Der Maler

Cerha in seiner Malwerkstatt

Cerhas Werkstatt in Maria Langegg, seinem bevorzugten Sommerdomizil: Hier schuf er fast all seine Gemälde. Die kleine Scheune mitten in der Natur ist ein Ort der künstlerischen Einkehr sowie des organischen Lebens und Erlebens.

Foto: © Hertha Hurnaus

Bilder und Objekte, Dachboden im Haus der Cerhas, Maria Langegg

Foto: Christoph Fuchs

Mit Arnold Schönberg, dem ‚Vater‘ der Neuen Musik, verbindet Friedrich Cerha manches: Wien etwa, sein Geburtsort, aber auch seine Verortung in der österreichischen Klanglandschaft. Gemeinsam ist beiden auch eine ‚Nebentätigkeit‘: die Malerei. Dass ein Komponist zum Pinsel greift, ist kein ganz seltener Vorgang. Im Fall Schönbergs und Cerhas zeigt sich dahinter jedoch ein unbändiger, nach Ausdruck drängender Gestaltungswille, der über die Musik hinausgeht. Die Rangordnung ist jedoch für beide klar: erst das Komponieren mit Tönen, dann jenes mit Farben. Unterschiedlich ist die Positionierung im öffentlichen Raum: Schönberg suchte den Kontakt zur Kunstszene des damals neuen Expressionismus und korrespondierte ausgiebig mit Wassily Kandinsky. Dieser sorgte dafür, dass Schönbergs Bilder 1911 in der ersten Ausstellung des „Blauen Reiter“ zu sehen waren. So geriet er als Maler in den Blick der Szene, aber auch einer größeren Öffentlichkeit.
Ganz anders Cerha: Seine Leinwandaktivitäten blieben Jahrzehnte lang im Verborgenen, im privaten Raum, obwohl er immer schon bildnerisch gearbeitet hatte. 
„In der Musik“ sei er „irgendwie aufgefallen“ und letztlich „ohne Absicht […] in die Rolle des Komponisten hereingeschlittert.“„Debütant mit 90 Jahren… Dieter Ronte im Gespräch mit Friedrich Cerha“, in: Gundula Wilscher (Hg.): Vernetztes Werk(en). Facetten des künstlerischen Schaffens von Friedrich Cerha, Innsbruck u.a. 2018, S. 161-165, hier S. 162 Weil ihm jedoch „der Ehrgeiz fehlte, [sich] um Ausstellungen zu bemühen“, wusste lange Zeit niemand von seiner Tätigkeit. Nach Jahrzehnten der ‚Unsichtbarkeit‘ wurden erst 1989 einzelne Bilder in einer Ausstellung des Salzburger Kulturvereins gezeigt. Das „Musikprotokoll Graz“ bemühte sich 2007, fast 20 Jahre später, um eine weitere Ausstellung, doch der breiten Öffentlichkeit blieb der malende Cerha weiterhin eher unbekannt. Erst 2016 kam es im „forum frohner“ (Krems an der Donau) zu einer umfangreichen Ausstellung von Cerhas malerischem Werk. Die Kunstwissenschaftlerin Theresia Hauenfels hatte die über 1.000 Bilder in Maria Langegg gesichtet und die Werkschau kuratiert. „Ich bin sozusagen mit meinen 90 Jahren ein Debütant“, fasst der Künstler zusammen.

Malen als organische Lebensäußerung

Cerhas Werkstatt in Maria Langegg

Foto: Christoph Fuchs

Ob mit Pinsel oder Bleistift, auf Leinwand oder Notenpapier – das Ausfüllen einer reinen stofflichen Fläche beschreibt den physischen Prozess beim Komponieren wie beim Malen. Dass beide Vorgänge auf ähnliche Weise sinnlich erlebbar sind, leuchtet ein. Gefragt, warum er nicht auf die digitale Notation umgeschwenkt sei – ermöglicht sie doch ein sauberes, makelloses Schriftbild –, antwortete Cerha: „Die Unmittelbarkeit ist mir wichtig. Zwischen Kopf und Niederschrift soll möglichst wenig sein.“Daniela Tomasovsky, „Die Handschrift stirbt aus“, https://www.diepresse.com/5586826/die-handschrift-stirbt-ausEs handele sich beim Schreiben „um ein Tun, um eine organische Lebensäußerung“, die ein Erleben vermittle, das an keinem Computerbildschirm zu erfahren sei.
Der Analogie des Schreibens und Malens folgend, ließen sich Cerhas Deskriptionen einer gestaltenden Körperlichkeit mühelos verbreitern: Auch das Auftragen von Farbe lässt den Schaffenden ohne Umwege mit dem Material in Kontakt treten und ist ebenfalls als „organische Lebensäußerung“ zu verstehen. Bei Cerha erweitern sich die produktiven Bezugspunkte: Nicht nur die Farbgebung prägt seine Bilder, auch das Aufkleben von Objekten nimmt eine wichtige Rolle ein. Mehr noch: Das Zusammentragen von Objekten ist als ein elementarer Teil seiner bildgestaltenden Tätigkeit begreifbar. Hinter dem produktiven Maler steht ein leidenschaftlicher Sammler. Egal ob Dinge aus der Natur oder der menschlichen Welt: Ihre Wertschätzung, ihre Bewahrung beschäftigten Cerha bereits seit der Kindheit.
Zur Sammelstätte wurde mit der Zeit auch das eigene ‚Atelier‘: eine kleine Holzhütte im Wald, unweit seines Domizils in Maria Langegg. Eine Aura der Abgeschiedenheit haftet dieser Werkstatt an. Manch einer mag sich an Gustav Mahlers Komponierhäuschen inmitten einer Waldlichtung über dem Wörthersee erinnert fühlen: Ort der äußersten Konzentration, der (geistigen) Verdichtung von Material. In Cerhas Hütte finden sich unzählige Werkstoffe der malerischen Arbeit. Verstreute Objekte unterschiedlichsten Ursprungs (oft Naturmaterialien), angebrochene Farbeimer, -töpfe und -gefäße, Spachtel, Pinsel, Stifte, Stoffe, Kästen, Unterlagen aus Holz und Papier sowie unfertige Bilder. Ordnung im herkömmlichen Sinne hat hier keinen Platz, um so mehr kreative Naturverbundenheit. An diesem Ort wird deutlich, dass Cerha das Malen und Gestalten als ein ‚Aufsaugen‘ der Welt versteht: Die Dinge finden sich zusammen – in immer wieder neuen Kombinationen. Sie werden umgestaltet, (nicht nur metaphorisch) überpinselt und gehen Symbiosen mit Anderem, teils auch scheinbar Gegensätzlichem ein. Dieses Spannungsverhältnis der Objekte ist Cerhas großes, gestalterisches Thema.

 

Cerhas Werkstatt in Maria Langegg, Detailansichten

Foto: Christoph Fuchs

Kleine Werkschau: Objekte aus der Welt

Cerha malte und zeichnete schon in der Kindheit. Erst um 1963 intensivierte er sein bildnerisches Tun, im selben Jahr, als er sein Anwesen in Maria Langegg erwarb. „Das samt Inventar gekaufte Haus, das einer schwedischen Aristokratin gehört hatte, war voll von mehr oder weniger brauchbaren Relikten“, erinnert sich Cerhas Gattin Gertraud.Gundula Wilscher, „Ein ‚sinnlicher Dialog‘ mit dem Material. Betrachtungen zum bildnerischen und kompositorischen Schaffen Friedrich Cerhas“, in: Dies. (Hg.): Vernetztes Werk(en). Facetten des künstlerischen Schaffens von Friedrich Cerha, Innsbruck u.a. 2018, S. 87-109, hier S. 88 Die hinterlassenen Gegenstände waren für ihren Gatten allerdings eine Fundgrube. Schon bald integrierte er sie in seine Kunstwerke, um so die lange Reihe seiner Objektbilder zu eröffnen. Eines der frühen Beispiele aus dieser Zeit verrät einiges vom Profil des Künstlers. Das Werk hat, wie übrigens die meisten Bilder, keinen Titel – ein Indiz für Cerhas Reserviertheit gegenüber sich aufdrängenden Assoziationen, die auch für seine Musik charakteristisch ist. Typisch sind die verwendeten Materialien: Eine dicke Holzplatte bildet den Untergrund. Bereits sie ist ein Fundstück: Wie an ihren Fugen zu erkennen ist, war sie ursprünglich Teil eines Möbelstücks. Ihr genauer Verwendungszweck bleibt allerdings unklar. Dies gilt auch für die auf der Platte fixierten, schweren Eisenteile, deren Einkerbungen und Löcher auf eine frühere Funktion verweisen. Im Interview mit Gundula Wilscher erläutert Cerha, er habe „Schmiedeeisenwerkzeuge aus dem 17./18. Jahrhundert“ gesammelt, „die noch nicht diese perfekte Form haben, wie sie heute unsere industrielle Fabrikation von Werkzeugen hat, wo man noch die Spuren des unmittelbaren handwerklichen Tuns sichtbar vorfindet.“„Die Wurzel allen künstlerischen Tuns ist ja das Bedürfnis zu tun zu formen…“ Gundula Wilscher im Gespräch mit Friedrich Cerha, in: Dies. (Hg.): Vernetztes Werk(en). Facetten des künstlerischen Schaffens von Friedrich Cerha, Innsbruck u.a. 2018, S. 167-174, hier S. 168 Das Interesse an derartigen, von menschlichem Einfluss zeugenden Objekten ist im besagten Bild spürbar. Prägnant ist auch die Verbindung von Unterschiedlichem: Eisen und Holz werden einerseits durch Jutestoff in einen neuen Zusammenhang gebracht. Andererseits sorgen dünne, ockerfarbene Stofffetzen für eine visuelle Ausgewogenheit. Sie grundieren Löcher und Umrisse oder sind spielerisch als geometrische Formen innerhalb dreier Eisenringe aufgeklebt. Ein Stein in annähernd gleichem Farbton ist als weiteres, vermittelndes Element integriert.

Ohne Titel, 1964, Mischtechnik auf Holz, 64,5 x 84 cm

Ohne Titel, 2013, Mischtechnik auf Holz, 114,7 x 32 cm

Cerhas Beziehung zu den künstlerischen Strömungen seiner Zeit ist im bildnerischen Werk als ambivalent zu bezeichnen. Die Integration von Fundstücken „erfolgte nach eigener Aussage zu einem Zeitpunkt, bevor er von Objektkunst gehört hatte.“Theresia Hauenfels, „Sequenz & Polyvalenz. Überlegungen zum bildnerischen Werk von Friedrich Cerha“, in: Gundula Wilscher (Hg.): Vernetztes Werk(en). Facetten des künstlerischen Schaffens von Friedrich Cerha, Innsbruck u.a. 2018, S. 111-117, hier S. 112 Eine bewusste Anknüpfung an gegenwärtige Schulen oder Strömungen ist deshalb auszuschließen. Dennoch lassen sich bestimmte kunstgeschichtliche Ankerpunkte beschreiben. Die meisten von Cerhas Bildern folgen dem Prinzip der Assemblage: Auf einer Grundfläche werden plastische Objekte positioniert und fixiert. Im Ergebnis entsteht ein den zweidimensionalen Bildraum übersteigendes Relief, das je nach der Art der verwendeten Objekte zart oder schroff herausragende Oberflächen hervorbringt. Das Collagieren heterogener, teils aufgefundener Elemente wurde im Dadaismus zu einem künstlerischen Grundprinzip, das der Assemblage vorgreift. In den kunsthistorischen Diskurs wurde der Begriff jedoch erst in den 1950er Jahren durch Jean Dubuffet implantiert, der ihn auf eigene Werke anwendete. Eine Dekade später popularisierte er sich weltweit durch die Ausstellung „The Art of Assemblage“ (1961) im New Yorker MoMa.
Zeitlich deckt sich die verstärkte Hinwendung zur Assemblage mit Cerhas Anfängen auf dem Gebiet der Objektkunst – eine Beobachtung, die auf seine zwar progressive, jedoch unabhängig entfaltete Grundgesinnung hinweist. Auch andere kunstgeschichtliche Einflüsse sind in Cerhas Werk zu registrieren, ohne allzu offenkundig in den Vordergrund zu treten. Theresia Hauenfels verglich das Bild von 1964 mit der wenige Jahre später in Italien aufkommenden Arte Povera („Arme Kunst“). Die Künstler dieser Bewegung arbeiteten ebenso wie Cerha mit alltäglichen Werkstoffen (etwa Steinen, Holz, Erde, Seilen, Filz, Geschirr oder Glassplittern) und stellten deren Ausdruckswert heraus. Auch im zeitlich parallelen Fluxus spielten Alltagsgegenstände eine wichtige Rolle: Durch sie konnte die Grenze zum Leben durchbrochen werden – selbst in der Musik (denkt man beispielsweise an John Cages Water Walk, der mit Stabmixer, Badewanne, Flaschen, Radios und mehr ‚instrumentiert‘ ist).
Cerhas Assemblagen zeigen sich in ähnlicher Weise an der Umdeutung vertrauter Objekte interessiert: Mit großer Fantasie werden Schrauben, Nägel, Münzen, Füllfederhalter oder Rasierklingen zu einem neuen Ganzen montiert. Manchmal stehen die Objekte fast für sich, bleiben als solche klar erkennbar. Manchmal werden sie beinahe ‚eingeschmolzen‘, wie in einem Bild von 2013, das eine Anhäufung kleiner Schlüssel zeigt, die überkleistert zu einer gärenden, schlammigen Masse werden (siehe links).
Ganz andere Bilder wiederum nutzen den geometrischen Wert der Objekte aus, um diese fast unmerklich in ein strukturiertes Formenspiel einzugliedern. Die Grundelemente sind dabei meist auf wenige Nenner zu bringen. Einfärbungen der Holzplatten verdeutlichen das Strukturinteresse, teilen den Bildraum auf und setzen ihn zu dem Aufgeklebten in Bezug. 
„Es gibt für mich“, so Cerha, „ein dialektisches Verhältnis zwischen dem Grund und den Gegenständen. Es sind einfach zwei Ebenen, die sozusagen für sich stehen“.Theresia Hauenfels, „Sequenz & Polyvalenz. Überlegungen zum bildnerischen Werk von Friedrich Cerha“, in: Gundula Wilscher (Hg.): Vernetztes Werk(en). Facetten des künstlerischen Schaffens von Friedrich Cerha, Innsbruck u.a. 2018, S. 111-117, hier S. 112

Ohne Titel, 1987, Mischtechnik auf Holz, 60,5 x 18 cm

Ohne Titel, 2009, Mischtechnik auf Holz, 29 x 11,5 cm

Ohne Titel, 2009, Mischtechnik auf Holz, 114,7 x 32 cm

Wie in Cerhas musikalischem gibt es auch in seinem bildnerischen Werk Gegenpositionen. Den streng geometrischen Kompositionen stehen Bilder entgegen, die sich kaum mehr durch konturscharfe Formen, vielmehr durch das bewusst Formlose auszeichnen. Hier gerät das Objekthafte in den Hintergrund oder ist gar nicht mehr vorhanden. Stattdessen bricht sich eine unmittelbar ansprechende, expressive Kraft Bahn, die auf organischer Bildgebung gründet. Farbe wird zu einem dynamischen Element, wie in einem Bild von 1970: Hier schüttete Cerha großflächig Farbe auf die Holzplatte oder ließ sie herabfließen, eine Technik, die an die informelle Malerei der 1960er Jahre erinnert. Im Umfeld des Wiener Aktionismus erregten vor allem die großformatigen Fließbilder von Hermann Nitsch Aufmerksamkeit. Auch er schüttete Farbeimer auf Leinwänden aus, mit nahezu orgiastischer Wirkung. Cerha waren Nitsch und seine Kombattanten natürlich vertraut, wenngleich seine Schüttbilder keinesfalls dem Aktionismus zuzuordnen sind. Die farblichen Spritz- und Fließeffekte dominieren zwar den Bildraum, sind aber wiederum nur ein Element einer heterogenen Komposition. Der Grund ist mit dem Pinsel ausgearbeitet, teilt durch eine lange, blaue Linie die Fläche in zwei Hälften. Im oberen Bildbereich hingegen arbeitet Cerha mit Erde und kleinen Steinen (in anderen Bildern ist es Sand). Drei Schichten legen sich auf diese Weise übereinander, ohne den Eindruck des Spontanen zu verwässern.

Ohne Titel, 1970, Mischtechnik auf Holz, 92 x 50 cm

Eine wiederum andere Gegenposition zur informellen Maltechnik kondensiert  in einigen gegenständlichen Bildern (genau so, wie es auch tonale Kompositionen von Cerha gibt, selbst wenn diese dem Frühwerk angehören). Im Vergleich befinden sich derartige Werke in der Unterzahl, doch verdeutlichen sie die Vielfalt des Cerha’schen Œuvres. Die Natur liefert hier die Themen. Pflanzliche Formen etwa erscheinen auf vielen Bildern oder Zeichnungen – mit ihnen beschäftigte sich Cerha auch unter musikalischen Aspekten. „Bei den Papierarbeiten zeichnet sich“ außerdem „seit den 1950er Jahren eine kontinuierliche Beschäftigung mit der Landschaft ab.Theresia Hauenfels, „Sequenz & Polyvalenz. Überlegungen zum bildnerischen Werk von Friedrich Cerha“, in: Gundula Wilscher (Hg.): Vernetztes Werk(en). Facetten des künstlerischen Schaffens von Friedrich Cerha, Innsbruck u.a. 2018, S. 111-117, hier S. 117 Das Verhältnis von Himmel zu Wasser als Begegnung zweier Flächen entlang des Horizonts“ wird zum Gegenstand. Auf Kartons tauchen auch ‚österreichische‘ Berglandschaften auf, um sich zugleich als Studien über Raumproportionen zu erweisen.

 

Ohne Titel, 1998, Mischtechnik auf Karton, 22,5 x 35 cm

Ohne Titel, 2010, Mischtechnik auf Karton, 21,8 x 34,9 cm

Ob Objektkunst, informelle oder gegenständliche Malerei, Erforschungen von Struktur und Farbe, stoffliche oder abstrakte Kompositionen – Cerhas Interessen verteilen sich nicht auf bestimmte Zeitabschnitte. Charakteristisch für ihn ist es vielmehr, dass sich „Serien nicht in zeitlich aufeinanderfolgenden Phasen im Sinne einer Reihe wie Picassos Blaue bzw. Rosa Periode festmachen lassen, sondern als ‚sternförmige‘ Entfaltung von Grundkonstellationen, die auch synchron erfolgen kann.“Theresia Hauenfels, „Sequenz & Polyvalenz. Überlegungen zum bildnerischen Werk von Friedrich Cerha“, in: Gundula Wilscher (Hg.): Vernetztes Werk(en). Facetten des künstlerischen Schaffens von Friedrich Cerha, Innsbruck u.a. 2018, S. 111-117, hier S. 115 Dies erklärt, warum Werke aus zeitlich weit entfernten Entstehungsphasen oft  zusammengehörig wirken – und warum andererseits in einem engen Zeitfenster höchst Unterschiedliches entsteht. Cerha erläutert:

In Bezug auf meine Arbeit ist oft auf die stilistische Vielfalt, das unterschiedliche Material und dessen Behandlung hingewiesen worden. […] Tatsächlich sind in zeitlich – nachbarschaftlicher Nähe Werke von sehr unterschiedlichem Charakter entstanden. Verantwortlich dafür ist, dass ich in mehreren Etappen meiner Entwicklung jeweils von einem Punkt ausgehend unterschiedliche Evolutionsstränge verfolgt habe, die sich auseinander entwickelt haben. Ein unmittelbarer Vergleich von gleichzeitig Entstandenem kann daher zu einer etwas ratlosen Feststellung von „Vielfalt” führen. Will man die Konsequenz einer Entwicklung verfolgen […] muss man also ein Werk zu den früheren Werken des entsprechenden Entwicklungsstrangs in Beziehung setzen, um Einsicht in die Logik einer Entwicklungslinie zu gewinnen.

Friedrich Cerha

Werkkommentar zu Drei Sätze für Orchester, https://www.universaledition.com/friedrich-cerha-130/werke/3-satze-14495

Bezeichnenderweise beziehen sich die Ausführungen nicht auf das bildnerische, sondern das musikalische Werk (entnommen dem Werkkommentar zu Drei Sätze für Orchester, 2012). Für Cerhas Gemälde und Assemblagen gilt jedoch das Gleiche. Das ständige Parallelarbeiten an Musik und Bildern wirft zugleich die spannende Frage nach ihren Verbindungen auf.

Musik und Kunst im Dialog

Über 1.000 Bilder und über 200 Kompositionen hat Cerha bisher geschaffen. Dennoch geht kaum eines seiner Bilder explizit auf Musik zurück, das Gleiche auch umgekehrt. Streng genommen gibt es kein einziges Beispiel einer Eins-zu-Eins-Übertragung. Sehr wohl sind einige Verknüpfungen zu  beobachten. Sie verorten sich im Spektrum eines bestimmten Themas, sind also als zweifacher Ausdruck ein- und desselben Gegenstandes zu werten.
Ein erster Komplex umreißt einen Dramenstoff, mit dem sich Cerha ab etwa 1960 fast drei Jahrzehnte beschäftigte: mit Bertolt Brechts Schauspiel Baal. Seine gleichnamige Oper vollendete der Komponist erst 1981. Aber schon, als er eben erst in die Welt von Brechts Außenseiter eingetaucht war, entstanden zwei einschlägige Bilder: zunächst das Relief Baals Frauen, eine expressive Auseinandersetzung mit den malträtierten Geliebten des Antihelden. Vage geben sich deformierte Gesichter zu erkennen, dick aufgetragene Farben verleiten beinahe zum Betasten der Oberfläche.

 

Baals Frauen, 1964

Wenige Jahre später ein zweites Bild: Nun ist es der Protagonist selbst, den Cerha auf den Holzgrund bannt. Mit ähnlich starker Ausdruckskraft werden die zermalmenden Charakterzüge von Brechts Figur deutlich. In seinen Notizen vermerkt Cerha 1968:

Ich habe einen Baalkopf gemalt, auf Holz. Frontal stiert er den Beschauer an, mit niedriger schwarzer Stirn, Geld in den klebrigen Haaren, große Nägel bohren violetten Himmel in seine Schläfen, die Schrauben seiner Fangzähne warten darauf sich und andere auszuleben, die Zahnräder seiner Brustwarzen mahlen nach vorne, an den unsichtbaren unersättlichen Antriebsachsen, blutroter Saft trieft aus den schiefen Mundwinkeln seiner Begierden…

Friedrich Cerha

Cerha, Notizen zu Baal, AdZ, 000T0079/3

Dass Cerha beim Malen des Bildes bereits an seine noch nicht komponierte Oper dachte, geht aus einer weiteren Bemerkung hervor. Er sähe ihn „gern als Zwischenvorhang oder auf dem Umschlag der Noten. Aber man wird ihn nicht haben wollen: Er ist nicht angenehm, er ladet nicht zum Konsum einer Oper ein, er ist „gesellschaftlich nicht verwertbar.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 87

Zimmer in Cerhas Haus in Maria Langegg mit dem Bild Baal im Hintergrund

Zur Entstehungszeit von Baal beschäftigte Cerha ein weiteres Großprojekt: die Herstellung des dritten Aktes aus Alban Bergs Oper Lulu. Insgesamt 14 Jahre, von 1962 bis 1978, vereinnahmte ihn das aufwändige Vorhaben, das gleichfalls – man mag es fast logisch nennen – auf sein bildnerisches Schaffen regelrecht abfärbte. In Bergs Oper nach den Tragödien Erdgeist und Die Büchse der Pandora von Franz Wedekind stehen Aufstieg und Fall der verführerischen Protagonistin im Vordergrund. Sie endet als ärmliche Prostituierte auf den Straßen Londons. Dort wird sie von ihrem letzten Kunden ermordet, Jack the Ripper. Den Namen dieses Serienmörders trägt eine 1973 entstandene Assemblage Cerhas. Zwei große Objekte, ein Lederhandschuh und eine Eisenkette mit langem Griff, sind auf das suggestive Bild geklebt – die mutmaßlichen Werkzeuge des Mörders. Die Narration bleibt indes nur angedeutet.

Jack the Ripper, 1973, Mischtechnik auf Holz, 40 x 32,5 cm

Wesentlich deutlicher tritt die Verbindung zwischen Musik und Kunst in einem Ensemblestück Cerhas zu Tage, dem 1969 komponierten Catalogue des objets trouvés. Bereits der Titel spielt auf die Fundstücke an, die Cerha ab den 1960er Jahren in seine Bilder integrierte. Darüber hinaus umreißt er einen Begriff, der im Umfeld der Dada-Bewegung bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgekommen war. Besonders bekannt sind die Objets trouvés (auch: Readymades) des französischen Künstlers Marcel Duchamp. Er stellte sogar ein handelsübliches Urinal (Fountain, 1917) als Kunstwerk aus und stieß damit eine kontroverse Debatte über den Kunstbegriff als solchen an. 
Cerhas Catalogue setzt auf musikalische Weise das um, was in seinen Assemblagen visuell angelegt ist: Die Exponierung von aufgefundenem Material sowie dessen Interaktion mit völlig anderen Materialien. Über die Übertragung der bildnerischen Arbeitsweise auf die musikalische sagt Cerha:

Ich habe versucht – wie ich das in meinen Bildern tat – im klingenden Material stilistisch verschiedener Provenienz „Objekte“ zu sehen und damit zu „komponieren.“ Dahinter steht eine besondere, ernste Aufmerksamkeit für „Dinge“, die uns begegnen, mit denen wir umgehen, mit denen wir leben – eine behutsame Zuneigung, eine Liebe zu ihnen. Das schafft ein anderes Verhältnis: nicht das des Benützens und des achtlosen Wegwerfens, wenn man sie nicht mehr braucht, sondern das Entwickeln einer vertraulichen Nähe.

Friedrich Cerha

Joachim Diederichs: Friedrich Cerha. Werkeinführungen, Quellen, Dokumente, Wien 2018, S. 110

 

„Jedes der klingenden Objekte“, so der Komponist, „war mir in dem Stück gleich wichtig.“ Und so kommt zusammen, was im Ursprung nicht zusammengehört: Stilistische Anspielungen auf die Wiener Schule (besonders Anton Webern), auf Erik Satie (mit annähernd wörtlichen Zitaten) oder auf die eigenen, zurückliegenden Klangkompositionen stehen neben anderen imaginativ gefundenen musikalischen Objekten.

Cerha, Catalogue des objets trouvés, Autograf, AdZ, 00000074/101f.

Cerha, Catalogue des objets trouvés, Beginn

Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha

Auf einer systematischen Ebene der Klang-Bild-Beziehung erweist sich noch ein weiteres Phänomen als reizvoll: der musikalische Gehalt von Gezeichnetem. Anders als viele seiner (auch österreichischen) Komponistenkollegen, etwa Anestis Logothetis oder Roman Haubenstock-Ramati, verzichtete Cerha in seinen Partituren weitgehend auf bildliche Zeichen. Ausnahmen gibt es in experimentellen Werken wie den Mouvements oder dem Orchesterzyklus Spiegel. Die dort verwendete ‚grafische Notation‘ unterscheide sich aber „grundsätzlich von allen Arten ‚musikalischer Grafik‘, die im Extremfall keine musikalische, sondern eine zeichnerische Komposition ist, die musikalisch interpretiert wird.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 37 Einen erstaunlichen Sonderfall gibt es aber auch in Cerhas Œuvre: 1973 und 74 brachte er sieben „Grafiken nach musikalischen Vorstellungen“ aufs Papier. Der Titel ist mit Bedacht gewählt: Weder handelt es sich um ‚grafische Notation‘ noch um eine ‚musikalische Grafik‘, wie von Cerha unterschieden. Die Blätter sind nicht zum tatsächlichen Interpretieren gedacht, sondern zum bloßen Anschauen. In gewisser Hinsicht handelt es sich bei ihnen um ein Negativ des Catalogue des objets trouvés: Ist dieser vom Versuch angetrieben, ein bildnerisches Prinzip auf die Musik zu übertragen, so übertragen die Grafiken ein musikalisches Gebilde in den Bereich der visuellen Kunst. Zur Zeit ihrer Entstehung arbeitete Cerha parallel an der Reinschrift seines Orchesterwerks Fasce. Die schon 1959 niedergeschriebenen Skizzen offenbaren eindrucksvoll, wie sich die Grafiken scheinbar auf ähnliche Vorstellungen rückbeziehen: ein seltener Fund in Cerhas doch so reichem Werk.

Cerha, Grafik nach musikalischen Vorstellungen, 1974

Cerha, Fasce, Skizzen, 1959, AdZ, 00000056/20f.