I. Keintate
A leich aum otagringa friidhof
Langegger Nachtmusik I
Gschwandtner Tänze
Ernst Kein, Wiener Panoptikum, Buchumschlag
Unter dem Titel Wiener Panoptikum veröffentlichte Ernst Kein 1970 eine Sammlung von Dialektgedichten. Für das Cover gestaltete Jörg Hornberger eine Zeichnung, die vier ältere Herren auf einer Parkbank zeigt. Ihre biedere Beschäftigung ist das Füttern von Tauben. Die lästigen Ausscheidungen der Stadttiere werden in einem der Gedichte unterhaltsam thematisiert.
Foto: Marco Hoffmann
Von „Wiener Typen“ handeln nicht nur Friedrich Cerhas Keintaten –
auch eine Zeichenserie seiner Tochter Irina trägt diesen Namen.
Foto: Christoph Fuchs
Die mimischen Charakterstudien fangen die Eigensinnigkeit der Wiener Gesellschaft bestens ein. Im Profil zeigen sich Arroganz, Reserviertheit und Skepsis, aber auch Anmut, Weisheit und Geschmunzel. Die kauzigen Portraits entstanden in den frühen 1980er Jahren, jener Zeit, in der Friedrich Cerha ein im Geiste verwandtes Projekt bewältigte, seine I. Keintate (eine zweite entstand wenig später). Es lag nahe, Musik und Bild miteinander zu verbinden – der Beginn einer längeren intermedialen Geschichte der Komposition. Am Tag der Uraufführung, dem 19. Juni 1983, wurde Irina Cerhas Zyklus begleitend ausgestellt. Die Klangwelt, der das Wiener Publikum am Abend lauschte, bot Überraschungen: Zu erleben war eine vergnügliche Musik, wie sie so mancher nicht von Cerha erwartet hätte…
Außenansicht
Der Topos einer „vergnüglichen Musik“ hat im Werk Cerhas eine Vorgeschichte. Ende der 1940er Jahre, im Alter von 23 Jahren, entstand ein kleines Stück mit genau diesem Namen.Vergnügliche Musik trägt im Werkverzeichnis die Nummer 27 und entstand 1949. Leider ‚überlebte‘ die Partitur nicht lange. Das Manuskript vernichtete der Komponist kaum zehn Jahre später – es ist das letzte Stück, das dem Papierkorb zum Opfer fiel. Über 30 Jahre danach scheint die erste Keintate beinahe eine nachgereichte Einlösung des vergnüglichen Frühwerks zu sein, nicht zuletzt aufgrund der hervorgehobenen Stellung von Violine und Klarinette (das Instrumentenduo des ausrangierten Stücks). Was aber führte Cerha zurück zur unterhaltenden Musik mit österreichischem Ton? Und wie veränderte sich seine Perspektive auf sie?
Der Weg zu den eigenen Wurzeln nimmt im zeitlichen Raum zwischen Vergnügliche Musik und der ersten Keintate (komponiert 1980-82) weitschweifige Umleitungen. Nach den Berührungen mit der internationalen Avantgarde führt er über mehrere Schlenker zurück zu einer mehr und mehr traditionell wirkenden Musiksprache – eine Voraussetzung, die auch den Weg zur Keintate ebnet. Gleichwohl gestaltet sich der Pfad nicht geradlinig. Zu den prägendsten ‚Abstechern‘ Cerhas zählt seine Beschäftigung mit außereuropäischer Musikkultur, die schon früh begann, verglichen mit den späten kompositorischen Früchten um 1990. Erst durch den schweifenden Blick in die Ferne erneuerte sich jedoch auch die Sichtweise auf das Naheliegende, den eigenen Kulturraum. Die Entdeckung des Unbekannten führte zur Wiederentdeckung des Bekannten, der Wiener Volksmusik, die Cerha „seit Kindesbeinen“ Friedrich Cerha, Interview von Thomas Mayer, Februar 2012, https://www.evs-musikstiftung.ch/de/preise/preise/archiv/hauptpreistraeger/friedrich-cerha/interview.html in sich trug, aber als Komponist lange Zeit „völlig ignoriert hatte“.
Friedrich Cerha
Interview von Thomas Mayer, Februar 2012, https://www.evs-musikstiftung.ch/de/preise/preise/archiv/hauptpreistraeger/friedrich-cerha/interview.html
Anfang der 1980er Jahre fand die Musiktradition Wiens in der ersten Keintate ein Ventil. Sie sollte den Anstoß zu einer Reihe von ‚Wiener Kompositionen‘Für einen Überblick vgl. Hartmut Krones, „‘Wienerische‘ Kompositionen von Friedrich Cerha“, in: Lukas Haselböck (Hg.): Friedrich Cerha. Analysen, Essays, Reflexionen, Freiburg u.a 2006, S. 187-214 aus der Feder Cerhas geben. Allen Stücken ist dabei gemein, dass sie einen Chansonnier als buchstäbliches Sprachrohr des Dialektischen in den Vordergrund stellen.
Brücke
Wie kein Zweiter wurde HK (eigentlich Heinz Karl) Gruber, Spitzname Nali, zum Aushängeschild aller ‚Wienerischen‘ Kompositionen Cerhas. Bereits seit der Anfangszeit der „reihe“ begleitete er seinen Freund in der musikalischen Arbeit, spielte dabei aber vorwiegend Kontrabass. Erst in den 1970er Jahren traten seine Fähigkeiten als Vokalist deutlicher zu Tage. Sein eigenes Stück Frankenstein!! (1976), ein „Pandämonium“ für Chansonnier und Orchester „nach Kinderreimen von H.C. Artmann“, wurde von Simon Rattle in Liverpool aus der Taufe gehoben und sorgte für Furore: Nicht nur durch den,„Griff in einen Schrank voller Spielzeuginstrumente“HK Gruber, Werkkommentar zu Frankenstein!!, https://www.boosey.com/pages/cr/catalogue/cat_detail?=&musicid=14926&langid=2 auch durch die zur Schau gestellte Naivität mit doppeltem Boden.
Trügerische Harmlosigkeit, Verschleierung des Bitterbösen, sind auch Themen von Cerhas Keintate, auch wenn sie sich der Sprache eines anderen bedient. Das Wort „Keintate“ ist ein Mischwort „aus ‚Kantate‘, als etwas zum Singen, und dem Namen des Textautors Ernst Kein“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 246 Während H.C. Artmann durch die Veröffentlichung seines Gedichtbandes med ana schwoazzn dintn 1958 dem Wiener Dialektgedicht einen großen Popularitätsschub verpasste, dichtete Ernst Kein bereits ab 1954 in ähnlicher Weise. In der österreichischen „Kronen Zeitung“ veröffentlichte er Kolumnen unter den Pseudonymen „Herr Strudl“ oder „Herr Habe“ und wurde so einer breiten Öffentlichkeit bekannt.
Cerhas Keintate speist sich aus zwei Textquellen des befreundeten Dichters: Einerseits dem Wiener Panoptikum (1970), andererseits der Wiener Grottenbahn (1972). Ausgewählte Texte der beiden Gedichtbände fügte Cerha zu einem Libretto mit eigener Dramaturgie zusammen. Das gesamte Werk wurde am 20. Juni 1983 uraufgeführt – selbstredend von Cerha, Gruber und ihren „Freunden“, so die Ankündigung (zu ihnen zählte Ernst Kovacic an der ersten Violine). Entgegen den Gepflogenheiten, im Konzerthaus zu gastieren, wählten die Musiker einen ungewöhnlichen Schauplatz für die Premiere aus: Das Lokal „Metropol“ im 17. Wiener Gemeindebezirk Hernals, ein bewusst volksnaher Ort. Bände spricht ein selbst angefertigtes, handgeschriebenes Plakat des Komponisten, das zum Konzert im „Metropol“ einlud:
Die Wahl des „Metropol“ als Lokalität verortet den Bezugsbereich der Keintate eindeutig im Randbereich der Stadt, statt in ihrem prominenten Zentrum. Plädiert wird hier allem Anschein nach für ein unverfälschtes, authentisches Wien. Zugleich sollte das „Metropol“ auch an die seinerzeit u.a. von Johann Strauss „frequentierten Vorstadt-Etablissements“ erinnernSchriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 246 – Örtlichkeiten, die Cerha als jugendlicher Geiger noch selbst kennenlernte. Der Ortsbezug entpuppt sich jedoch auch als ein Musikbezug, denn die Keintate bezieht sich auf „Modelle der Wiener Volksmusik“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 94 des 19. Jahrhunderts. Wie stark Ort und Musik zusammenhängen, erläutert der Komponist in einer gleichsam amüsanten wie erhellenden „Stegreif-Rede“, gehalten kurz vor der Uraufführung:
Cerha, „Stegreif-Rede“ zur Uraufführung der I. Keintate Manuskript, 1983
Cerha, Stegreif-Rede, Metropol Wien, 20.6.1983
Ein deutlicher Bezug zur Cerha vertrauten Musiksphäre der Wiener Unterhaltungsmusik ergibt sich aus der Besetzung des Keintaten-Ensembles. Es umfasst 2 Klarinetten und 2 Hörner, ein Knopfakkordeon, Schlagzeug und ein Streichquintett mit Kontrabass. Die Besetzung rufe „klanglich reiche Assoziationen an eine ‚Heurigenpartie‘“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 247 hervor, resümiert Cerha. Besonders die Schrammelharmonika, ein Vorläufer des modernen Akkordeons mit weicherem Klang, ist stark mit der „typische[n] Stimmungsmusik“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 94assoziiert, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts in den Wiener Weinlokalen heranbildete. Oft zweistimmig eingesetzte Geigen, Klarinetten und Posthörner zählten Ende des Jahrhunderts ebenfalls zum „feste[n] Bestandteil des Instrumentariums“.Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 247 Bis zum Ersten Weltkrieg prägten Auftritte der entsprechenden Ensembles in Heurigen und anderen Stadtlokalen das Wiener Musikleben. Die nach dem Krieg einsetzende „Internationalisierung der Unterhaltungsmusik“Ernst Weber, Art. „Heurigenmusik“, in: Österreichisches Musiklexikon online durch Schlager, Salonmusik und Jazz verdrängte die lokale Musik schließlich nach und nach.
Innenansicht
Ernst Kein, Wiener Grottenbahn (o.l.) und Wiener Panoptikum (o.r. + u.),
Exemplare aus Cerhas Privatbestand
Foto: Christoph Fuchs
Das Zusammenspiel der Vertonungen mit den Fotos schien Cerha „außerordentlich geeignet, ein realistisches Wien zu präsentieren, das gleichwohl das an ihm Anziehende beibehält.“ Diesem intermedialen Ansatz ist es auch geschuldet, dass die Keintate trotz ihrer Dialektsprache im Ausland sehr erfolgreich war. Auf den beziehungsreichen Zugängen basierte indes noch 2015 ein Bildungsprojekt des Ensemble Modern mit dem Namen „Keintate eingetütet“.Vgl. das Begleitheft zur Veranstaltungsreihe „Images of Sound“ des Festivals „cresc…“, Frankfurt a.M., https://www.hfmdk-frankfurt.info/fileadmin/files/studium_lehre/IZM/cresc-2015_programmheft_internet.pdf, S. 7 Die drei Ebenen des Werks (Text, Musik und Bild) dienten etwa 100 Schülerinnen und Schülern als Impulse, um ihre eigene Stadt Frankfurt am Main auf selbige Weise künstlerisch zu erkunden.
Das visuelle Potenzial der Keintate führte schließlich auch zum bewegten Bild. Dass sich bereits in der Diashow ein latentes Filmkonzept verbirgt, mögen Planungen zu einer tatsächlichen filmischen Realisation der Keintate belegen. Eindrücklich dokumentiert ein erhaltenes Typoskript, dessen Entstehungszeit unbekannt ist, den Planungsprozess für einen Fernsehfilm. Vorgesehene Drehorte sind dabei markante Wiener Orte: Der Hof des „Metropol“, der Heurigen „Nierscher“ im Stadtviertel Pötzleinsdorf, die Kärntner Straße in der Inneren Stadt, die Katakomben des Stephansdom, der Ottakringer Friedhof oder der Prater. Ein surrealistischer Streifzug durch die Stadt scheint der cineastischen Szenenabfolge als Leitidee innezuwohnen. So sieht das Manuskript etwa vor, ein altes Foto von HK Gruber als Sängerknabe zum Emblem auf einer Mozartkugel zu überblenden oder ein „Kuh- oder Karpfenauge“Typoskript mit Filmkonzept zur I. Keintate, AdZ, 000T0084/12 zum „Blinkauge einer Verkehrsampel“ werden zu lassen – Gestaltungsmittel, die zuweilen an die frühen Experimentalfilme von Luis Buñuel erinnern.
115 Einzelszenen und -motive überspannen das filmische Konzept zur Keintate. Ins Typoskript eingetragen sind korrespondierend zur Bilddramaturgie auch die musikalischen Nummern des Werks.
Die fließende Dramaturgie des geplanten (jedoch nie realisierten) Films steht dabei im Spannungsverhältnis zur klar strukturierten Großform des Musikstücks. Dieses besteht aus 49 Einzelnummern und gliedert sich in vier etwa gleich große Teile. Gerahmt werden die vier Teile durch einen für sich stehenden Prolog und einen Epilog, der wiederum aus sechs Einzelnummern besteht. Architektonisch gestützt wird das Gesamtkonstrukt außerdem durch rein instrumentale Nummern, die den mannigfaltigen Gesangsnummern gegenüberstehen. Sie tragen alle den Titel „Intermezzo“. Werden der erste und der zweite große Teil jeweils durch einen „Marsch“ als Intermezzo abgeschlossen, so verteilen sich die restlichen Intermezzi unregelmäßig. Im dritten Teil fehlt jegliches instrumentale Zwischenspiel, im vierten rahmt ein „Galopp“ und eine „Polka“ symmetrisch die im Zentrum stehende Nummer „Wauma uns min dreg und midn leam“. Ein letztes Intermezzo eröffnet schließlich den Epilog.
Obwohl die Keintate aufgrund ihrer Kleinteiligkeit zuweilen den bunten Bildbrechungen eines Kaleidoskops ähnelt, verzichtet sie nicht auf einen Spannungsbogen. „Zum Dokument einer wesentlichen Schicht in der Mentalität“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 247 der Stadt wird vor allem der letzte Teil. Hier nehmen „Auflösungserscheinungen überhand“, „Delirium, Fatalismus und Tod dominieren – uralte Themen in der Volkskunst und in der Kunst aus Wien“, so der Komponist. Cerhas Schüler Georg Friedrich Haas, inzwischen selbst renommierter Komponist auf internationalem Parkett, wohnte der Uraufführung der Keintate selbst bei. Die Premiere des Stücks fällt in die Zeit seines Kompositionsstudiums bei Cerha. Seine Erinnerungen an die Aufführung schildern lebendig, wie die Verfinsterung des dramaturgischen Bogens auch das Publikum erreichte:
Unvergesslich ist mir die Uraufführung der Keintate. Als [sie] zum ersten Mal erklang, war das Publikum zunächst beinahe geschockt: Von Cerha hätte man derart konkret Fassliches nicht erwartet. Aber der zunächst noch liebenswürdige Humor zog alle in seinen Bann und bald herrschte eine geradezu ausgelassene Stimmung mit brüllendem Gelächter. Aber der Humor wurde immer bitterer, immer böser, eine an den „Herrn Karl“ gemahnende Niedertracht drang an die Oberfläche. Allmählich erstickte das Lachen. Es wurde immer stiller, zuletzt lachte nur mehr eine einzige Frau, geradezu hysterisch, bis es ihr gelang, sich mit tatkräftiger Unterstützung ihres Partners unter Kontrolle zu bringen und auch sie verstummte. Eine beklemmende Stimmung hatte sich breitgemacht, schließlich sang Gruber vom Tod, der jedes Mal anders aussieht und jedes Mal anders riecht.
Es war so etwas wie ein zweischichtiger Kontrapunkt entstanden: einerseits die differenziert und ausdrucksvoll gearbeitete Musik mit ihren zahllosen Anspielungen und Scheinzitaten und andererseits die Linearität der Publikumsreaktionen (vom Jahrmarkt zum Friedhof).
Georg Friedrich Haas
„Ohne ihn wäre ich ein Anderer geworden. Friedrich Cerha zum Geburtstag“, Text für das Klangforum Wien
In der geschilderten Dramaturgie der Keintate offenbart sich Cerhas auch andernorts gezeigtes Gespür, kleine Teile in einen längeren Prozess einzubinden. Ähnlich zum Streifzug durch Wien, zu dem der geplante Film einladen wollte, sei im Folgenden ein Streifzug auch durch die circa einstündige Keintate gewagt. So lassen sich die vielen Abschattierungen zwischen Witz und Moritat zumindest erahnen.
Prolog
1 Heans inas au
Heans inas au | Hören Sie sie an |
de magaredna | die Margarethner |
und fünfhausa | und Fünfhauser |
de flurisduafa | die Florisdorfer |
und de simaringa | und die Simmeringer |
de weana | die Wiener |
miad an wuat | mit einem Wort |
heans inas | hören Sie sie sich |
uandlech au | ordentlich an |
unds wiad ina | und es wird Ihnen |
gauns woam ums heaz | ganz warm um’s Herz |
oda se griang | oder Sie kriegen |
de ganslhaut | die Gänsehaut |
ans fon de zwaa | eines von beiden |
I. Teil
2 Bei da bost schdimmt aa wos ned
Bei da bost | Bei der Post |
schdimmt | stimmt |
aa wos ned | auch etwas nicht |
aundas kauni | anders kann ich |
ma des ned | mir das nicht |
eaglean | erklären |
daas i scho | dass ich schon |
seit ana | seit einer |
glanan ewigkeit | kleinen Ewigkeit |
kane libesbriaf | keine Liebesbriefe |
mea griag | mehr bekomme |
3 Waun i da keisa gwesn waa
Waun i | Wenn ich |
da keisa | der Kaiser |
gewsn waa | gewesen wäre |
daun hed i | dann hätte ich |
ole maln | alle Mädchen |
in da keantnaschdrossn | in der Kärntnerstraße |
in da brodaschdrossn | in der Praterstraße |
und aum giatl | und am Gürtel |
ausbrowiad | ausprobiert |
und nocha | und nachher |
hed i gsogt | hätte ich gesagt |
es woa sea scheen | „Es war sehr schön, |
es hod mi sea gefreid | es hat mich sehr gefreut“ |
4 Da hime fia uns weana
Da himme | Der Himmel |
fia uns weana | für uns Wiener |
miast a grossa | müsste ein großer |
schanigoatn sei | Gasthausgarten sein |
aun an woaman | an einem warmen |
sumadog | Sommertag |
und de kona | und die Kellner |
miastn schizln | müssten Schnitzel |
und guaknsolod | und Gurkensalat |
bringa und bia | bringen und Bier |
sofüü ma wüü | soviel man will |
und ollas umasunst | und alles gratis |
Cerhas Intention, von den Wienerlied-Modellen des 19. Jahrhunderts auszugehen, offenbart sich gleich zu Beginn. Im vierten Lied tritt die Süße eingängiger Schunkelmelodien besonders stark hervor. Zu ihr tragen vor allem die beiden Geigen bei. Schon in der kurzen Einleitung geht die melodische Bewegung von ihnen aus. Für sich allein genommen könnten sie tatsächlich einem authentischen Wienerlied entspringen – ihre Zweistimmigkeit bewegt sich fortwährend im tonalen Bereich von Es-Dur. Die klaren Harmonien werden jedoch von den umliegenden Stimmen „verschmutzt“Hartmut Krones, „‘Wienerische‘ Kompositionen von Friedrich Cerha“, in: Lukas Haselböck (Hg.): Friedrich Cerha. Analysen, Essays, Reflexionen, Freiburg u.a. 2006, S. 187-213, hier S. 195 f., immer wieder mischen sich unterschwellig fremde Töne hinein. So entsteht ein etwas ‚wackliger Spaziergang‘. Die Orientierung geht jedoch nie ganz verloren: Ein langsamer Walzer führt die Hörerschaft.
Dem lieblichen Klangbild entspricht die heile, im Text erträumte Welt. Augenzwinkernd, mit einer kleinen Pointe am Ende, persifliert er die Gemütlichkeit der Wiener Seele. Dem folgend trägt auch der Sänger „verträumt“ und „einfach im Ausdruck“Vortragsbezeichnung für den Sänger, T. 5 die sehnsuchtsvollen Verse vor, stets genüsslich den Linien der Geigen folgend. Erst im Nachspiel weicht der vermeintlich sichere Boden merkbar auf. Die Geigenmelodien versickern im trüben Geflecht der übrigen Stimmen. Zusätzlich gesteigert wird diese Verunklarung durch zwei kurz aufblitzende Zitate. Die beiden Klarinetten stimmen spöttisch das Wiener Volkslied „O du lieber Augustin“ an (das bereits Schönberg tragischerem Unterton in seinem Zweiten Streichquartett zitierte). Den Erfinder seiner Melodie, Franz von Suppè, schätzte Cerha überaus.Interview mit Friedrich und Gertraud Cerha für „Cerha Online“, 10.9.2019
5 Waasd no wiasd ois weisses mal
Waasd no |
Weißt du noch |
wiasd ois |
wie du als |
weisses mal |
weißes Mädchen |
rosnblaln |
Rosenblätter |
gsdrad hosd |
gestreut hast |
|
|
jetzt kumst hintn |
jetzt kommst du hinten |
bei de oedn weiwa |
bei den alten Weibern |
waun da pfora |
wenn der Pfarrer |
midn himme |
mit dem Traghimmel |
scho umd nexte |
schon um die nächste |
ekn bogn is |
Ecke gebogen ist |
6 De sun is ma zhaas
Di sun | Die Sonne |
is ma zhaas | ist mir zu heiß |
und da reng | und der Rege |
is ma znos | ist mir zu nass |
und di ködn | und die Kälte |
fadrog i scho goaned | vertrag‘ ich schon gar nicht |
fo miaraus | von mir aus |
brauchads | bräuchte es |
iwahaupt | überhaupt |
ka weda gem | kein Wetter geben |
7 Im grund bin i a guada loodsch
Im grund bin i | Im Grunde bin ich |
a guada loodsch | ein gutmütiger Mensch |
nua haas gee | nur zornig (heilaufen) |
dua i leichd | werde ich leicht |
und wauni | und wenn ich |
haas gee | zornig werde |
daun fagis i imma | dann vergesse ich immer |
daas i im grund | dass ich im Grunde |
a guada loodsch bin | ein gutmütiger Mensch bin |
8 I hoid di du hoidsd mi
I hoid di | Ich halte dich |
du hoidsd mi | du hältst mich |
ea hoid si | er hält sie |
si hoid eam | sie hält ihn |
so hoid ana | so hält einer |
in aundan | den anderen |
aum schmee | zum Narren |
Keins Gedicht „I hoid di du hoidsd mi“ baut mit den einfachsten Mitteln sprachlicher Variation eine wirkungsvolle Schlusspointe auf. Die Schlichtheit der an Kinderreime erinnernden Verse verleitet Cerha zu einer ebenso transparenten und launigen Vertonung, die auf das Jodeln anspielt. Aus dem in Österreich überaus populären Jodler „Hätt i di“ (bekannt auch unter anderen Namen) leitet sich die Motivik des Lieds ab. Auch seine typischen, über die Berge schallenden Echos dringen in die Vertonung ein: Das, was der Sänger begleitet von der Bratsche vorträgt, wird unmittelbar danach in Geige und Cello wiederholt – ein veritabler Kanon entsteht. Im Zwischenspiel rückt die zweite Stimme noch näher heran. Wiederum als Kanon erklingt das prägende Anfangsmotiv hier unmissverständlich, eingehüllt in die volkstümlich-alpinen Klangfarben der beiden Klarinetten. Das geschäftige Treiben der stets um sich kreisenden Musik kommt mit den letzten vertonten Zeilen zum Stillstand. Sie ziehen das vorher Gehörte in Zweifel und führen tatsächlich aufs Glatteis.
9 Waunsd amoi brofessa wiasd
Waunsd amoi | Wenn du einmal |
brofessa wiasd | Professor wirst |
daun greng di ned | dann kränk‘ dich nicht |
des kaun bei uns | das kann bei uns |
an jedn basian | jedem passieren |
10 An lipizana mecht i
An lipizana | Einen Lipizzaner |
mecht i gauns | möchte ich ganz |
fia mi alaa | für mich allein |
an lipizana | einen Lipizzaner |
groos und | groß du |
weis und | weiß und |
ausgschtopft | ausgestopft |
mecht i | möchte ich |
oda wenigstns | oder wenigstens |
an sengagnabn | einen Sängerknaben |
11 De darm san in de katakombm
De darm | Die Gedärme |
san in de katakombm | sind in den Katakomben |
es heaz | das Herz |
is in da augustinakiachn | ist in der Augustinerkirche |
da keapa | der Körper |
in da kapuzinagruft | in der Kapuzinergruft |
so haums di keisarin | so haben sie die Kaiserin |
marideresia fadeut | Maria Theresia verteilt |
das ma deimoi | damit man drei Mal |
zoen muaas | bezahlen muss |
waumas seng wü | wenn man sie sehen will |
12 Intermezzo (Marsch)
—
II Teil
13 A leich aum otagringa friidhof
A leich |
Ein Begräbnis |
aum otagringa friidhof |
am Ottakringer Friedhof |
ist so schee |
ist so schön |
de fogaln singan |
die Vögel singen und die |
und d kastanien blian |
Kastanien blühen |
di witwe wand |
die Witwe weint |
de feterana schbün |
die Veteranenmusik spielt |
es riecht noch weirauch |
es riecht nach Weihrauch |
und da pfora ret |
und der Pfarrer redet |
na wiakli woa |
nein, wirklich |
nix schenas ken i ned |
wahr ich kenne nichts Schöneres |
14 I hob a wax heaz
I hob a wax heaz | Ich hab‘ ein weiches Herz |
und da winta | und der Winter |
is schdreng | ist streng |
und de aumschln | und die Amseln |
de haum | haben nichts |
nix zum fressn | zu fressen |
und drum | und deshalb |
hob i mei oede | hab‘ ich meine Frau |
dawiagd und | erwürgt und |
zaschtiklt | zerstückelt |
und aufs fenstablech | und auf’s Fensterblech |
gschdraad | gestreut |
weu i hob a wax heaz | denn ich hab‘ ein weiches Herz |
und da winta | und der Winter |
is schdreng | ist streng |
und ma deaf ned | und man darf nicht |
aufd aumschln fagessn | die Amseln vergessen |
An grotesken Nummern fehlt es in der Keintate nicht. Das Stück „I hob a wax heaz“ sticht als eine solche jedoch besonders hervor. Keins Mordfantasie erzählt völlig überzeichnet von der Kluft zwischen maßlosen Taten und gut gemeinten Intentionen. Dem ‚plappernden‘ Ton des Textes folgt auch Cerha in seiner Vertonung. Ohne ein Gewicht auf einzelne Worte zu legen, ziehen die geballten Sprachfetzen der sprachlos machenden Geschichte am Hörer vorbei. Der Vortragsstil orientiert sich dabei kaum am Singen, sondern vielmehr an der natürlichen Sprechweise. Gestützt werden die rastlosen Worte durch ein einfach zu durchschauendes Begleitmuster. Rasche Harmoniefolgen im Akkordeon folgen dem regelmäßigen „Parlando“ des Sängers. Darüber flirrt ein Streichquartett in Flageoletttönen. Die aparte Klangkombination verwendet Cerha auch in der späteren Nummer „das ringlgschbü draad si“. Dort steht sie für das Vergnügen – ein Hinweis auch auf Cerhas Lesart dieses Gedichts?
15 Waun i sinia
Waun i sinia |
Wenn ich so nachsinne |
i dua des oft |
das tu‘ ich oft |
i bin a mensch |
ich bin ein Mensch |
dea füü siniad |
der viel nachsinnt |
und jedesmoi |
und jedes Mal |
waun i des dua |
wenn ich das tu‘ |
wia soi i sogn |
wie soll ich sagen |
a jedesmoi hoid |
jedes Mal halt |
waun i so sinia |
wenn ich so nachsinne |
nau jo |
na ja |
do schlof i ei |
dann schlaf‘ ich ein |
16 Aufschbringa deafst ned
Aufschbringa |
Aufspringen |
deafst ned |
darf man nicht |
oschbringa |
abspringen |
deafst ned |
darf man nicht |
ausselaana |
hinauslehnen |
deafst di a ned |
darf man sich auch nicht |
ausschbukn |
ausspucken |
deafst ned |
darf man nicht |
min foara redn |
mit dem Fahrer sprechen |
deafst ned |
darf man nicht |
und do hasts ollaweu |
und da wird immer behauptet |
bei uns is ma |
dass man bei uns |
a freia mensch |
ein freier Mensch ist |
17 Do sans maschiad
Do sans maschiad |
Da sind sie marschiert |
de buagschandam |
die Hofburgwache |
es bundeshea |
das Bundesheer |
de deidschn und |
die Deutschen und |
de russn |
die Russen |
|
|
jo do aum ring |
ja, da über die Ringstraße |
do sans maschiad |
da sind sie marschiert |
da schuzbund und |
der Schutzbund und |
de haunanschwanzla |
die Heimwehr |
de nazi und |
die Nazis und |
de kumaln |
die Kommunisten |
|
|
und i |
und ich |
woa oeweu |
bin immer |
in schbalia |
im Spalier gestanden |
18 Glauma des ollas sumiad si
Glauma des |
Glaub‘ mir das |
ollas sumiad si |
alles summiert sich |
und wauns aa |
und wenn es auch |
nau a so gla is |
noch so klein ist |
heit wos |
heute etwas |
und muang wos |
und morgen etwas |
und iwamuang |
und übermorgen |
aa wos |
auch etwas |
sumiad si |
summiert sich |
und wiad da |
und wird dir |
amoi zu füü |
eines Tages zu viel |
19 Gee nua eine kum nua ausse
Gee nua eine |
Geh‘ nur hinein |
kum nua ausse |
komm‘ nur heraus |
schdeig nua auffe |
steig‘ nur hinauf |
greu nua owe |
kriech‘ nur hinunter |
|
|
wiasd scho segn |
wirst schon sehen |
wosd hikumst |
wo du hinkommst |
20 A glosaug miasd ma haum
A glosaug |
Ein Glasauge |
miasd ma haum |
müsste man haben |
daun ded ma |
dann würde man |
fon dem ölend |
von dem Elend |
umadum |
rundherum |
nua mea |
nur mehr |
di höfte seng |
die Hälfte sehen |
und des waa |
und das wäre |
aa nau gnua |
auch noch genug |
21 De retung und de feiawea
De retung und |
Die Rettung und |
de feiawea |
die Feuerwehr |
de heari geen |
die hör‘ ich gerne |
do deng i daun bei mia |
da denk‘ ich mir dann |
es brend oda jetzt hods |
es brennt, oder jetzt ist |
scho wiida an darend |
schon wieder einer verunglückt |
und i bin daun |
und dann bin ich |
a bissl draureg |
ein wenig traurig |
und a bissl froo |
und ein wenig froh |
i man |
i glaub‘ |
i dua mi daun |
ich fühl‘ mich dann |
genauso fün wia waun |
genau so, wie wenn |
de schramen schbün |
die Schrammeln spielen |
22 Intermezzo (Marsch)
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III Teil
23 Daas ma laud schdadisdig
Daas ma laud | Dass wir laut |
schdadisdig | Statistik |
wenig saf | wenig Seife |
fabrauchn dan | verbrauchen |
is logisch | ist logisch |
weu bei uns | denn bei uns |
woschd ee | wäscht ohnehin |
a haund di aundare | eine Hand die andere |
24 Di daunau gibds
Di daunua gibds |
Die Donau gibt’s |
und hoche heisa |
und hohe Häuser |
hauma mea wia gnua |
haben wir mehr als genug |
an bam finst scho |
einen Baum findest du schon |
in glanstn bak |
im kleinsten Park |
de gas is aa ned |
das Erdgas ist auch nicht |
iwanesig deia |
übermäßig teuer |
|
|
mid an wuat |
mit einem Wort |
bei uns schdeen da |
bei uns stehen dir |
olle meglichkeitn offn |
alle Möglichkeiten offen |
gs.
25 Wauns da fua augn hoidsd
Waunsdaa |
Wenn du dir |
fua augn hoidsd |
vor Augen hältst |
wos heitzudog |
was heutzutage |
a leich kost |
ein Begräbnis kostet |
daun bleibt da |
dann bleibt dir |
goanix aundas iwa |
gar nichts anderes übrig |
ois wia weidazlem |
als weiterzuleben |
26 Schee woans jo ned de waunzn
Schee woans jo ned |
Schön waren sie ja nicht |
de waunzn |
die Wanzen |
ubd grochn haums |
und gerochen haben sie |
aa ned guad |
auch nicht gut |
|
|
owa ma is si |
aber man ist sich |
wenigstns ned |
wenigstens nicht |
so falossn fuakuma |
so verlassen vorgekommen |
wia jezt |
wie jetzt |
27 Daas ma oft de foam wexln
Daas ma oft |
Dass wir oft |
de foam wexln |
die Farben wechseln |
des is aa |
das ist auch |
so a faleimdung |
so eine Verleumdung |
nim zum beischbüü |
nimm zum Beispiel |
de magirungan |
die Markierungen (der Wege) |
in winawoed |
im Wienerwald |
de haum si |
die haben sich während |
de gaunze zeid |
der ganzen Zeit |
ned gendat |
nicht verändert |
28 Waun i a baafleisch iis
Waun i a |
Wenn ich |
baafleisch iis |
Beinfleisch esse |
do foin ma glei |
dann fallen mir gleich |
d fiaka ei |
die Fiaker ein |
da brodfisch |
der Bratfisch |
und di meri wetschera |
und die Mary Vetsera |
da graunprinz rudoif |
auch der Kronprinz Rudolf |
und a meialing |
und Mayerling |
und dafau kumts |
und daher kommt es |
daas i waun i |
dass ich wenn ich |
a baafleisch iis |
Beinfleisch esse |
oeweu so |
immer so |
melancholisch bin |
melancholisch bin |
29 Da fassldiwla san scho ausgschduam
De fassldiwla |
Die Biertippler |
san scho ausgschduam |
sind schon ausgestorben |
wia de dschikaretira |
so wie die Zigarettenstummel-Sammler |
de dschikaretira |
die Zigarettenstummel-Sammler |
san scho augschduam |
sind schon ausgestorben |
wia de balschdira |
so wie die Typen, die in den Abfällen nach Knochen stieren (um sie an Seifenfabriken zu verkaufen) |
de balschdira |
die Knochenstierer sind |
san scho ausgschduam |
schon ausgestorben |
wia de fassldiwla |
so wie die Biertippler |
|
|
und mia |
und wir |
mia kuman a |
wir kommen auch |
boid drau |
bald dran |
30 Des ringlgschbü draad si
Des ringlgschbü | Das Ringelspiel (Karussell) |
draad si und draad si | dreht sich und dreht sich |
und du sitzt | und du sitzt |
auf dein hoizanan pfead | auf deinem hölzernen Pferd |
und fagissd gauns | und vergisst ganz |
daas amoi | dass es einmal |
wiida schtee bleibt | wieder stehen bleibt |
Das Wort „ringlgschbü“, hochdeutsch „Ringelspiel“, bezeichnet im österreichischen Sprachgebrauch ein Pferdekarussell in Vergnügungsparks. Bereits der Ursprung des Gedichts aus Keins Wiener Grottenbahn weist passenderweise auf den Bezugsort des Wiener Praters hin. Zum prominenten Vergnügungsareal gehören Ringelspiele seit seinen Anfängen im 18. Jahrhundert, anfangs noch durch reine Muskelkraft in Gang gesetzt.https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Ringelspiel In Keins Text wird das Sinnbild der Erheiterung zugleich zum Sinnbild des Lebens, das irgendwann aufhört, sich zu drehen.
Die Vertonung nimmt die Hommage an den Prater wörtlich und setzt die Idee des langsamer werdenden Karussells mit großer Plastizität um. Bildhaft wird der Klang etwa durch die Aktionen des Schlagzeugers, der japanische Glasscheiben oder verbundene Ketten aus Glasscherben zum Klirren bringen soll. Im restlichen Ensemble entsteht eine überzeichnete Karussellmusik. Grelle Obertöne in den Streichern mögen das schlecht geölte Fahrgeschäft in ein akustisches Bild fassen. Bunt schillernde Harmonien im Akkordeon lassen hingegen die zirkushafte Umgebung des Praters ans Ohr dringen. Nach und nach werden die einzelnen Elemente abgebaut. Die fast über das gesamte Stück gespannte Verlangsamung lässt das Ringelspiel verfolgbar zum Stehen kommen.
31 Beredn dan sas de leid
Beredn dan sas |
Sie reden darüber |
de leid |
die Leute |
waunsd dschechasd |
wenn du säufst |
owara bessas mitl |
aber ein besseres Mittel |
gengan duaschd |
gegen den Durst |
des wissns ned |
wissen sie nicht |
32 De schlechte zeid hod uns ned guad dau
Di schlechte zeid |
Die schlechte Zeit |
hod uns ned |
hat uns nicht |
guad dau |
gut getan |
und di guade |
und die gute |
duad uns |
tut uns |
aa ned guad |
auch nicht gut |
wos woin mia |
was wollen wir |
eigndli |
eigentlich |
IV Teil
33 De ringldaum
De ringldaum und | Die Ringeltauben und |
de duatldaum und | die Turteltauben und |
de waundadaum und | die Wandertauben und |
de diakndaum und | die Türkentauben und |
de schtrossndaum und | die Straßentauben und |
de rauchfaungdaum und | die Rauchfangtauben und |
de briafdaum und | die Brieftauben und die |
de hausdaum und | Haustauben und |
de lochdaum | die Lachtauben |
de ludan scheissn | die Luder scheißen |
oilas au | alles an |
Die Eröffnungsnummer des vierten Keintaten-Teils ist einem allseits bekannten Stadttier gewidmet: Der Taube. Wie ein Besucher auf der Parkbank geht der Text beobachtend vor und zählt alle möglichen Varianten der Vögel auf. Dabei öffnet er zugleich die Schatztruhe des zoologischen Dialektvokabulars der Wiener. Unter die aufgezählten Vogelarten hat sich dabei ein Wort gemischt, das gar keinen Vogel beschreibt. Mit „Rauchfangtaube“ („rauchfaungdaum“) bezeichnet der Wiener vielmehr abschätzig eine alte Frau.
Nicht nur im Text fällt das geschickt eingesetzte Schimpfwort nicht auf – auch die Musik geht über seine Sonderstellung gleichmütig hinweg. Cerha entwickelt zunächst eine Wienerische Melodie, die fast wie ein Zitat wirkt, ohne jedoch eines zu sein. Mit ihr wird der Text zunächst in eine klangliche Liebeserklärung gehüllt – die eigentliche Botschaft verbergend (ähnlich wie die getarnte Beschimpfung). Mit den Worten geht Cerha dann gleichsam flexibel um. Operettenhaft schließt sich eine ins Groteske ziehende zweite Strophe an, die sich bis zum erschöpfenden Zungentraining steigert. In einer dritten Strophe wird der schwärmerische Ton des Beginns wieder aufgenommen und ebenso gefühlig weitergetrieben. Der Weg führt aber in die Irre – beziehungsweise in die Keint’sche Pointe. Wie in anderen Nummern der Keintate wird der sängerisch gepflegte Ton am Ende aufgekündigt und dem Wienerischen Ärger anheimgegeben.
34 Fois se a fremda san
Fois se a fremda san |
Falls Sie ein Fremder sind |
und noch wean kuman |
und nach Wien kommen |
daun schdeigns glei |
dann sollten Sie gleich |
uam schdefansduam auffe |
auf den Stephansturm hinaufsteigen |
und schauns owe aum grom |
und auf den Graben hinunterschauen |
aufs rodhaus und |
auf’s Rathaus und |
auf di wotifkiachn |
auf die Votivkirche |
und daun ume zum koenbeag |
und dann hinüber zum Kahlenberg |
zua daunau und zum risnral |
zur Donau und zum Riesenrad |
und wauns des dau daum |
und wenn Sie das getan haben |
schdeigns owa fon schdefansduam |
dann steigen Sie herunter vom Stephansturm |
und foans gschwind wiida ham |
und fahren schnell wieder nach Hause |
35 I woa scho in kaoale
I woa scho |
Ich war schon |
in kaoale |
in Caorle |
in jesolo |
in Jesolo |
und auf da insl rab |
und auf der Insel Rab |
|
|
i ken di wöd |
ich kenne die Welt |
mia kenans nix |
mir können Sie nichts |
dazön |
erzählen |
36 De gmiadlichkeit des kaunst ma glaum
De gmiadlichkeit |
Die Gemütlichkeit |
des kaunst ma glaum |
das kannst du mir glauben |
de geed ma iwa ollas |
die geht mir über alle |
und waunstas |
und wenn du’s |
ned glaubst |
nicht glaubst |
schleich di glei |
dann scher‘ dich zum Teufel |
weu sunsta leansd |
sonst lernst du |
mi kena |
mich kennen |
37 Intermezzo (Galopp)
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38 Wauma uns min dreg und midn leam
Wauma uns |
Wenn wir uns |
min dreg |
mit dem Dreck |
und midn leam |
und mit dem Lärm |
söwa umbrocht |
selbst umgebracht |
haum wean |
haben werden |
daun wiad |
dann wird |
ned amoi mea |
nicht einmal mehr |
ana do sei |
einer da sein |
dea sogt |
der sagt |
recht gschicht eich |
recht geschieht euch |
es depm |
ihr Idioten |
39 Intermezzo (Polka)
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40 I sog da heit gibds nua mea gfrasta
I sog da |
Ich sag‘ dir |
heit gibds nua mea |
heute gibt’s nur mehr |
gfrasta |
unredliche Menschen |
wosd hischausd |
wo man hinschaut |
sogoa am söwa |
sogar sich selbst |
kauma nimma draun |
kann man nicht mehr trauen |
41 Waun i singa kent wiara kanari
Wauni singa kent |
Wenn ich singen könnte |
wiara kanari |
wie ein Kanarienvogel |
daun wari |
dann wäre |
in gaunzn dog |
ich den ganzen Tag |
schdüü |
still |
|
|
auf de oat |
auf diese Weise |
dedad i eich olle |
würde ich euch alle |
schdrofm |
bestrafen |
42 Zeascht schtingn de kaneu
Zeascht schtingn | Zuerst stinken |
de kaneu | die Kanäle |
daun kumt da wind | dann kommt der Wind |
und drogt | und wirbelt |
de kasbabialn | die Papierfetzen |
bis in dritn schtog | bis zum dritten Stock |
und nocha schitts | und dann regnet es |
fileicht a hoiwe schtund | vielleicht eine halbe Stunde |
daasd glaubst | dass man glaubt, |
di wöd geed unta | die Welt geht unter |
waunsd owa daun | wenn du aber dann |
es fensta wiida aufmoxt | das Fenster wieder öffnest |
is di luft | ist die Luft |
di fon da schmöz | die von der Schmelzwiese |
umawaat | herüberweht |
so gschmackig und küü | so würzig und kühl |
ois wira mentoizukal | wie ein Mentholbonbon |
Viele Nummern der Keintate bleiben mehr oder minder einer einzigen Stimmung treu. Das Lied „Zeascht schtingn de kaneu“ macht hier eine Ausnahme. Es gehört zu den Stücken mit den vielfältigsten Ausdrucksweisen. Dies liegt auch am Text, der mit Sinneseindrücken übersät ist. Grob lässt er sich in zwei Hälften teilen: In der ersten herrscht eine apokalyptische Atmosphäre, in der zweiten lichtet sich der düstere Dunst. Beschrieben wird zunächst ein aufkommendes Unwetter. Dieses wird durch illustrative Mittel musikalisch verdichtet: Das geisterhafte Streichen am Steg verklanglicht den Kanaluntergrund, ein Lauf der Klarinetten die aufgewirbelten Papierfetzen, raue Klangeffekte der Blasinstrumente den Regensturm. Im zweiten Teil wandelt sich der Charakter hin zur Schwelgerei mit doppeltem Boden. Die Schmelzwiese, Ursprungsort der „würzigen“ Luft, ist ein ehemaliger Übungsplatz der k.u.k.-Armee – Unwetter und militärisches Getose werden ununterscheidbar. Ätherisch ummanteln besonders die Streicher die gesungenen Beschreibungen der wie ein „mentoizukal“ riechenden Luft. Nicht nur das expressive Nachspiel erinnert an die besonders lyrischen Momente der Wiener Schule. Das Schöne und das Schaurige vereinen sich hier mit großer poetischer Kraft.
43 Mi kenan olle liawa hea
Mia kenan olle |
Mich können alle |
liawa hea |
lieber Herr |
de wochta und |
die Polizisten und |
de feiawea |
die Feuerwehrleute |
und a es |
und auch das |
gaunze mülidea |
ganze Militär |
de ralfora |
die Radfahrer |
de autofora |
die Autofahrer |
de oaman und |
die Armen und |
de reichn |
die Reichen |
de greisla |
die Gemischtwarenhändler (Greisler) |
de greila |
die Gemüsehändler (Kräutler) |
de müliweiwa |
die Milchweiber |
de rodn und |
die Roten und |
de schwoazn |
die Schwarzen |
de wiatn |
die Wirte |
und kafeesiada |
und Cafétiers |
de schuasta |
die Schuster |
schneida und de |
Schneider und die |
schdrossnkira |
Straßenkehrer |
de hean beaumtn |
die Herren Beamten |
und minista |
und Minister |
de bem |
die Tschechen (Böhmen) |
de gscheadn |
die Provinzler |
und growodn |
und Kroaten |
de hausmasta |
die Hausmeister |
de dramweia |
die Straßenbahner |
mi kenan olle |
Mich können alle |
liawa hea |
lieber Herr |
und se wauns woin |
und Sie, wenn sie wollen, |
se a |
Sie auch |
Epilog
44 Intermezzo
45 Wiama seinazeid auf da greizeichnwisn
Wia ma seinazeid |
Als wir damals |
auf da greizeichnwisn |
auf der Kreuzeichenwiese (im Wienerwald) |
babla gfaungt haum |
Schmetterlinge fingen |
hauma nau ned gwusd |
haben wir nicht gewusst, |
daas mar amoi |
dass wir einmal |
so gfaungt und daun |
so gefangen und dann |
mid ana |
mit einer |
unsichtboan nodl |
unsichtbaren Nadel |
auf an |
auf einem |
unsichtboan bopandekl |
unsichtbaren Karton |
gschbenld wean |
angenadelt würden |
46 A fietl und no a fietl
A fietl |
Ein Viertel(liter) |
und no |
und noch |
a fietl |
ein Viertel |
und no |
und noch |
a fiatl |
ein Viertel |
und no |
und noch |
a fietl |
ein Viertel |
|
|
und daun |
und dann |
waun |
wann |
daun |
dann |
|
|
a fiatl |
ein Viertel |
und no |
und noch |
a fietl |
ein Viertel |
und no |
und noch |
|
|
und daun |
und dann |
waun |
wann |
no daun |
na dann |
jo daun |
ja dann |
47 Fria hob i glaubt
Fria hob i glaubt | Früher hab‘ ich geglaubt |
daas da dod | dass der Tod |
ollaweu gleich ausschaut, | immer gleich aussieht |
so wi dea | so wie der |
in da geistabaun | in der Geisterbahn |
und noch leim riachd | und nach Leim riecht |
und schtaub | und Staub |
oba jetzt waas i | aber jetzt weiß ich |
daas a ollaweu | dass er immer |
aundas ausschaut | anders aussieht |
und ollaweu | und immer |
aundas riachd | anders riecht |
Auch in den Nummern des Epilogs bleiben Bezüge zum Wienerlied erkennbar. Abhanden kommt im letzten Teil aber die liebliche Aura der vertraut wirkenden Musiksphäre. Sie wandelt sich tendenziell ins Schaurige, korrespondierend mit jenen Texten Keins, die morbide Themen umkreisen. „Der Tod, das muss ein Wiener sein“ sang Georg Kreisler 1969 nicht voraussetzungslos – der Blick auf den Verfall besitzt in der Kulturgeschichte der österreichischen Hauptstadt durchaus Tradition.
Im drittletzten Lied des gesamten Zyklus nimmt der Tod besonders deutlich Gestalt an. Keins Text geht von naiven Darstellungen des Todes aus, die in der „geistabaun“ dominieren, also etwa im Geisterschloss des Wiener Prater, der ältesten Geisterbahn Österreichs, 1933 errichtet. Den Kitschbildnissen auf dem Rummel stehen die geschilderten Individualerfahrungen mit dem Tod entgegen, der sich in unendlich vielen Formen zeigen kann.
Cerha begegnet dem Text durch ein thematisch verzweigtes Klangbild. Direkt zu Beginn entwirft das Cello ein Thema. Dieses Thema wird bereits kurz nach den ersten Tönen von anderen Instrumenten aufgegriffen. Die tiefen Instrumente (unter ihnen eine Bassklarinette) führen es nach unten, die höheren (etwa die Geigen) entwickeln es in einer Umkehrungsform nach oben. Unergründlich durchdringen sich die zahlreichen Varianten ein- und desselben, bilden einen Klangteppich für die Erzählung des Sängers, um schließlich ins Dunkle zu münden.
48 Da wagna jaurek is scho laung dood
Da wagna jaurek |
Der Wagner-Jauregg |
is scho laung dod |
ist schon lange tot |
und in hoff gibds |
und den Hoff gibt es |
jetzt a nimma mea |
jetzt auch nicht mehr |
|
|
schee schauma aus |
schön schau’n wir aus |
mia iaman noan |
wir armen Narren |
49 Waun an fiemling
Waun an fiamling |
Wenn einem Firmling |
da luflbalaun |
der Luftballon |
dafaufliegd |
davonfliegt |
daun sog i imma |
dann sag‘ ich immer |
waan ned glana |
wein‘ nicht, Kleiner |
wea waas fia |
wie weiß, |
wos guad is |
wofür’s gut ist |