Konzert für Violine,
Violoncello und Orchester

Französische Clownerie

Klavierstücke für Kinder oder solche, die es werden wollen

Piccola commedia

Pablo Picasso, Bühnenbild zum Ballett Parade, 1917

Der französische Komponist Erik Satie stand zu Lebzeiten in Kontakt mit vielen großen Künstlern seiner Zeit, darunter Jean Cocteau und Pablo Picasso. 1916/17 arbeiteten die drei am gemeinsamen Ballett Parade: Picasso war für Kostüme und Bühnenbild verantwortlich. Der von ihm gestaltete Vorhang zeigt eine traumhafte Szenerie: eine Gruppe von Schaustellern auf der einen, ein geflügeltes Pferd auf der anderen Seite. Eine durch und durch zirkushafte Atmosphäre.

Bildquelle: Marc Feldmann/Flickr

Das muss Liebe sein:
Über kaum einen anderen Komponisten spricht Cerha so fasziniert wie über Erik Satie.

Der französische Komponist, 1866 in der Hafenstadt Honfleur geboren und 1925 in Paris verstorben, gehört zu den originellsten Köpfen der anbrechenden Moderne. Seine Wirkung reichte weit über den Bereich der Musik hinaus, etwa in die Sphären der Multimediakunst oder des absurden Theaters. Viele führten wichtige künstlerische Entwicklungen des 20. Jahrhundert auf ihn zurück. Die Folge: Satie wurde zur Ikone. Wo Bewunderung wächst, da keimt aber auch Verachtung. Längst nicht alle, besonders in Musikerkreisen, waren mit seinem Ruhm einverstanden. Und so stellte auch Cerha fest: „Während meine Liebe zu Webern und Varèse von vielen meiner Generation in der Welt geteilt und verstanden wird, stehe ich mit meiner Liebe zu Satie – von einigen Freunden aus seiner und meiner Umgebung abgesehen – ziemlich alleine da. Den meisten liegt er stilistisch zu fern; er ist ihnen auch zu einfach.Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 241 Liebesbekenntnisse zu Satie finden sich auch in Cerhas kompositorischem Werk. Die wohl größte ist sein Konzert für Violine, Violoncello und Orchester

Außenansicht

1958: Die beiden jungen Komponisten Friedrich Cerha und Kurt Schwertsik reisen von den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik zurück nach Wien. Unbefriedigt von den Entfaltungsräumen, an denen es in ihrer konservativen Heimatstadt für die Avantgarde mangelt, beschließen sie, ein eigenes Ensemble zu gründen. „die reihe“ soll künftig Wien mit der neuesten Musik versorgen und so eine Lücke schließen. Doch es sind nicht nur die aktuellen Werke, die im damaligen Konzertleben keinen Platz finden. Auch moderne Musik der vergangenen Dekaden scheint weitgehend verbannt zu sein – Kunst, die Cerha und Schwertsik hörbar machen wollen. Zu den ignorierten Komponisten gehört auch Erik Satie. Ein anderer, der um 1958 Furore machte, zählt hingegen zu seinen tatkräftigsten Unterstützern: John Cage. Anfang der 1960er Jahre, als „die reihe“ auch Werke Cages aufführte, kam der Amerikaner nach Wien – möglicherweise gingen von ihm wichtige Impulse aus, um den exzentrischen Franzosen ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Im November 1963 schließlich war es so weit: Erstmals erklang Satie in einem Konzert der „reihe“. Zu hören waren Werke, die früher wie heute eher unbekannt sind – etwa ausgewählte Lieder wie La Diva de l’Empire, komponiert 1904. Schwertsik setzte sich gar selbst ans Klavier, um gemeinsam mit Gerhard Rühm Saties vierhändige Suite En habite de cheval zu präsentieren.
Das Konzert rief – wie fast alle des Ensembles – in der Wiener Presse ein geteiltes Echo hervor. In die Musikgeschichte wird Satie von den Rezensenten völlig unterschiedlich eingeordnet. Die einen schreiben ihn als lästiges und substanzloses „enfant terrible“Robert Schollum, Nichts gegen einen Studentenjux aber…, Neue Österreichische Tageszeitung, 10.12.1963, AdZ, KRIT0011/139 ab, die anderen feiern ihn als „große[n] Anreger“, an den „nicht oft genug erinnert werden“ könne.Helmut A. Fiechtner: Ohne Titel. In: Die Furche, 7.12.1963, AdZ, KRIT0011/140 Cerha und Schwertsik orientierten sich an Letzterem: Satie wurde in vielen folgenden Konzerten der „reihe“ interpretiert und so zu einem Aushängeschild des Ensembles.

Helmut A. Fiechtner, Konzertrezension, Die Furche, 7.12.1963, AdZ, KRIT0011/140

Brücke

Vielfach werden Saties Musik mediale Grenzüberschreitungen zugeschrieben. Allein seine ‚sprechenden‘ Partituren geben Anlass dazu. Einige von ihnen, etwa der Klavierzyklus Sports et divertissements, dringen in die Sphäre der visuellen Kunst vor – nicht nur durch die ergänzenden Illustrationen von Charles Martin, sondern auch durch die kalligrafisch kunstvollen Notenblätter, die teils Eigenheiten der begleitenden Bilder aufgreifen. Auch zur Poesie schlug Satie Brücken, z.B. indem er originelle Vortragsbezeichnungen in seine Partituren eintrug, die dem zuhörenden Publikum jedoch größtenteils verborgen bleiben. Zwei markante Beispiele: In den Embryons desséchés findet sich die Eintragung „wie eine Nachtigall mit Zahnschmerzen“, während der:die Pianist:in in den Trois poèmes d’amour „mit tränenerstickten Fingern“ spielen soll. Beide Stücke bahnen auch einen Weg zu Cerha, denn dieser bearbeitete und instrumentierte die Werke für ein Ensemble – das eine schon 1966, das andere erst 1987. In Aufführungen zu den Embryons desséchés pflegte die „reihe“ eine besondere Spielpraxis. Satie hatte in der Partitur narrative Beschreibungen eingetragen, die eigentlich nur für die Spieler sichtbar sein sollten. Für Konzerte holte Cerha eine Erzählerin dazu, welche diese Textzeilen rezitierte. So wurde die Poesie auch hörbar.

Cerha, Embryons desséchés, Bearbeitung der Klavierstücke von Satie, Autograf, 1966, AdZ, 00000071/2-3

Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha, Palais Schönburg, Wien 1968

Ein weiteres Medium, das Satie interessierte, war der Film – seinerzeit eine noch junge künstlerische Ausdrucksform. Eng verflochten ist seine Arbeit auf diesem Gebiet mit dem Ballett Relâche, das 1924 am Pariser Théâtre des Champs-Élysées Premiere feierte. Satie arbeitete hier mit dem Librettisten Francis Picabia zusammen, der sich einen Film als Pausenfüller für die beiden Akte wünschte und dafür den jungen Regisseur René Clair anheuerte – so entstand der dadaistische Kurzfilm Entr’acte. Satie komponierte nicht nur die entsprechende Filmmusik, sondern ist im abenteuerlichen Streifen auch selbst zu sehen. Gemeinsam mit Picabia springt er in Zeitlupe auf einem Pariser Dach herum, im Hintergrund der städtische Horizont.
Cerha und „die reihe“ widmeten sich Saties Filmmusik mehrfach. Ein Konzert im April 1964 (vierzig Jahre nach der Premiere) war dafür der Impulsgeber: Auf großer Leinwand wurden originale Filme aus den 1920er Jahren gezeigt, zu denen Cerha zeitgleich die passende Musik dirigierte. Saties Stück Cinema zu Clairs Entr’acte stand an erster Stelle.

Konzertplakat, „Avantgarde 1920“, AdZ, PLAK0002/27

Neben der reizvollen Verbindung von Szene und Musik war es vor allem Saties kompositorischer Ansatz, der Cerha fesselte. Nach-wagnerianischer Dramatik oder Tonmalerei stand der französische Künstler so fern wie kaum ein anderer zu seiner Zeit. Statt aus großen, endlosen Bögen setzte sich seine Musik aus kleinen Partikeln zusammen. Diese verknüpften sich auf völlig neue, eher lockere Weise mit den Szenen – eine Technik, die Satie bereits in seinem revolutionären Vorgängerballett Parade (1916/17) angewendet hatte. Vielleicht weil Satie für jenes Stück mit Pablo Picasso zusammengearbeitet hatte, wurde die Ballettmusik im Nachgang zuweilen als kubistisch bezeichnet, ein nicht in Gänze überzeugendes Etikett, ging Satie doch seinen eigenen, unideologischen Weg. Das für den Kubismus typische Auflösen der Gesamtform in konturierte, geometrische Einzelelemente hingegen findet in der Musik durchaus Entsprechungen. Die Partituren zu Relâche und dem Entr’acte sind sogar noch radikaler, was diese Verfahren betrifft: „Indem Satie die Vier- und Achttaktblöcke der einzelnen Tänze mit kleinen Motivpartikeln ohne logische oder funktionale Beziehung eines Elements zum folgenden ausfüllt, verhindert er Entwicklung im Großen. Jedes Element bleibt für sich isoliert stehen, als Einzelheit, als Augenblick.“Grete Weymeyer, Erik Satie: Bilder und Dokumente, München 1992, S. 66
Die ganzen 1960er Jahre hindurch beschäftigte Cerha Saties Musik zu Ballett und Film. 1969 hinterließ sie schließlich auch Spuren im eigenen Werk. Im Catalogue des objets trouvés zitierte er erstmals fast wörtlich eine Passage aus dem Entr’acte, inszeniert als ‚gefundenes‘ Klangmaterial. Die produktive Auseinandersetzung setzte sich 1975 lebhaft fort: Nun lag ein Doppelkonzert für Violine und Violoncello auf dem Komponiertisch.

René Clair, Entr’acte, Standbilder, 1924

Quelle: CinemaSdC/YouTube

Innenansicht

Seit den ersten „reihe“- Konzerten mit Saties Werken war Cerha von der ebenso eigenständigen wie geistreichen Methode fasziniert, Musik aus kleinen, festgefügten Bausteinen entstehen zu lassen. Die Anziehung leuchtet ein, hält man sich die individuelle Entwicklung Cerhas während der 1960er Jahren vor Augen. Zunehmend geriet musikalische Disparität als ästhetische Kategorie in den Fokus, Brüche und Widersprüche wurden interessant. Das Zusammenspiel verschiedener Musikebenen erkundete Cerha ausgiebig in seinen Exercises, aber auch in darauffolgenden Stücken wie der Langegger Nachtmusik I. In Saties Musik lag ein Schlüssel verborgen, um die „runde“ und „zufriedene“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 74 Klangästhetik der  rein gehaltenen Avantgarde zu überwinden. Die „Präzision des Charakters seiner Musik“, erläutert Cerha, „die Schärfe der Zeichnung, seine Fähigkeit, aus ein paar Versatzstücken vollendete Einheiten herzustellen“ sei ohne Vergleich.Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 241 „Zudem wäre heute dringend zu leisten, was er für seine Zeit getan hat: gegenüber manieristisch-ornamentalen Klangnebeln auf nackte, gemeißelte Umrisse und Fragen absoluter Musik hinzulenken.“
Beides, das Interesse am Heterogenen und an Saties fast architektonischer Art, Musik zu schreiben, beflügelten ihn Mitte der 1970er zu einem neuen Werk mit eingebautem Konflikt. Die Widmung des Stücks sage dabei „etwas über die Aufgabenstellung aus“. Im Autograf notierte Cerha:

Alfred Frueh, Karikatur Erik Saties, ca. 1917

Bildquelle: Wikimedia

Zwei Klangwelten führte Cerha mit dem Konzert für Violine, Violoncello und Orchester auf Kollisionskurs: die Saties und seine eigene – genauer gesagt ein von ihm entwickeltes „Idiom, das sich – in Grenzen – aus der Wiener Schule herleiten ließe.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 241 In drei Sätzen geht er der Frage nach, ob und wie beide Musikarten miteinander in Einklang zu bringen sind, wo sie sich abstoßen und wo sie sogar miteinander verschmelzen können. Dramatisch zusammengehalten wird das Werk durch ebensolche Wechselspiele zwischen Orchester und den beiden solistischen Parts, die bei der Uraufführung Cerhas Freunde Ernst Kovacic (Violine) und Heinrich Schiff (Violoncello) übernahmen.
Alle drei Sätze gehen verschiedenen Arten der Verbindung nach. Im ersten „liegen die Grundelemente scheinbar beziehungslos nebeneinander.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 242 Das Konzert beginnt „energisch zupackend“ mit aufwühlenden Schlägen, über die sich die beiden Solisten mit verwobenen Melodielinien entfalten – eine Ausdrucksmusik. Die dramatischen Bahnen verlaufen wie ein Fluss über unebenes Land, mal beinahe versickernd, mal wild hinabstürzend. Von Satie ist zunächst über längere Zeit nichts zu hören, bis er urplötzlich (fast geisterhaft) nach einem orchestralen Ausbruch in Erscheinung tritt. Milde und träumerische Schaukelakkorde setzen den kraftvollen, sinfonischen Figuren etwas Konträres entgegen. „Saties Musik ist wie mit dem Messer eingeschnitten.“ Auf die gleiche Weise kommt es im Verlauf des Satzes zu weiteren episodenhaften Einschüben. Immer sind es furiose Höhepunkte, die kurze Zitate aus der Klangwelt des Franzosen nach sich ziehen. Die Perspektive auf Satie: ein Leichtgewicht, unbeschwert und ohne Anstrengung erfassbar.

Cerha, Konzert für Violine, Violoncello und Orchester, 1. Satz, T. 131 ff.

Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha, Ernst Kovacic (Violine), Heinrich Schiff (Violoncello)

Sind die musikalischen Gesten schon im ersten Satz hochgradig verschieden, so steigert sich im zweiten die Heterogenität nochmals. Eine „dritte Welt von Vorstellungen“ tritt gleich zu Beginn auf. Sie besteht aus einer „starre[n] Formel“, die von wenigen, doch umso exotischeren Klangfarben geprägt ist. Mit dabei: eine Bassklarinette, drei chinesische Gongs und ein Basskrummhorn (ein Holzblasinstrument mit Doppelrohrblatt, das zur Zeit der Renaissance vermehrt genutzt wurde, dann jedoch aus der Mode kam). Hinzu tritt außerdem ein Bak, ein koreanisches Schlaginstrument aus Holzplatten, traditionell eingesetzt vor allem in ritueller Musik. Ein solches Exemplar findet sich auch in Cerhas privater Sammlung von Musikinstrumenten.

Bak, Privatsammlung Friedrich und Gertraud Cerha, Wien

Foto: Christoph Fuchs

Die neue Klangwelt ist skurriler Natur: fast sirenenhaft glissandiert das Basskrummhorn, geschwärzt vom Klang der Bassklarinette, durchbrochen von Gongschlägen. Die Klänge des Baks hingegen stehen völlig isoliert im Raum. Brüche und Risse prägen auch den weiteren Verlauf, der sich filmschnittartig fortsetzt. Die Orchestermassen des Beginns treten genauso wieder in Erscheinung wie Saties Musik. Es ist jedoch ein anderer Satie, der den Hörenden nun begegnet: Mehrfach leuchten kurze Fragmente eines Trauermarschs aus dem Entr‘acte auf. Die Trauer ist jedoch ironisch unterfüttert. Satie parodierte seinerzeit die überaus populäre Marche funèbre von Frédéric Chopin, der auch heute noch als Klischee einer Begräbnismusik gilt. Als erneutes Zitat bei Cerha steht er somit nicht nur auf doppeltem, sondern dreifachem Boden, fällt als groteske Erinnerung aus dem Rahmen.

Cerha, Konzert für Violine, Violoncello und Orchester, 2. Satz, T. 245 ff. (Zitat des Trauermarschs)

Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha, Ernst Kovacic (Violine), Heinrich Schiff (Violoncello)

In völlig andere Richtungen als die ersten beiden, sparsam mit Satie umgehenden Sätze verläuft der dritte – ein furioses Finale. Vom ersten Ton an gibt er sich als agiler Tanz aus. Verantwortlich dafür ist vor allem ein pochender Rhythmus auf den Congas. Sporadisch wird dieser von kurzen Figuren aus dem Orchester befeuert – es geht nach vorn. Für die Instrumentalisten ist der Tanz um die Conga jedoch nur ein Warm-Up und gibt die Richtung für später vor: Motorik, Brillanz, Vergnügen. Nach der getrommelten Einleitung stehen – den Traditionen eines Konzerts folgend – die beiden Solisten im Vordergrund. Sie streichen im Duett, zunächst gesanglich, dann gewandter. Bei der harmonischen Zweisamkeit bleibt es jedoch nicht lange: Eine Klangspirale der Erregtheit bahnt sich ihren Weg. „Wild losstürmend“ stößt der Solocellist diese Entwicklung an, indem er den Conga-Rhythmus zunächst aufgreift und dann weiterentwickelt. Mit seinem Einsatz verändert sich jedoch auch die umliegende Orchestermusik. Deutlich hörbar mischen sich Bruchstücke aus der Welt Saties in die Begleitung und übernehmen stilistisch das Steuer. Die meisten von ihnen stammen aus der Filmmusik zum Entr’acte, dessen oft zirkushafte Klangaura nun Cerhas Konzert vollkommen einnimmt. Andere sind nicht eindeutig zuzuweisen und wahrscheinlich aus nachgelassenen Fragmenten Saties zusammengetragen.Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 242 Eine der Skizzenseiten zum Konzert führt vor Augen, wie Cerha die kleinen Versatzstücke aus Saties Musik sammelte. In skelettierter Form notierte er ihr Wesen, schrieb Hinweise zur Instrumentation oder Anordnung nebenbei.

Cerha, Skizzenseite zum Konzert für Violine, Violoncello und Orchester, ca. 1975, AdZ, 000S0081/25

Der Einblick in die Skizzen fördert das Montageverfahren zu Tage, mit dem Cerha die Musik im herkömmlichen Sinne komponierte (vom lateinischen Wort „componere“ für „zusammenfügen“). Dass die Stückchen sich so gut miteinander verketten ließen, liegt auch an ihnen selbst. Schon in Saties eigenem Entr’acte wird mit winzigen Bausteinen komponiert. Diese bestehen meist aus einem Takt, der dann vervielfältigt wird, sodass sich ein Muster herausbildet. Veränderung geschieht nur, indem diese Muster durch andere ersetzt werden. In gleicher Weise verfährt Cerha. Dass die Klangmuster, die er aneinanderreiht, ursprünglich nicht in dieser Abfolge zueinander gehören, fällt kaum auf – denn schließlich folgen sie auch bei Satie keiner strengen Entwicklung, sondern verbinden sich situativ, gewissermaßen nach Lust und Laune. Die Einzelteile muten wie Puzzlestücke mit vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten an. Indem Cerha Saties Musik-Puzzle demontiert und neu zusammensetzt, entsteht ein ähnliches, doch mit dem Original nicht deckungsgleiches Gesamtbild. Ein Betrachter könnte darauf – abstrahierend vom musikalischen Charakter – eine Art Karussell erkennen. In Cerhas Transformation dreht sich dieses schneller und schneller: Saties Floskeln „heizen“ das „konzertante Geschehen“ mächtig an.Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 242
Die Ekstase des Klangstroms lässt schnell erkennen, dass sich nicht nur Musik, sondern auch Theater entfaltet. Während die Aufmerksamkeit des Konzertpublikums auf dem in Raserei verfallenen Solocello liegt, das sich ohne Pausen in halsbrecherischen Läufen und verrückten Glissandi ergießt, sieht sich die Sologeige an den Rand gedrängt. Dennoch nimmt sie am Geschehen teil – rein pantomimisch. In der Partitur sind dafür genaue theatrale Anweisungen vermerkt, ein Alleinstellungsmerkmal in Cerhas gesamten Œuvre. „Zunehmend ärgerlich und teilnahmslos“, so heißt es, solle die Solovioline „auf den mit immer größerer Leidenschaft wie wirr spielenden Cellisten“ herunterblicken und sich schließlich mit der „Geige unter dem Arm“ abwenden.Cerha, Konzert für Violine, Violoncello und Orchester, Autograf, AdZ, 00000081/68 ff. Zeitgleich mit diesem Durchbruch der rein klanglichen Sphäre ins Darstellerische verändert sich auch die Musik: Sie nähert sich immer mehr der Parodie an. Die Orchesterbegleitung und die Solopartie entwickeln sich zu diesem Zweck gegenläufig: Nach und nach bauen sich die zitierten Satie-Partikel ab, bis nichts mehr von ihnen übrigbleibt (nur der Schlagzeuger reibt „immer gleich wie eine Maschine“ auf Glaspapier). Das Solocello hingegen überwindet jede Ernsthaftigkeit und mündet in einer parodistischen Kadenz, in der selbst feste Tonhöhen komplett getilgt sind. Es ergibt sich daraus eine rein gestische, dem theatralischen Moment folgende Musik.

Cerha, Konzert für Violine, Violoncello und Orchester, 3. Satz, T. 503 ff. (Solocello)

Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha, Ernst Kovacic (Violine), Heinrich Schiff (Violoncello)

Satie und Cerha verschmelzen an diesem Punkt der Werkentwicklung auf einer anderen Ebene miteinander als der rein musikalischen. Nicht selten wird auch bei Satie der Konzert- zum Theaterraum. Seine originellen Spielanweisungen betreffen oft genug Mimik oder Verhaltensweisen. Hier und da wird der Interpret etwa dazu aufgefordert, nicht den Gesichtsausdruck zu ändernErik Satie, Les trois Valses distinguées (1914), oder sich zu „benehmen“, da ein Affe zuschauen würde.Erik Satie, Le piège de Méduse (1913) In derartigen Instruktionen ist ein ausgeprägter Sinn für das Komische und Groteske erkennbar, der auch verbreitete Sichtweisen auf Satie prägt – er ist ein „mönchischer Clown“, wie Cerhas Kollege Kurt Schwertsik poetisch im Vorwort zu seiner eigenen Hommage an den Franzosen anmerkt (dem erweiterten Streichquartett Adieu Satie).
Durch das Kippen der Musik „ins Absurde“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 242 wird aus Cerhas Konzertstück eine Zirkusnummer mit akrobatischen Höchstleistungen. Mit dem ‚Gag‘ endet das Stück aber nicht. Es findet stattdessen zurück zu einer Mitte, balanciert sich gewissermaßen aus. Saties Klangwelt verschwindet dabei nicht, sondern integriert sich – ein für Cerha typisches Formdenken, führt man sich seine Beschäftigung mit kybernetischen Prozessen vor Augen. Statt das Fremdartige herauszustellen, führt die Annäherung gegen Ende des Stücks „schließlich sogar zur Verschmelzung“ aller Elemente. Nur das exotische Bak klappert nach, um an ein spannendes Kuriositätenkabinett aus unterschiedlichsten Klangquellen zu erinnern.

Vgl. zur Vertiefung: Marco Hoffmann, „‘…der du das weihevolle Geraune durch Zirkus störtest‘. Kurt Schwertsik, Friedrich Cerha und die Rezeption Erik Saties in Österreich“, in: Christian Heindl: Kurt Schwertsik und der Begriff der Moderne im Wandel [erscheint 2022]

Schatztruhe

Satie, Entr’acte cinéma, Dirigierpartitur Cerhas