglicht die notwendige Flexibilität zur Neuausrichtung von Ordnungssystemen. Orientierung im theatralischen Szenario wird durch einige stilisierte Figuren möglich: Repräsentanten von Macht sind etwa der Bariton (in wechselnden Rollen) und anonym bleibende Ordnungshüter. Ihnen gegenüber steht eine nackte Frauenfigur, die in verschiedenen Szenen auftaucht und beinahe als lebloses Objekt behandelt wird, sowie fünf Sprecherrollen, die durch spezielle Sprachlautstände unterschiedlichen (jedoch nicht exakt bestimmten) Kulturräumen zugewiesen sind. Eine große, schwebende Kugel wird hingegen zum Symbol des Weltgeschehens.

Programmheft zu Netzwerk, Wiener Festwochen 1981, AdZ, KRIT003/11

Die mannigfaltigen Stationen von Netzwerk – 44 an der Zahl – sind nur bedingt exemplarisch darstellbar. In jedem Abschnitt ergeben sich Veränderungen. Die stetigen Wechselbeziehungen zwischen den Ebenen stellen die Weichen dafür, dass keine Ordnung ein zweites Mal wiederkehrt – sehr wohl jedoch erhalten sich über längere Zeiträume einzelne Merkmale einer früheren Ordnung. Diesen wird jedoch innerhalb der jeweils neuen Kontexte ein anderes Gesicht gegeben. Über die Gesamtspanne des Werks führt Cerhas Wandlungspoesie dazu, dass sich die musikalischen Ordnungen der Hauptsätze schließlich völlig verändern und den Gegebenheiten notwendigerweise anpassen. Anhand einiger ausgewählter Entwicklungsstufen lassen sich diese Ordnungswechsel nachvollziehen.

Eine Art Nährboden für die allmähliche Herstellung von Ordnung stellt der erste Hauptsatz dar. Auf der Bühne werden nach den nebulösen Vorgängen in zwei Expositionen nach und nach Strukturen erarbeitet. Ausgehend von einer dunklen Lichtstimmung und einer kargen Umgebung beleben nach und nach uniform gekleidete Menschen den Bühnenraum. Gemäß Cerhas Vorstellung agieren sie als eine Art „Insektenstaat“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 236 und bedienen damit eine Metapher für soziale Organisationsformen, die bereits seit der Antike auf die menschliche Gesellschaft angewendet wurde. Sinnbild für die Formung von Ordnung sind auf der Netzwerk-Bühne auch grün strahlende Netzstrukturen, die im Hintergrund immer wieder zu sehen sind. Der Entwicklung vom Amorphen und Vagen hin zu punktuell erkennbaren Gestalten folgt auch die Musik. Ist diese zunächst in dunkle, undurchdringliche Klangflächen gehüllt, so blitzen aus ihnen im Verlauf immer deutlicher akzentuierte, oft auch scharfe Klangsplitter hervor. So lockert sich das dichte Tongeflecht allmählich auf. Bezeichnend für die Musik ist aber auch eine gewisse Statik. Grundlegend verändert sich der langsam vortastende klangliche Gestus nicht – behutsam bahnt sich die Musik ihren Weg durch verschiedene, mittels Pausen voneinander getrennte Mini-Sektionen. Zwischen ihnen geschehen Veränderungen im Detail, am Ordnungssystem der Klangflächenorganisation hält Cerha aber durchweg fest. An der breiten und gemächlichen Entfaltung des Satzes lässt sich etwas Wesentliches verstehen: Die Musik zum Bühnenstück Netzwerk ist keine Bühnenmusik im Eigentlichen, sie gibt sich nicht vornehmlich dramatisch und bildhaft, wie in Cerhas Opern. Besonders die Hauptsätze bedienen sich einer abstrakten Klangsprache, die dem hochgradig experimentellen Zeitgeist der 1960er angehört.

Produktion Wiener Festwochen 1981, Theater an der Wien, 
Inszenierung: Giorgio Pressburger, 
Choreografie: Ivan Marko,
Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha

Abrupt wirft die sich dem ersten Hauptsatz anschließende Regress das bestehende Ordnungssystem der Musik über Bord. Cerha ordnet das Tonmaterial in der plötzlich einbrechenden Miniatur nicht länger über zarte Klangflächen, sondern organisiert es über Schwärme von schnellen und trockenen Sechzehntelfiguren, die sich überlagern. Aufgrund dieser Überlagerungen sind die einzelnen Figuren nur schwer herauszufiltern – vielmehr teilt sich dem Hörer eine übergeordnete Tonraumbewegung mit. Sie setzt im tiefen Register vorrangig mit den Bassinstrumenten des ersten Hauptsatzes ein und wandert graduell ins hohe, abschließend mit einer knöchrigen Klangmischung aus Klavier, Marimba und Vibrafon. Auf der Bühne findet das illustre Treiben der Musik eine Entsprechung: allerlei individuell erkennbare Charaktere bevölkern den Raum: Das virtuelle Kameraobjektiv auf die Gesellschaft – im ersten Hauptsatz mit dem Effekt weiter Distanz – wird hier durch eines eingetauscht, das die Betrachtung aus größerer Nähe ermöglicht.

Produktion Wiener Festwochen 1981, Theater an der Wien,
Inszenierung: Giorgio Pressburger,
Choreografie: Ivan Marko,
Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha

Wie stark Regresse und Hauptsätze als systemische Ebenen aufeinander reagieren, kann am zweiten Hauptsatz beobachtet werden. Deutlich wahrnehmbar ist die Anknüpfung der Musik an ihren rohen „Urzustand“ – dieser reagiert auf die eingeschleuste Störung besonders anfänglich jedoch mit merkbarer Irritation. Die fragilen Klangflächen sind fast gänzlich zurückgedrängt, es dominieren stattdessen die Unebenheiten. Brachial und grobschlächtig überlagern sich kurze Tonpunkte, scharfe Akzente, unbequeme Klangeffekte (die Blasinstrumente bedienen sich z.B. oft der Flatterzungentechnik) und hintergründige Linien. Dem kybernetischen Regulationsgedanken folgend erobern sich flächige Klänge schrittweise wieder ihren Platz zurück, sie werden jedoch von hastigen Figuren immer wieder an der gänzlichen Wiederherstellung gehindert. Das sich mitteilende Konfliktpotenzial wird durch Vorgänge auf der Netzwerk-Bühne gestärkt. Die Menschenmenge des Beginns steht hier dem Bariton als Herrscherfigur gegenüber, der Bühnenraum ist in zwei klare Räume gegliedert, die Machtinhaber und Volk trennen. Dieses vergewissert sich jedoch zunehmend seiner Tauglichkeit zur Veränderung und durchschreitet schließlich die Trennlinie – Störung führt sinnbildlich zur Durchsetzung einer neuen Ordnung.

Produktion Wiener Festwochen 1981, Theater an der Wien,
Inszenierung: Giorgio Pressburger,
Choreografie: Ivan Marko,
Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha

Cerhas Montierung von Regressen in die Abfolge der Hauptsätze bewirkt in den ersten Stationen eine sehr allmähliche Veränderung der musikalischen Ordnungen. Am Ende des ersten Teils von Netzwerk steht ein weiterer gewichtiger Hauptsatz. In diesem gibt sich ein für Cerha paradigmatisches Ordnungssystem zu erkennen. Es verweist auf den ersten der sieben Spiegel für großes Orchester. Das Bauprinzip ist in beiden Stücken identisch und leicht überblickbar: Von isolierten Orchesterschlägen ausgehend beginnt sich ein Ausfransungsprozess abzuspielen, der alsbald in ungestümen, kaum zu durchdringenden Tonfeldern mündet. Hier wie dort teilt Cerha das Orchester in zwei Klanggruppen auf, man könnte fast von einer Art Doppelkanon sprechen. Dem Konkurrieren der beiden Gruppen entspricht auf der Bühne die Aufteilung einer Menschenmenge in ebenfalls zwei Gruppen. Im Mittelpunkt: der aus dem zweiten Hauptsatz bekannte Herrscherthron als Sinnbild von Macht und Entmachtung. Die erste Menschengruppe kürt einen nackten Mann zunächst zu ihrem Gebieter, ehe die zweite ihn dieser Rolle wieder beraubt und ihn – wie anfangs – an einem langen Seil aufhängt, an welchem er bis zum Schluss der Nummer baumelt. Aus der musikalischen Vogelperspektive ist das allegorische Bühnenspiel durch die Auswechslung der im ersten Netzwerk-Teil dominanten tiefen und herben Klangfarben mit hohen, ätherischen Klangfarben symptomatisch. Diese bleiben am Ende des Ausfransungsprozesses der zweiten Orchestergruppe übrig. Zirpende Klangmischungen von Harfe, Glockenspiel und antiken Zimbeln im ansonsten stillen Raum besiegeln das Ende auch dieses Ordnungssystems.

Produktion Wiener Festwochen 1981, Theater an der Wien,
Inszenierung: Giorgio Pressburger,
Choreografie: Ivan Marko,
Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha

Je mehr man in die Mitte von Cerhas Netzwerk gelangt, desto mehr bewegen sich die musikalischen Ordnungssysteme vom anarchischen, triebhaft wuchernden Klangnährboden des ersten Hauptsatzes weg, hin zu einem Klangideal der artifiziellen Durchorganisation. Erkennbar wird dieses Prinzip etwa im sechsten Hauptsatz, der die Funktion einer Art Mittelachse annimmt. Die Klangsprache zeichnet sich hier durch einen Gestus aus, der Cerhas Musik aus der Phase des seriellen Komponierens erstaunlich nahekommt. Blockhaft setzen sich Felder aus innerlich hochdifferenzierten und komplexen rhythmischen Zellen aneinander, getrennt werden sie wie noch in den ersten Hauptsätzen von etwa gleich langen Pausen – wieder entstehen also Sektionen, nur von völlig anderer Beschaffenheit. Auf der Bühne zu sehen ist ein gespenstisches Getümmel rund um die illuminierte Weltkugel, in der das allegorische, nackte Mädchen wiederum sichtbar ist. Sie wird von einer zwielichtigen Gestalt erschossen. Aus der dunklen Szenerie schält sich ein tanzendes Liebespaar heraus (Regress H) – ein weiterer Blick des Regress-Objektivs auf die „vitale animalische Basis“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 84 des einzelnen Menschen. Die Musik: lyrisch, samtig und von weiten Melodiebögen getragen. Hier ist die Regression im Bereich des Gesanglichen angekommen, völlig gegensätzlich zu den vorherigen punktuellen Klangscharen. Einflüsse auf die Schicht der abstrakten Ordnungen in den Hauptsätzen sind unmittelbar erkennbar: Als nächster Hauptsatz entwickelt sich eine von zwei in Netzwerk anzutreffenden Arien. Angebracht wäre es wohl eher, vom Zerrbild einer Arie zu sprechen. Der Bariton steht als Priesterfigur auf einer Art Kanzel, unter ihm entwickelt sich ein städtisches Treiben diverser Menschen. Sein stilisiertes Gefühlsbild, das von Cerhas für Netzwerk erfundener Kunstsprache lebt, schärfen grazile, manchmal hauchfeine und kristalline Akkordketten. Sie können als ein Überbleibsel der isolierten Schläge, die den Beginn des Hauptsatzes IV B prägen, angesehen werden, fügen sich hier jedoch in einen völlig neuen Zusammenhang ein, der mit den ursprünglich naturhaften Ausfransungen nicht mehr viel gemein hat. Das Ordnungssystem ist hier an einem manieristischen Punkt kunstvoller Klangverzierungen angelangt – ein Punkt, von dem aus die Entwicklung wieder in andere Richtungen ziehen muss, was sie auch tut. Anspielungen auf frühere Ordnungssysteme werden in den sich anschließenden Teilen merkbarer, überwundene Klangzustände kehren in abgewandelter Form später wieder. In ihnen spiegelt sich in gewisser Hinsicht die Unmöglichkeit einer kompletten Kontrollierbarkeit wieder – die kybernetische Vision einer vollkommenen Regulierung gerät zur Illusion.

Produktion Wiener Festwochen 1981, Theater an der Wien,
Inszenierung: Giorgio Pressburger,
Choreografie: Ivan Marko,
Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha, Peter Binder (Bariton)

Schatztruhe