Der Leser

Cerha an seinem Arbeitstisch

Die Brille gehört zu den wichtigsten Dingen im Arbeitsalltag Cerhas. Insbesondere am Schreibtisch, etwa während Kompositionsarbeiten, ist sie ein unverzichtbarer Begleiter. Hertha Hurnaus lichtete den „lesenden“ Cerha in seinem Domizil in Maria Langegg ab.

Foto: Hertha Hurnaus

Cerha, Privatbibliothek, Wien, Hietzing

Foto: Christoph Fuchs

Die Welt der Literatur und das Reich der Musik sind von je eigenem Wert – ohne ihr Zusammenspiel wären allerdings viele Werke und Ideen der Kulturgeschichte nicht existent. Das 19. Jahrhundert erhob eine Wahrnehmung zum künstlerischen Ideal, die eine strenge Grenze zwischen den Disziplinen nicht mehr kennen wollte. Seitdem agieren mehr und mehr Kunstschaffende bewusst spartenübergreifend, intermedial. Die musikalischen Vorlieben eines Schriftstellers erraten dabei viel über seinen weltanschaulichen oder ästhetischen Standort: Thomas Mann etwa beschreibt das frühe Erlebnis seiner ersten Wagner-Oper (Lohengrin) als eine Begegnung mit „entscheidender, prägender Wirkung auf meinen Kunstbegriff“, als Unterbau „zur geistigen Geschichte meiner Bücher“.Thomas Mann, Im Schatten Wagners. Thomas Mann über Richard Wagner, hg. v. Hans R. Vaget, München 2005, S. 84 Ebenso wirft der Umgang mit Literatur ein spezielles Licht auf diejenigen, die Klänge statt Wörter notieren. Gustav Mahler entdeckt bei der Lektüre von Jean Paul eigene Wesensmerkmale, erkennt sich als einen „Parodisten“, „Weltbetrachter“, „Naturanbeter“ oder als „empfindsam Liebenden“Jens Malte Fischer, „Mahler. Leben und Welt“, in: Bernd Sponheuer, Wolffram Steinbeck (Hg.): Mahler-Handbuch, S. 14-61, hier S. 57 – Charaktere, die in seinen Sinfonien klanglich aufscheinen.

Auch Friedrich Cerha ist ein Belesener – einer, für den Bücher weit mehr als Genussmittel sind. Seine Beschäftigung mit der Literaturgeschichte ist schon in frühen Lebensjahren überaus intensiv. Lange scheint es gar, als ob ihm Sprachkunst ebenso viel bedeutet wie die Musik, beachtet man den Aufwand, mit dem er sich beiden Gebieten widmet. Sein Lesehorizont reicht von den Klassikern der Weltliteratur bis zu zeitgenössischen Autoren, die er teils persönlich kennenlernte. Aber in seiner Wiener Privatbibliothek finden sich auch unzählige Fachbücher Das Spektrum ist also keineswegs auf den musikalischen Bereich beschränkt, sondern umfasst Philosophie, Psychologie, Bildende Kunst, Naturwissenschaften, Religion, Geschichte, Anthropologie und mehr. Treffend bezeichnete der Musikjournalist Bálint András Varga Cerha als „Poeta doctus“, als einen „Künstler, der über ungeheures Wissen verfügt.“Sabine Töfferl, Friedrich Cerha. Doyen der österreichischen Musik der Gegenwart. Eine Biografie, Wien 2017, S. 236

Literatur im Blickfeld des jungen Cerha

Das Milieu, in dem ein junger Mensch aufwächst, beeinflusst dessen Lesegewohnheiten ebenso wie die Zeitumstände. 1926 im deutschsprachigen Raum groß geworden zu sein, ist kein besonders gutes Vorzeichen für den unvoreingenommenes Umgang mit Literatur. Es sind die Jahre, während der die völkisch-politische Indoktrination grassiert, die Bücherverbrennung naht, die kulturelle Ausgrenzung sich zuspitzt und Denkverbote mehr und mehr den Alltag bestimmen. Cerha durchlebte trotz solcher Bedingungen eine durchaus freiheitliche Kindheit, die er zunächst seinen Eltern verdankte – dem kreativitätsfördernden Vater mehr als der strengen Mutter. Sie kam eines Tages erstaunt von der Sprechstunde mit Volksschullehrer Neuhold zurück, der ihr offenbart hatte, dass Fritz „ein großes Rednertalent“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 18 sei – eine Begabung, die ihr selbst entgangen war, weil ihr Sohn sich angewöhnt hatte zu schweigen, wenn er wieder einmal Zurechtweisungen erdulden musste. In der Gegenwart Neuholds hingegen blühte er auf, damals zwischen sechs und acht Jahre alt.Sabine Töfferl, Friedrich Cerha. Doyen der österreichischen Musik der Gegenwart. Eine Biografie, Wien 2017, S. 23 Ein Gefühl für Sprache und Literatur schien demnach zu seinem Wesen zu gehören. In den frühen 1930er Jahren förderten die Deutschlehrer an der Ottakringer Volksschule das Talent des Jungen jedenfalls mit Begeisterung. Letztendlich war es jedoch nicht die Schule, die den Zugang zur Literatur öffnete, sondern sein erster Geigenlehrer Anton Pejhovsky: 

Er war der Sohn eines Flickschneiders. Wenn man seine Wohnung betrat, kam man zuerst in eine fensterlose Küche mit einem riesigen gemauerten Herd, dann in einen dunklen Raum, in dem die Eltern mit Gehilfen flickten und nähten; mit dem nächsten Zimmer tat sich eine andere Welt auf: Ein großer, heller Raum, modern im Sinn der späten Dreißigerjahre eingerichtet, ein Bösendorfer-Flügel, eine riesige Bibliothek. Pejhovsky war Panslawist. Ihm verdanke ich nicht nur eine gründliche geigerische Ausbildung, er gab mir auch, als ich elf Jahre alt war Tolstoi, Dostojewsky, Tschechow, Hašek, Gorki und anderes zu lesen […].

Friedrich Cerha

Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 20

Lew Nikolajewitsch Tolstoi, Krieg und Frieden, Leipzig o.J., Cerha, Privatbibliothek

Foto: Christoph Fuchs

Die Berührungen mit der klassischen (vor allem russischen) Literatur des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts scheint für einen Elfjährigen bemerkenswert. Dass Cerha im selben Alter auch seine ersten Kompositionen vorlegte, mag auf geistige Frühreife hinweisen – und es ist denkbar, dass sich seine musikalischen und literarischen Interessen gegenseitig befruchteten. Die Literatur wies Cerha jedenfalls einen Weg, der ihn später vom Stumpfsinn der Nazis fernhielt. Sie lehrte ihn, ideologisch korrumpierten Texten kritisch zu begegnen, obwohl er als Kind zunächst dachte, „dass Gedrucktes oder in der Öffentlichkeit (z.B. im Rundfunk) Verkündetes“ nicht„vorsätzlich Lüge sein könne“.Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 20 In seinen Erinnerungen an die Nazizeit hielt Cerha zudem fest, wie sehr sich das schulische Klima damals veränderte. Waren die Lehrer in der Volksschule anfangs noch inspirierend gewesen, so habe dies im dritten Kriegsjahr schon anders ausgesehen:

Cerha, Die Juden, Tschechen, Slowaken, Mahder, Zigeuner, die Nazis und wieder die Juden,  Ausschnitt aus dem Typoskript (frühe Fassung), undatiert, AdZ, SCHR0026/9

Dass der autoritäre Klassenlehrer Cerhas Referat überhaupt zuließ, ist erstaunlich, weil nicht nur die Ästhetik der genannten Autoren der nationalsozialistischen Ideologie widersprach, sondern einige von ihnen, etwa Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler oder Jakob Wassermann, einen jüdischen Hintergrund hatten, der allerdings weder dem Pädagogen noch Cerha selbst bekannt war.Vgl. Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 24 f. Erst der Philosoph Günther Anders, der dem Komponisten später schriftstellerische Vorlagen für Kompositionen lieferte, klärte ihn über den Sachverhalt auf – dies während der 1950er Jahre.
In den Wirren des Weltkriegs änderte sich der Part, den die Literatur im Leben des jungen Mannes spielte. Einberufen zum Dienst in der Armee und zwei Mal desertierend durch die Lande streifend, trug Cerha immer ein einziges Buch mit sich. Es handelte sich um Kants letzte, 1798 erschienene Schrift Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Der Text half seinem Leser im vernunftswidrigen Geschehen jener Jahre die Grundzüge des Menschen als „animal rationabile“ zu reflektieren. Kant befragt im zweiten Teil der Schrift die „anthropologische Charakteristik“ in ‚aufsteigender‘ Form, vom Individuum in Zwischenstufen (Geschlecht, Nation, Rasse) zur Menschheit als Ganzes – eine Grundlage für Cerha, um den Kern des menschlichen Wesens zu begreifen. Solche Fragen begleiteten ihn über Jahrzehnte, prägten nicht zuletzt seine Bühnenwerke. Ein durch den Krieg befeuertes Misstrauen gegenüber der zivilisatorisch organisierten Menschheit konnte Cerha nach 1945 nur mühsam überwinden. Als überzeugter Humanist trat er der Gesellschaft schließlich neu entgegen.

Cerha, der Germanist

Das Kriegsende und der Beginn von Cerhas akademischem Studium fallen fast in eins. Bereits im Sommersemester 1944 hatte er sich in der Wiener Universität eingeschrieben. Doch musste er sein Studium bald unterbrechen, weil er in die Armee eingezogen wurde. 1945 nahm er es wieder auf – mit den Fächern Germanistik, Philosophie und Musikwissenschaft. Ein weiteres Jahr später gelang auch die Aufnahme in die Wiener Musikakademie (Geige, Komposition und Musikerziehung). Die Zweigleisigkeit – auf der einen Seite ein wissenschaftliches, auf der anderen Seite ein künstlerisches Studium – ist für die breiten Interessen des Zurückgekehrten symptomatisch.
Für Cerha, den Leser, öffnete sich mit dem Germanistikstudium ein neuer Horizont. Seine jetzt schon beachtliche Bildung konnte er vor allem hinsichtlich der deutschen und österreichischen Literaturgeschichte von Semester zu Semester vertiefen. Die betreffenden Studienbücher geben Schwerpunkte zu . In der Mehrzahl widmen sich die von ihm besuchten Veranstaltungen Themenfeldern der Mediävistik, so der „Deutschen Prosa und Dichtung vom 8.-10. Jahrhundert“ oder der „Österreichischen Literatur des Mittelalters“. Dass Cerha im ersten Nachkriegsjahr die ersten Nummern seines Liederzyklus Ein Buch von der Minne schreibt, zeugt von den entstehenden Synergien. Die den Liedern zugrunde liegenden Texte (u.a. von Walther von der Vogelweide, Mechthild von Magdeburg oder Heinrich von Morungen) übersetzte Cerha selbst ins Hochdeutsche.

Cerha, Übersetzung eines Textes von Walther von der Vogelweide, undatiertes Manuskript, AdZ, 00000014/90

Neben der mittelhochdeutschen Dichtung gehörte auch die jüngere Literatur zu den Interessengebieten des Studenten, so in Veranstaltungen zur „gesprochene[n] deutsche[n] Dichtung“, zu den Dramen Gerhart Hauptmanns, zum Sturm und Drang und dem „jungen Goethe“, zur „Literatur des Humanismus und der Renaissance“, zur Geschichte des Romans und der Novelle oder zum Drama der Klassik. Es fällt dabei auf, dass keine Kurse zur Gegenwartsliteratur in den Studienbüchern auftauchen, zu der Cerha eine starke Affinität hatte. Das klassisch ausgerichtete Lehrangebot der Wiener Universität deckte sich in diesem Punkt mit der konservativen Ausbildung der Musikakademie, bei der Cerha ebenfalls den Blick auf Zeitgenössisches vermisste. Ähnlich, wie er im Bereich der Musik autodidaktisch vorging und moderne Partituren eigenständig studierte, verlagerte sich die Auseinandersetzung mit kontemporären, literarischen Texten ins Private.

Cerha, Studienbuch der Universität Wien, Wintersemester 1946/47

Cerha krönte seinen universitären Weg mit einer Ende der 1940er Jahre vorgelegten Dissertation. Sie lässt ein weiteres literarisches Interessengebiet erkennen: seine Bewunderung für die persische Dichtung. Unter dem Titel Der Turandotstoff in der deutschen LiteraturFriedrich Cerha, Der Turandotstoff in der deutschen Literatur, Diss. phil, mschr., Universität Wien 1949, 352 S. arbeitete er eine traditionell-morgenländische Erzählung auf: das Märchen von Prinzen Calaf, der sich in das Bildnis der herzlosen Prinzessin Turandot verliebt und drei Rätsel lösen muss, um zu ihr zu gelangen. Innerhalb von drei Kapiteln widmet sich Cerha den persischen Wurzeln des Stoffs und seiner Rezeption in der deutschen Literatur, die er bis zur Gegenwart erfasst. Dabei untersucht er auch Berührungspunkte mit der Musik. Zwei Unterkapitel befassen sich mit dem Stoff in der Oper, indem sie auch relativ zeitgenössische Vertonungen einbeziehen, etwa von Ferruccio Busoni oder Giacomo Puccini. Bemerkenswert ist zudem, dass die Professoren Hans Rupprich und Dietrich Kralik, die Betreuer von Cerhas Promotionsvorhaben, sich überhaupt bereit erklärten, seine Forschungsarbeit über orientalische Literatur anzunehmen, in einer Phase, als die nationalsozialistischen Denkmuster aus den Köpfen der Gelehrten noch keineswegs verschwunden waren.
Wie die Beschäftigung mit mittelalterlicher Literatur Spuren in Cerhas Schaffen hinterließ, tat dies auch die persische Dichtung: zuerst in den Zehn Rubaijat des Omar Chajjam, Chorstücken, die auf Texten des gleichnamigen persischen Universalgelehrten basieren. Die ersten entstanden 1949, zur selben Zeit also, in der Cerha noch über seiner Doktorarbeit brütete. Doch blieb seine Faszination für die nahöstlichen Texte mit philosophischem Unterton (die im Übrigen ebenfalls aus dem Mittelalter stammen) lange erhalten: Noch 1988 entstand ein weiterer „Rubaijat“-Zyklus.

 

Cerha, Der Turandotstoff in der deutschen Literatur, Inhaltsverzeichnis, Dissertation 1950

Literatur wird zu Musik: Der lesende Komponist

Die Verknüpfung von Literatur und Musik zieht sich durch Cerhas gesamtes Schaffen. Zwischen 1940 und 1942 entstanden seine ersten Vertonungen von Gedichten, rund vierzig an der Zahl. Die Manuskripte vernichtete er in den 1960er Jahren, bewahrte aber zwei Nummern auf, die eine von Eduard Mörike, die andere von Theodor Storm. Mitte der 1940er Jahre rückte ein weiterer Name ins Zentrum: Hildegard Haustein, eine heute weitgehend unbekannte Lyrikerin. Ihre Texte setzte Cerha mehrfach um: in dem Wiegenlied Schlaf ein, in einigen Nummern der Sechs Lieder für Singstimme und Klavier (daneben: Gedichte von Li Tai Pe, Joseph v. Eichendorff und Erika Mitterer) und dem verschollenen Klavierzyklus Märchenland.
Nach diesen frühen Liedern sind das Buch von der Minne und die Zehn Rubaijat des Omar Chajjam die ersten prägnanten Beispiele für Cerhas Art und Weise, mit poetischen Vorlagen umzugehen. Ihren zyklisch eingebundenen, miniaturhaften Formen stehen Cerhas Werke für die Bühne entgegen: Allen voran die Literaturoper Baal, basierend auf den fünf Fassungen des gleichnamigen Dramas von Bertolt Brecht, die Cerha virtuos zu einer verdichteten Mischfassung verschmolz. Dem Dichter hatte er sich bereits als Student gewidmet:

Um 1948 habe ich begonnen, alle Stücke Brechts zu lesen. Ich habe sie verschlungen, zuerst die frühen Stücke. Die Gedichte kamen später. Ein mehr technisches Theaterinteresse galt dagegen dem Berliner Ensemble, dem ich viel später begegnet bin: im Jahre 1958. Mit Ernst Krenek war ich damals […] in Berlin und habe Galilei gesehen, 1960/61 auch noch vieles andere. Meine Anteilnahme an den frühen Stücken ist aber nie abgerissen. Bei allem Respekt für die späten Stücke gehört auch heute noch meine Liebe mehr dem früheren Werk. Ich glaube, ich habe schon bei der ersten Lektüre des Baal etwas Musikdramatisches vor mir gesehen, sah damals aber noch keine Möglichkeit, an eine solche Aufgabe heranzukommen.

Friedrich Cerha

Albrecht Dümling, „Brechts Sprachrhythmik beeinflußt musikalische Vorstellungen“. Ein Gespräch mit Friedrich Cerha, in: ders.: Laßt euch nicht verführen. Brecht und die Musik, München 1985, S. 648-658, hier S. 649

 

Eine zweite Literaturoper entstand in den 1980er Jahren: Der Rattenfänger nach Carl Zuckmayers Theaterstück von 1974. Die Transformation des Dramas zur Oper war ein Kraftakt: Cerha musste Zuckmayers Text „radikal einstreichen und über Strecken das sprachliche Profil vereinfachen“.Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 97 Bei dieser Tätigkeit profitierte er zweifelsohne von seinem, wenngleich schon länger zurückliegenden Literaturstudium: „In seiner Dissertation hatte er analysiert, wie Komponisten oder Librettisten der ‚Turandot‘-Opern die Vorlagen bearbeiteten, mochten sie von Gozzi, Schiller oder von beiden stammen. Nun stand Cerha selbst vor dieser schwierigen Aufgabe, die hier wie dort mit Vereinfachung und Verknappung des ursprünglichen Textkorpus einherging.“Matthias Henke: „Der Künstler spricht. Friedrich Cerhas Dissertationsschrift ‚Der Turandotstoff in der deutschen Literatur‘ (1950) als frühe Quelle seiner (Opern-)Ästhetik“, in: ders. und Gerhard Gensch (Hg): Mechanismen der Macht. Friedrich Cerha und sein musikdramatisches Werk (= Schriften des Archivs der Zeitgenossen 1), Innsbruck/Wien/Bozen 2016, S. 167-180, hier S. 180 f.
Obwohl Baal und Der Rattenfänger in dem von Cerha vertonten Literaturkosmos Werke sui generis sind, ließ er sich auch von anderen Autoren nachhaltig beeinflussen, vor allem von Friedrich Hölderlin, Günther Anders und Thomas Bernhard, die der Komponist in jeweils mehr als einem Opus zu Wort kommen ließ. Letzteren beiden begegnete Cerha auch persönlich, zunächst dem eine Generation älteren Günther Anders (* 1902). Der Philosoph und Schriftsteller besaß ein beachtliches Gespür für Musik, interessierte sich für ästhetische Fragen und schrieb Artikel für die Musikzeitschriften Anbruch und Musikwelt. In diesen sinnierte er über Zeitgenossen wie Claude Debussy, Ferruccio Busoni oder Arnold Schönberg. „Wie man zu schreiben hat“, so Anders, „das habe ich von den großen Komponisten gelernt.“Günther Anders, Ketzereien, München 1982, S. 202 Zudem hinterließ er eine Reihe musikphilosophischer Schriften – folglich liegt es sozusagen auf der Hand, dass er zeitlebens den Kontakt zu komponierenden Zeitgenossen suchte. Cerha gehörte zu jenen, die den engsten Umgang mit ihm pflegten. Beide lernten sich schon in den 1950er Jahren kennen. Das erste gemeinsame Projekt Und Du…, ein politisches Radiostück von enormem Ausmaß, zeigt sich auch als literarische Kooperation: Cerha schrieb einen Teil des Librettos, während am Schluss des Stücks ein Text von Anders zur Rezitation aufbereitet ist. Der Philosoph sprach diesen während der Aufnahmen selbst ein. Später finden noch zwei kürzere Anders-Texte Eingang in Cerhas Musik. Seine Drei bedenklichen Geschichten, „erzählt“ von Kammerchor und Streichquartett, greifen auf die Ketzereien zurück, einem hintergründigen Notizbuch des Philosophen.

 

Cerha, Drei bedenkliche Geschichten, Schluss von Nr. 3 (nach Günther Anders‘ „Helgoland von Bruckner“), Autograf, 1988, AdZ, 00000098/33f.

Auch Cerhas kompositorischer Auseinandersetzung mit Thomas Bernhard gehen persönliche Begegnungen voraus. Häufiger Treffpunkt der beiden war der Tonhof in Maria Saal, der seinerzeit, in den 1950er Jahren, dem Komponisten Gerhard Lampersberg gehörte, einem Studienfreund Cerhas. Lampersberg lud hier meist im Sommer Musiker:innen und Schriftsteller:innen ein: so die Autorin Jeannie Ebner oder den Dramatiker Peter Turrini, der die Atmosphäre der Künstlerkolonie Tonhof in seinem Theaterstück Bei Einbruch der Dunkelheit reflektierte und später das Libretto für Cerhas Oper Der Riese vom Steinfeld schrieb. „Lange Diskussionen und Gespräche“, die „bis in die tiefe Nacht hinein geführt“ wurden, prägten die Atmosphäre in Maria Saal.Cerha in: Sepp Dreissinger (Hg.): Was reden die Leute. 58 Begegnungen mit Thomas Bernhard, Salzburg 2011, S. 53„Im ganzen Kreis“ habe, so Cerha, „eine charakteristische leicht schnoddrige Gesprächsweise geherrscht […], die dann später in den Romanen von Bernhard – stilistisch hochkarätig auf eine andere Ebene gehoben – ihren Niederschlag gefunden habe“. Dem Werk des Schriftstellers widmete sich Cerha nicht nur als Leser, sondern auch als Komponist. So entnahm er Bernhards experimenteller Erzählung Gehen Passagen, die er im Requiem für Hollensteiner quasi dramatisch verarbeitete. Wenige Jahre später las der Komponist Bernhards neuen Roman Holzfällen. Eine Erregung. Pikanterweise rechnete Bernhard hier nur wenig verhüllt mit Gerhard und Maja Lampersberg, seinen ehemaligen Mäzenen ab, wie auch mit anderen Figuren im Umfeld des Tonhof. In der Folge kam es zu einem handfesten Literaturskandal, für den sich Cerha allerdings kaum interessierte. Allerdings faszinierten ihn die letzten Seiten des Romans, in denen der Erzähler innerlich wie äußerlich auf der Flucht ist. „Im Immer-wieder-Lesen dieser Seiten wurden sie mir zur Musik“, berichtet er, „einer nervösen, hastigen, unruhigen – einer Musik des sinnlosen Vorwärtsstürmens, des Getrieben-Seins, des Gehetzt-Werdens.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 277 Die letzten Worte des Romans bilden auch den Titel für Cerhas expansives Orchesterlied: bevor es zu spät ist.

Thomas Bernhard, Holzfällen, Cerha, Privatbibliothek

Foto: Christoph Fuchs

Thomas Bernhard, Holzfällen, Hervorhebungen Cerhas im privaten Exemplar, AdZ, 000S0123/17

Mitte der 1990er Jahre rückt Friedrich Hölderlin in das Blickfeld Cerhas, in dessen Werk er sich in fast obsessiv zu nennender Weise vertieft. 1994 widmet er sich „dem ganzen Hölderlin“, liest ihn mehrfach und extrahiert „Sprachmelodien“ aus den poetischen Versen. Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 267 f. Diese werden zur Grundlage des Streichsextetts Acht Sätze nach Hölderlin-Fragmenten. Die Sprache Hölderlins ist hier sozusagen von der Musik ‚verschluckt‘, um nur noch latent aufzuscheinen. Ähnlich und doch ganz anders das Ensemblestück Jahrlang ins Ungewisse hinab: Es basiert auf dem „Schicksalslied“ aus Hölderlins Roman Hyperion, vertont aber keine einzige Textzeile in traditionellem Sinn. Stattdessen werden die Worte musikalisch chiffriert, ja transzendiert, sodass die literarische Quelle nicht mehr erkennbar ist.
Auch einige spätere Werke lassen die Tendenz erkennen, literarische Impulse zu verhüllen, wenngleich Cerha immer wieder herkömmlich ‚vertont‘ (beispielsweise Verse des österreichischen Lyrikers Emil Breisach in den Zyklen Aderngeflecht oder Auf der Suche nach meinem Gesicht). Ihre Titel spielen häufig auf Literarisches an, deuten manchmal gar auf synästhetische Wahrnehmungen, etwa im 2013 geschriebenen Orchesterstück Eine blassblaue Vision (die sich in der Morgendämmerung langsam auflöst, Knabenmorgenblütentraum) ­– mit dem wohl längsten Werknamen in Cerhas Œuvre. Er verweist einerseits auf Franz Werfels Erzählung Eine blassblaue Frauenhandschrift, die der Komponist wenige Wochen vor dem für sein Orchesterwerk initialen Erlebnis (einer Art Traum) erneut gelesen hatte. Andererseits klingt die Lyrik des „jungen Goethe“ an.Vgl. Cerha, Studienbuch 1946, AdZ/9 ff. „Knabenmorgenblütentraum“, ein Wort aus seinem Gedicht Prometheus, fand erst nachträglich Eingang in den Titel, als Cerha es in einer alten Ausgabe wiederentdeckte: „Der Geruch dieser Wortschöpfung, die Atmosphäre, die sie verbreitete, entsprach recht genau der meines Traumes und – wie ich hoffe – der meiner Musik.“Joachim Diedrichs: Friedrich Cerha. Werkeinführungen, Quellen, Dokumente, Wien 2018, S. 129
Die Phase des „Sturm und Drang“, die sich in Goethes Poem exemplarisch ausdrückt und die Cerha im Studium ausgiebig beschäftigte, findet auch im Ensemblestück Kurzzeit (2016/17) einen Resonanzraum. Auf experimentelle Weise entsteht hier ein Kaleidoskop an rhythmisch überlagerten Pulsationen – wie „Klopfzeichen einsamer Gefangener“Walter Weidringer, „Wien Modern: Kerkerklänge und Kleopatras Lied“, Die Presse, 22.11.2018, https://www.diepresse.com/5534661/wien-modern-kerkerklange-und-kleopatras-lied, so ein Rezensent anlässlich der Uraufführung. Kurz vor der Komposition hatte Cerha das 1768 entstandene Drama Ugolino von Heinrich Wilhelm von Gerstenberg gelesen. Es handelt von einem Vater und seinen drei Söhnen, die eingekerkert ihrem Ende entgegensehen. „Es mag sein, dass die Lektüre die Konzeption meines Stückes beeinflusst hat“, notiert der Komponist vorsichtig.

Karl Freye (Hg.), Sturm und Drang. Dichtungen aus der Geniezeit, Berlin u.a. 1911, Cerha, Privatbibliothek

Foto: Christoph Fuchs

Wie schwer das Lesen und auch Schreiben für Cerha im Alter wurde, mag sein bislang letztes Stück mit literarischem Bezug verdeutlichen. Der Titel Mikrogramme spielt auf Robert Walser an. Dessen Werke (Briefe, Romane und Dichtungen) stehen in Cerhas Bibliothek. Walser notierte seine „Mikrogramme“ in winziger Schrift, auf mehr als 500 Blättern, in einer Nervenheilanstalt. Nur in jahrelanger Schwerstarbeit konnten sie entziffert werden. Seine kryptische Schreibtechnik perfektionierte der Schriftsteller mit den Jahren, verdichtete sie mit dem Bleistift als zuverlässigem Werkzeug. In den 1990er Jahren wechselte auch Cerha von der Tusche auf den Bleistift, um sich die Arbeit zu erleichtern. Seine Manuskripte zu Mikrogramme zeugen dennoch von der im Alter immer schwerer werdenden Aufgabe der Verschriftlichung: Mühsam abgerungen erscheinen Noten, Zeichen und Buchstaben.

Cerha, Mikrogramme, Skizzen zum Werkschluss, 2018, 000S0206/8