Langegger Nachtmusik I
Komponierte Umwelt
I. Keintate
Gschwandtner Tänze
Blick ins Donautal, eigene Fotografie Cerhas
Die Fotografie stammt aus dem privaten Fundus der Familie Cerha und zeigt einen Teil des Donaugebiets bei Maria Langegg aus der Vogelperspektive. Wahrscheinlich wurde das Foto in der Dämmerung aufgenommen. Die bergige Landschaft mit den Eichenblättern im Vordergrund ist auch ein Symbolbild für die Verwurzelung Cerhas in der Natur Österreichs.
Bildquelle: Archiv der Zeitgenossen
Maria Langegg, Ostansicht
Bildquelle: maria-langegg.at
Außenansicht
Die Wahl eines Lebensortes bedeutete für Cerha auch die Wahl einer akustischen Umgebung. Nicht unerheblich für einen in die Welt lauschenden Komponisten. Wie viel von dieser Umgebung auch in die eigene Musik gesickert ist, lässt sich schwer feststellen. Sicher ist jedoch, dass in einem an das heimische Domizil „angeschmiegt[e] Glashaus“Lothar Knessl, „Versuch, sich Friedrich Cerha zu nähern“, in: Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 7-15, hier S. 9 die meisten von Cerhas Hauptwerken entstanden. Sicher ist ebenso, dass die Ruhe der Donaulandschaft anregend auf den Komponisten wirkte. Als „schöpferisch stimulierende Stille“Lothar Knessl, „Versuch, sich Friedrich Cerha zu nähern“, in: Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 7-15, hier S. 10 beschreibt etwa Lothar Knessl die Umgebung Maria Langeggs. Diese Stille suchte Cerha beim kreativen Akt immer wieder bewusst auf. Er „komponiere gern bei Nacht“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 239, schildert er, einer Zeit des Schweigens, des Schlummerns, in der das Innerliche mehr denn je ans Ohr dringt. Das Nächtliche als Thema begegnet dem Beobachtenden in Cerhas Werk an mehreren Stellen. Ein Nachtgesang für Tenor und Orchester, mehrere Nachtstücke für ein Streichquartett mit dunklem Bass statt Cello oder das vielsagende späte Orchesterstück Nacht künden davon. Besonders sticht aber ein Zyklus von orchestralen Stücken hervor, die allesamt den Namen Langegger Nachtmusik tragen, dahinter eigene Ziffern: I, II und III. Ihre Zusammengehörigkeit ist ambivalent: Während die ersten beiden Langegger Nachtmusiken fast direkt nacheinander – 1969 und 1970 – entstanden, schrieb Cerha die dritte erst Anfang der 1990er Jahre. Auch die Besetzung für großes Orchester (inklusive eines Fernorchesters) unterscheidet sie von ihren früheren Verwandten. In ihnen begegnen dem Hörerenden eher kammermusikalische als sinfonische Gesten. Gemein ist allen Stücken, dass sie das Thema des nächtlichen Komponierens im abgeschiedenen Dorf reflektieren. Das Nachspüren von inneren und äußeren Klängen geschieht jedoch mit unterschiedlicher Intensität, ebenso wie mit unterschiedlichen Interessen.
Brücke
Die Bezeichnung „Nachtmusik“ weckt eine Reihe an Assoziationen, die mit einer geschichtsträchtigen Gattung zusammenhängen. „Diente sie im 18. Jahrhundert dem festlich-gehobenen Vergnügen, so gewinnt im 19. und 20. Jahrhundert das Nächtlich-Dunkle, Dämonische, Gespenstische, Abseitige an Bedeutung“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 239, notiert Cerha. Mozarts Eine kleine Nachtmusik drängt sich als Beispiel für den früheren Sinngehalt auf: Hinter ihr verbirgt sich eine Serenade für Streicher, eine unterhaltende Abendmusik. Für die spätere, ins Finstere gehüllte Bedeutung ließen sich gleich mehrere Entwicklungsstationen benennen. Cerhas eigene Assoziationskette beginnt bei E.T.A. Hoffmann, dessen fantastischer Erzählzyklus Nachtstücke (1815-17) zugleich die Inspiration für namensgleiche Musikwerke lieferte. Im Zuge dessen denke man weiterhin an „Schumann, Chopin, Reger, Debussy, vor allem aber […] an Mahler“Cerha, Begleittext (Typoskript) zu den drei Langegger Nachtmusiken, AdZ, TEXT0007/6. Dessen siebte Sinfonie ist es auch, die zur Benennung der Langegger Nachtmusiken anregte.Cerha, Begleittext (Manuskript) zu den drei Langegger Nachtmusiken, AdZ, TEXT0007/11 In der Sinfonie heißen der zweite und vierte Satz beide „Nachtmusik“, während das dazwischen stehende, unheimliche Scherzo mit „Schattenhaft“ überschrieben ist. Bis heute trägt das Werk deshalb auch den Untertitel „Lied der Nacht“. Gustav Mahler als ‚Namenspatron‘ von Cerhas Stücken liefert zugleich den Schlüssel, mit der sich die Tür zur ersten Nachtmusik öffnen lässt. Hinter ihr verbirgt sich eine Hommage an die Musikgeschichte des eigenen Landes – speziell jene, die Cerha am meisten prägte. „Österreichische Musiklandschaft“, so der Komponist, würde in der Langegger Nachtmusik I „bewusst durch Allusionen geweckt und immer wieder weggewischt, der Zerstörung anheimgegeben.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 239 Neben Mahler wird im Werk auch auf die Personalstile Alban Bergs, Anton Weberns oder György Ligetis angespielt – allesamt Komponisten, zu denen Cerha eine innige künstlerische Beziehung aufbaute.
Die Nacht als musikalischer Topos gewinnt im Wien des frühen 20. Jahrhundert nicht nur in Mahlers siebter Sinfonie (Uraufführung 1908) an Bedeutung. Auch im Kreis der Wiener Schule ziehen sich nächtliche Sujets durch repräsentative Werke. Unter ihnen: Das erste aus Alban Bergs Sieben frühen Liedern („Nacht“), Arnold Schönbergs Streichsextett Verklärte Nacht oder das achte Stück aus seinem Melodramen-Zyklus Pierrot Lunaire (ebenfalls „Nacht“). Ein Konzertmitschnitt von 1968, dem ungefähren Entstehungszeitraum der Langegger Nachtmusik I, macht Letzteres unter Cerhas Leitung erlebbar.
Arnold Schönberg, Pierrot Lunaire, „Nacht“
Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha, Solistin: Marie-Thérèse Escribano, Palais Schönburg, Wien 1968
Bei Schönbergs Schüler Anton Webern sind nächtliche Stoffe besonders in einigen Liedvertonungen anzutreffen. Besonders interessant sind drei frühe, etwa 1904 entstandene Lieder, die Cerha transkribierte. Zwei von ihnen heißen „Hochsommernacht“ und „Wolkennacht“. Sie belegen abermals das damalige Vertonungsinteresse an Lyrik mit Nachtmotiven.
Anton Webern, Wolkennacht, Abschrift von Friedrich Cerha, AdZ, 000EA012/5
Cerhas Obsession für Webern spiegelt seine Tätigkeit als Interpret wider. Webern ist wohl der meistgespielte Komponist in den Konzertprogrammen der „reihe“. Seine vielfachen Aufführungen gehen dabei auch auf das Bedürfnis zurück, dem in den 1950er Jahren vorherrschenden Webern-Bild entgegenzuarbeiten. En vogue war in Darmstadt, dem „Mekka“ der damaligen Avantgarde, damals eine kühle und trockene Sichtweise auf Webern:
Die Tempi waren sehr schnell und hastig, die langsamen zumeist rascher als vorgeschrieben, auf rhythmische Präzision und korrekte Dynamik wurde großer Wert gelegt, wenig dagegen auf Phrasierung und Artikulation, auf Darstellung der Periodik. Die für die formale Gliederung so wichtigen ritardandi wurden so wenig durchgeführt, dass man sie hörend vielfach kaum registrieren konnte, Fermaten und Zäsuren wurden nur angedeutet. Das alles ließ formal-analytisches Hören allzu leicht umschlagen in global-strukturelles Hören, zumal auch expressive Darstellung des Einzelelements eher verpönt war, weil sie etwas vor anderem hervorhob, weil sie dort reliefierte, wo man gleichmäßig im Raum verteilte Ereignisse haben wollte.
Friedrich Cerha
Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 170 f.
Dem Ziel, das Ausdrucksstarke, Emotionale, auch das Detailverliebte in Weberns Werk hörbar zu machen, verpflichtete sich Cerha als Dirigent. Bezeichnenderweise knüpft sich das Zurückerobern der Expressivität dabei an Identifikationserlebnisse. Es sei ihm mit der Zeit klar geworden, „wie sehr der mentale Hintergrund Webernscher Musik im Humus österreichischen Lebens seine Wurzeln hat, dem auch Schubert und Mahler und Berg entstammen und dem ich mich zugehörig fühle.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 173 Ohne diese Voraussetzung wäre wohl die Langegger Nachtmusik I nie entstanden…
Innenansicht
Gertraud Cerha über Anton Webern
Interview mit Maria Rennhofer in der Sendereihe „Österreichische Portraits“, wahrscheinlich 1980er Jahre
Die bekundete Liebe zur Musik Anton Weberns, hier dokumentiert durch ein Interview mit Gertraud Cerha aus den 1980er Jahren, ist nicht nur zentral, um Cerhas Verwurzelung als Komponist zu verstehen. Sie ermöglicht auch einen direkten Weg zu seiner ersten Nachtmusik. Bereits ein Blick auf die Details der Besetzung verrät ein charakteristisches, mit Webern verbundenes Kolorit: eine Gruppe aus Zupf- und Tasteninstrumenten. Sie evoziert eine Klangwelt aus zarten, delikaten Farben, die vor allem in Weberns Fünf Stücken für Orchester (op. 10) zum Vorschein kommt. Zu ihr zählen Harmonium, Celesta, Mandoline, Gitarre und Harfe – zudem fünf Herdenglocken, die ebenfalls in der Langegger Nachtmusik ‚beherbergt‘ werden.
Cerha, Langegger Nachtmusik I, Besetzungsdetails, Zupf- und Tasteninstrumente, AdZ, 00000073/4
Besonders die Lauteninstrumente, Mandoline und Gitarre, sind nicht bloß für Webern, sondern für die gesamte „österreichische Musiklandschaft“ charakteristisch, die Cerha in der Nachtmusik ja erkundet. Fast urbildartig geht die zweifache Kombination wiederum auf Gustav Mahlers siebte Sinfonie zurück. Im vorletzten Satz („Andante amoroso“), der zweiten „Nachtmusik“, tauchen beide Instrumente auf. Sie arbeiten gemeinsam einem intimen Klangbild zu – einem Klangbild, das durchaus an den Urtyp eines abendlichen Ständchens erinnern mag. In einem weiteren Referenzwerk der österreichischen Musikgeschichte ist die Zupfkombination mit ähnlichen Assoziationen verknüpft. Gitarre und Mandoline sind Teil von Arnold Schönbergs Serenade (op. 24) für sieben Instrumente und eine Männerstimme. Cerha schätzte dieses Stück in besonderem Maße: Nicht nur spielte er später in einer erst 2006 entstandenen, eigenen Serenade bewusst auf Schönbergs ‚Abendmusik‘ anVgl. Joachim Diederichs (Hg.): Friedrich Cerha. Werkeinführungen, Quellen, Dokumente, Wien 2018, S. 134 – er transkribierte auch ein Fragment aus den überlieferten Skizzen des Stücks.
Arnold Schönberg, Fragment zur Serenade op. 24, Dirigerpartitur Cerhas, T. 13-17, AdZ, 000EA08/18
Die in der Langegger Nachtmusik beschworene, österreichische Klanggeschichte zehrt vom charakteristischen Zupfinstrumentarium in besonderer Weise. Doch auch die restliche Instrumentierung ist bemerkenswert. Fast die gesamte Bandbreite an sinfonischen Blasinstrumenten findet in der Besetzungsliste Unterschlupf, auch Saxofon, Wagnertuba oder Basstrompete. Jedes von ihnen tritt aber, entgegen der Tradition, nur ein einziges Mal im Orchester auf. Ausgedünnt ist auch der Streicherapparat, der mit nur 20 Spielern aufwartet. Fünf Schlagzeuger bedienen indes ein ganzes Arsenal an unterschiedlichsten Instrumenten, vom Xylofon bis zu Windmaschine. Insgesamt scheint die Orchesterbesetzung darauf ausgelegt zu sein, möglichst viele Klangfarben miteinzubeziehen, ohne aber in einer sinfonischen Masse aufzuschwemmen. In vielen Bereichen bleibt der Charakter der Nachtmusik deshalb kammermusikalisch, oft sogar intim. Die musikalischen Momente des Stück sind jedoch reichhaltig und individuell.
Insgesamt ist die Langegger Nachtmusik I in eine kompositorische Phase einzuordnen, die vom Interesse am Heterogenen belebt ist. Die Beschränkung der Mittel, um Musik zu schreiben, kennzeichnet Cerhas Werke der 1950er und der beginnenden 1960er Jahre: Sie sind stilistisch einheitlich. Seit den Exercises spielen jedoch Bezüge zur ferneren musikalischen Vergangenheit eine verstärkte Rolle. Cerhas Vorgehen ist dabei vom Wunsch getrieben, sich nicht (mehr) von Ideologien oder Absolutheiten lenken zu lassen:
Augenblicklich misstraue ich stilistischer Präokkupiertheit und dem wenig verändernden Wiederholen eigener wie anderer Ideen aus den letzten dreißig Jahren ebenso heftig wie unktontrollierter Leichtigkeit in Wahl und Umgang mit möglichem Material. Nichts in meiner Arbeit kann daher derzeit Stil und Rezept für Folgendes bedeuten. Zu einfache, primäre Materialzustände und Formulierungen genügen mir nicht, das zu erproben, was jetzt zu erfahren mich reizt und ich misstraue Grenzen, die jedweder ungeprüfte Zeitgeschmack mir auferlegen möchte. Was bleibt ist mein Verlangen nach anspruchsvollen kompositorischen Zusammenhängen.
Friedrich Cerha
Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 237
Die geforderten „anspruchsvollen kompositorischen“ Zusammenhänge meinen bei Cerha eine Orientierung an der Vielfalt, ohne diese zum Selbstzweck werden zu lassen. Geschieht die Annäherung an die Tradition in Exercises durch Wechselwirkungen zwischen eigenständigen Materialien, so durchdringen sich in den ab 1969 entstandenen Kompositionen die Möglichkeiten stärker. Dabei wird auch die Option zugelassen, aus existenten musikalischen Sphären der Vergangenheit direkt zu zitieren, sie nachzuahmen. Ende der 1960er Jahre ist dieses Verfahren weit verbreitet, die musikalische Collage auf ihrem Siegeszug in die postmoderne Ära. Am puren Ineinandermengen ist Cerha jedoch wenig interessiert. Statt die Kluft zwischen dem Verschiedenen zu akzentuieren, ist es ein „organische[r] Zusammenhang im Divergierenden“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 239, den der Komponist interessiert: Welche neue Einheit kann ein Gemisch aus ungleichartigen Elementen eingehen? Eine Frage, die auch Gustav Mahler oder Anton Webern beschäftigte. Es liegt nahe, dass Cerha Orientierung bei ihnen fand. „Weberns Einstellung zum Zyklus als Form“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 239 habe etwa eine große Faszination auf ihn ausgeübt: „Verschiedenes, locker zusammengefügt zur Einheit, reiche Vielfalt, aufgehend in Einem.“ An diesem Ideal richtet sich die Langegger Nachtmusik merkbar auf. Auch Mahlers Credo, „mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt“Herbert Killian (Hg.): Gustav Mahler in den Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner, Hamburg 1984, S. 35 aufzubauen, spielt hier mit ein. Ob banale Volksmelodien, gewaltige Märsche, Pathos oder Ironie – alles findet im sinfonischen Kosmos des Komponisten seinen Platz. Im Spannungsbereich von Zusammenfinden und Auseinanderdriften, zwischen Erwecken und WegwischenSchriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 239 des Imaginierten, entfaltet sich so die Philosophie von Cerhas Nachtmusik.
Cerha, Begleittext zur Langegger Nachtmusik I, etwa 1969, AdZ, 000T0073/4
Eine der Philosophie entsprechende Welt des Vielsagenden, Mehrdeutigen begegnet dem Hörenden direkt zu Beginn. Luftig wird Cerhas Nachtmusik durch eine fast improvisiert wirkende Figur der Flöte eröffnet. Die sich fortspinnende Flötenmelodie wird durch kurze, schillernde Akkorde einiger Zupf- und Tasteninstrumente und eines Glockenspiels gegliedert, ehe sich das Klangbild schon wieder verflüchtigt. Die gebündelte Energie wird dabei in motivische Fragmente zersplittert, die allesamt buchstäblich ins Dunkle führen: Tiefe Töne des Harmoniums und der Harfe blenden die Episode aus. Der Werkbeginn macht deutlich: Es gibt in dieser Klangwelt bloß Momentaufnahmen, die kurzzeitig aufblitzen, um wieder im Schattenhaften zu verschwinden. So geht es im Anschluss auch weiter: Zunächst verklingen einzelne Glockentöne, dann entstehen einsame Melodiebögen im fast luftleeren Raum, schließlich türmen sich mächtige Akkordschläge auf. Sie setzen einem nur vage erkennbaren ersten Spannungsbogen ein Ende.
Cerha, Langegger Nachtmusik I, Beginn
Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha, Produktion ORF, Edition Zeitton 2001
Traumhaft, zuweilen irreal, werden in dieser ersten, größeren Passage auch Klangchiffren der österreichischen Musikgeschichte angedeutet. Da sie nur „Allusionen“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 239 sind, ist ihre Gestalt oft bewusst verschwommen in Szene gesetzt; der Assoziationsraum ist weitgehend geöffnet. In der charakteristischen Einleitung klingt so gleich Mehreres an. In den Bannkreis geraten dabei bezeichnenderweise acht Orchesterfragmente Anton Weberns (1911/13), die Cerha wiederum editierte und mit der „reihe“ aufführte. Die eröffnende Flötenfigur findet eine Entsprechung im ersten dieser Fragmente: Hier liegt ein ähnlicher Aufgang in der Sologeige.
Auch die einzelnen Glockenschläge in Cerhas Nachtmusik haben ein Gegenstück in den Webern-Fragmenten. Im fünften, nur aus drei Takten bestehenden Stück, ziehen sich entsprechende Glockenklänge durch eine einsame Klanglandschaft. Wie bei Cerha werden immer die gleichen drei Töne nacheinander angeschlagen – in der Nachtmusik sind es gleichsam andere Töne. Das entfernt klingende Läuten (in einer weitgehend stillen Umgebung) öffnet aber auch andere Assoziationsräume: Es erinnert an nächtliche Kirchenglocken, an Klänge aus der realen Welt also – und tatsächlich mag etwa die Wallfahrtskirche in Maria Langegg eine Klangquelle bilden, die während des Kompositionsprozesses eine Spur hinterlassen hat.
Uneindeutig verstreut liegen in der einleitenden Passage noch weitere vage Andeutungen. So lassen sich etwa winzige Klangsplitter entdecken, die auf den gigantischen Kosmos von Gustav Mahlers Sinfonien hindeuten. Ein kurzes melodiöses Bruchstück in Mandoline und Gitarre erinnert etwa an das charakteristische Zirpen beider Instrumente in Mahlers zweiter „Nachtmusik“. Eine tiefe, verloren wirkende Figur in der Harfe weckt hingegen Assoziationen an den archaischen Beginn seiner neunten Sinfonie. Der Sinfoniebeginn ist bezeichnend und in Mahlers Universum singulär: Statt mit kraftvoller orchestraler Geste ist die Musik am Anfang der Neunten zersplittert. Nur einzelne Gesten, darunter ebenso eine tiefe Figur in der Harfe, sind wie Vorahnungen vernehmbar. Die äußerst subtile Verbindung zur Langegger Nachtmusik lässt erkennen, dass Cerhas Interesse am bruchstückhaften Komponieren auch einem Interesse an musikalischen Bruch-Stücken der österreichischen Musikgeschichte entspricht, bis hin zum realen Fragment. Im Zwielicht der Nachtmusik geben sie sich kurzweilig zu Erkennen.
Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 9, I. Andante comodo, Autograf
Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 9, Beginn
Royal Concertgebouw Orchester, Ltg. Leonard Bernstein, Produktion Deutsche Grammophon 1990
In ihrem weiteren Verlauf findet die Langegger Nachtmusik oft zur Klangaura des Webern’schen Kosmos zurück, ein Kosmos ‚en miniature‘, der gleichsam ein Gegenmodell zum Gigantismus der Welt Mahlers bildet. Eine Stelle übersteigt dabei deutlich den ständig im Vagen gehaltenen Anspielungsreigen und nähert sich dem direkten Zitat. Hochgradig atmosphärisch kreisen Harfe und Celesta mit stoischen Klangmustern um sich selbst, grundiert von fünf, im Hintergrund raunenden Herdenglocken. Über allem schwebt eine entfernte Hornmelodie. Wie ein Substrat gewinnt Cerha hier sein Klangmaterial aus Weberns Fünf Stücken für Orchester (op. 10). Im zentralen, dritten Satz der kurzen Stücke schimmern „instrumentationsbedingt Bergwelt und Natur gebändigt“Lothar Knessl, „Abseits vom Einerlei. Expressives Komponieren, österreichisch gefärbt“, in: Österreichische Musikzeitschrift 163/3 (2002), S. 18–25, hier S. 19 durch. Die Ähnlichkeit zum unendlich gedehnten, einzelnen Takt in Cerhas Nachtmusik teilt sich unmissverständlich mit.
Auch Anklänge an jüngere Schichten der ergründeten „österreichischen Musiklandschaft“ geben sich in der Nachtmusik zu Erkennen. In kurzen Episoden leuchten immer wieder verschachtelte Klangfelder auf. Diese erinnern einerseits an Cerha selbst – genauer an jene Schaffensperiode der frühen 1960er Jahre, in der die Arbeit an Klangflächen im Mittelpunkt stand. Andererseits ergeben sich auch Bezüge zum Schaffen György Ligetis – eine Verbindung, die Cerha bewusst herausstellt. Ligeti, ein Wahlösterreicher, stand zur Entstehungszeit der ersten Langegger Nachtmusik in engem Kontakt zu Cerha. Mit der „reihe“ bereitete dieser die Uraufführung eines neuen Stücks seines Kollegen vor, des Kammerkonzerts für 13 Instrumentalisten. Das Werk ist Cerha und seinem Ensemble auch gewidmet. Beide Stücke, das Kammerkonzert und die Langegger Nachtmusik, stehen in einer gewissen historischen Verbindung zueinander: Im Oktober 1970 erlebten beide in Berlin ihre Premiere (das Kammerkonzert in einer Neufassung). In den Klangbereich der Nachtmusik dringt Ligetis Konzert zwar nicht direkt ein – doch für ihn Typisches zieht zuweilen momenthaft vorbei. Ein verzahntes Klangfeld in Cerhas Musik erinnert etwa den versponnenen Beginn des Kammerkonzerts.
Cerha, Langegger Nachtmusik I, T. 34 f.
Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha, Produktion ORF, Edition Zeitton 2001
Auf der ‚Landkarte‘ von Cerhas Nachtmusik schlägt der musikalische Kompass in vielerlei Richtungen. „Da weht klanglich herein, was die naturgebettete Nacht erfüllt“Lothar Knessl, „Abseits vom Einerlei. Expressives Komponieren, österreichisch gefärbt“, in: Österreichische Musikzeitschrift 163/3 (2002), S. 18–25, hier S. 21, notiert Lothar Knessl. Die ‚Windrichtung‘ hingegen ist nicht klar bestimmt: Sie kann vom Inneren ins Äußere verlaufen, wie die zahlreichen Kondensationen der eigenen Erinnerung, des innerlich Gehörten bekunden. Andererseits verläuft sie aber auch in gegenläufiger Richtung, vom Äußere ins Innere. Etwa in der Mitte des Stücks ist dieser Weg des Klangs besonders stark spürbar. Vor dem zurückgenommen Hintergrund der Streicher ertönt das „durch die Nacht klingende Tuten der Donauschiffe“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 239. Klangträger dieses unmissverständlichen Bildes sind einzelne Bläser. Die Spannung zwischen nächtlicher Ruhe und Ereignissen, die diese Ruhe stören und in ihr umso mehr auffallen, verdeutlicht sich hier mit größter Kraft. Auch kristallisiert sich die Klangerfahrung als zwielichtiges Welterleben heraus. „Reales […] mischt sich ins Reflektierte“ bekundet Cerha – Grenzen zwischen Fantasie und Realität gibt es nicht.