I. Keintate

A leich aum otagringa friidhof

Langegger Nachtmusik I

Gschwandtner Tänze

Ernst Kein, Wiener Panoptikum, Buchumschlag

Unter dem Titel Wiener Panoptikum veröffentlichte Ernst Kein 1970 eine Sammlung von Dialektgedichten. Für das Cover gestaltete Jörg Hornberger eine Zeichnung, die vier ältere Herren auf einer Parkbank zeigt. Ihre biedere Beschäftigung ist das Füttern von Tauben. Die lästigen Ausscheidungen der Stadttiere werden in einem der Gedichte unterhaltsam thematisiert.

Foto: Marco Hoffmann

Von „Wiener Typen“ handeln nicht nur Friedrich Cerhas Keintaten
auch eine Zeichenserie seiner Tochter Irina trägt diesen Namen.

Foto: Christoph Fuchs

Die mimischen Charakterstudien fangen die Eigensinnigkeit der Wiener Gesellschaft bestens ein. Im Profil zeigen sich Arroganz, Reserviertheit und Skepsis, aber auch Anmut, Weisheit und Geschmunzel. Die kauzigen Portraits entstanden in den frühen 1980er Jahren, jener Zeit, in der Friedrich Cerha ein im Geiste verwandtes Projekt bewältigte, seine I. Keintate (eine zweite entstand wenig später). Es lag nahe, Musik und Bild miteinander zu verbinden – der Beginn einer längeren intermedialen Geschichte der Komposition. Am Tag der Uraufführung, dem 19. Juni 1983, wurde Irina Cerhas Zyklus begleitend ausgestellt. Die Klangwelt, der das Wiener Publikum am Abend lauschte, bot Überraschungen: Zu erleben war eine vergnügliche Musik, wie sie so mancher nicht von Cerha erwartet hätte…

Außenansicht

Uraufführung der I. Keintate im „Metropol“ (I), 19.6.1983

Der Topos einer „vergnüglichen Musik“ hat im Werk Cerhas eine Vorgeschichte. Ende der 1940er Jahre, im Alter von 23 Jahren, entstand ein kleines Stück mit genau diesem Namen.Vergnügliche Musik trägt im Werkverzeichnis die Nummer 27 und entstand 1949. Leider ‚überlebte‘ die Partitur nicht lange. Das Manuskript vernichtete der Komponist kaum zehn Jahre später – es ist das letzte Stück, das dem Papierkorb zum Opfer fiel. Über 30 Jahre danach scheint die erste Keintate beinahe eine nachgereichte Einlösung des vergnüglichen Frühwerks zu sein, nicht zuletzt aufgrund der hervorgehobenen Stellung von Violine und Klarinette (das Instrumentenduo des ausrangierten Stücks). Was aber führte Cerha zurück zur unterhaltenden Musik mit österreichischem Ton? Und wie veränderte sich seine Perspektive auf sie?
Der Weg zu den eigenen Wurzeln nimmt im zeitlichen Raum zwischen Vergnügliche Musik und der ersten Keintate (komponiert 1980-82) weitschweifige Umleitungen. Nach den Berührungen mit der internationalen Avantgarde führt er über mehrere Schlenker zurück zu einer mehr und mehr traditionell wirkenden Musiksprache – eine Voraussetzung, die auch den Weg zur Keintate ebnet. Gleichwohl gestaltet sich der Pfad nicht geradlinig. Zu den prägendsten ‚Abstechern‘ Cerhas zählt seine Beschäftigung mit außereuropäischer Musikkultur, die schon früh begann, verglichen mit den späten kompositorischen Früchten um 1990. Erst durch den schweifenden Blick in die Ferne erneuerte sich jedoch auch die Sichtweise auf das Naheliegende, den eigenen Kulturraum. Die Entdeckung des Unbekannten führte zur Wiederentdeckung des Bekannten, der Wiener Volksmusik, die Cerha „seit Kindesbeinen“ Friedrich Cerha, Interview von Thomas Mayer, Februar 2012, https://www.evs-musikstiftung.ch/de/preise/preise/archiv/hauptpreistraeger/friedrich-cerha/interview.html in sich trug, aber als Komponist lange Zeit „völlig ignoriert hatte“.

 

Ich habe lange Zeit Wert darauf gelegt, mich als Weltbürger zu sehen, und habe auch gemeint, dass ich eine entsprechende Musik mache. Es hat eigentlich lange gedauert, bis ich draufgekommen bin, dass das ja nicht stimmt und dass es hier Wurzeln gibt, die ich nicht gesehen habe oder, wenn ich sie gesehen habe, möglicherweise nicht wahrhaben wollte, übrigens wie viele meiner Generation. Es war immer eines meiner Prinzipien, die Dinge, wenn ich merke, dass eine Art von Erscheinungen oder eine bestimmte Tendenz vorhanden ist, unter die Lupe zu nehmen und nicht unkontrolliert zu lassen. Auf diesem Weg bin ich sozusagen auch wieder zu meiner eigenen Vergangenheit gekommen.
Friedrich Cerha

Interview von Thomas Mayer, Februar 2012, https://www.evs-musikstiftung.ch/de/preise/preise/archiv/hauptpreistraeger/friedrich-cerha/interview.html

Anfang der 1980er Jahre fand die Musiktradition Wiens in der ersten Keintate ein Ventil. Sie sollte den Anstoß zu einer Reihe von ‚Wiener Kompositionen‘Für einen Überblick vgl. Hartmut Krones, „‘Wienerische‘ Kompositionen von Friedrich Cerha“, in: Lukas Haselböck (Hg.): Friedrich Cerha. Analysen, Essays, Reflexionen, Freiburg u.a 2006, S. 187-214 aus der Feder Cerhas geben. Allen Stücken ist dabei gemein, dass sie einen Chansonnier als buchstäbliches Sprachrohr des Dialektischen in den Vordergrund stellen.

Brücke

Uraufführung der I. Keintate im „Metropol“ (II), 19.6.1983

Wie kein Zweiter wurde HK (eigentlich Heinz Karl) Gruber, Spitzname Nali, zum Aushängeschild aller ‚Wienerischen‘ Kompositionen Cerhas. Bereits seit der Anfangszeit der „reihe“ begleitete er seinen Freund in der musikalischen Arbeit, spielte dabei aber vorwiegend Kontrabass. Erst in den 1970er Jahren traten seine Fähigkeiten als Vokalist deutlicher zu Tage. Sein eigenes Stück Frankenstein!! (1976), ein „Pandämonium“ für Chansonnier und Orchester „nach Kinderreimen von H.C. Artmann“, wurde von Simon Rattle in Liverpool aus der Taufe gehoben und sorgte für Furore: Nicht nur durch den,„Griff in einen Schrank voller Spielzeuginstrumente“HK Gruber, Werkkommentar zu Frankenstein!!, https://www.boosey.com/pages/cr/catalogue/cat_detail?=&musicid=14926&langid=2 auch durch die zur Schau gestellte Naivität mit doppeltem Boden.
Trügerische Harmlosigkeit, Verschleierung des Bitterbösen, sind auch Themen von Cerhas Keintate, auch wenn sie sich der Sprache eines anderen bedient. Das Wort „Keintate“ ist ein Mischwort „aus ‚Kantate‘, als etwas zum Singen, und dem Namen des Textautors Ernst Kein“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 246 Während H.C. Artmann durch die Veröffentlichung seines Gedichtbandes med ana schwoazzn dintn 1958 dem Wiener Dialektgedicht einen großen Popularitätsschub verpasste, dichtete Ernst Kein bereits ab 1954 in ähnlicher Weise. In der österreichischen „Kronen Zeitung“ veröffentlichte er Kolumnen unter den Pseudonymen „Herr Strudl“ oder „Herr Habe“ und wurde so einer breiten Öffentlichkeit bekannt.
Cerhas Keintate speist sich aus zwei Textquellen des befreundeten Dichters: Einerseits dem Wiener Panoptikum (1970), andererseits der Wiener Grottenbahn (1972). Ausgewählte Texte der beiden Gedichtbände fügte Cerha zu einem Libretto mit eigener Dramaturgie zusammen. Das gesamte Werk wurde am 20. Juni 1983 uraufgeführt – selbstredend von Cerha, Gruber und ihren „Freunden“, so die Ankündigung (zu ihnen zählte Ernst Kovacic an der ersten Violine). Entgegen den Gepflogenheiten, im Konzerthaus zu gastieren, wählten die Musiker einen ungewöhnlichen Schauplatz für die Premiere aus: Das Lokal „Metropol“ im 17. Wiener Gemeindebezirk Hernals, ein bewusst volksnaher Ort. Bände spricht ein selbst angefertigtes, handgeschriebenes Plakat des Komponisten, das zum Konzert im „Metropol“ einlud:

Einladungsplakat zur Uraufführung der ersten Keintate, Wien 1983

Die Wahl des „Metropol“ als Lokalität verortet den Bezugsbereich der Keintate eindeutig im Randbereich der Stadt, statt in ihrem prominenten Zentrum. Plädiert wird hier allem Anschein nach für ein unverfälschtes, authentisches Wien. Zugleich sollte das „Metropol“ auch an die seinerzeit u.a. von Johann Strauss „frequentierten Vorstadt-Etablissements“ erinnernSchriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 246 – Örtlichkeiten, die Cerha als jugendlicher Geiger noch selbst kennenlernte. Der Ortsbezug entpuppt sich jedoch auch als ein Musikbezug, denn die Keintate bezieht sich auf „Modelle der Wiener Volksmusik“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 94 des 19. Jahrhunderts. Wie stark Ort und Musik zusammenhängen, erläutert der Komponist in einer gleichsam amüsanten wie erhellenden „Stegreif-Rede“, gehalten kurz vor der Uraufführung:

Cerha, „Stegreif-Rede“ zur Uraufführung der I. Keintate Manuskript, 1983

Ein deutlicher Bezug zur Cerha vertrauten Musiksphäre der Wiener Unterhaltungsmusik ergibt sich aus der Besetzung des Keintaten-Ensembles. Es umfasst 2 Klarinetten und 2 Hörner, ein Knopfakkordeon, Schlagzeug und ein Streichquintett mit Kontrabass. Die Besetzung rufe „klanglich reiche Assoziationen an eine ‚Heurigenpartie‘“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 247 hervor, resümiert Cerha. Besonders die Schrammelharmonika, ein Vorläufer des modernen Akkordeons mit weicherem Klang, ist stark mit der „typische[n] Stimmungsmusik“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 94assoziiert, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts in den Wiener Weinlokalen heranbildete. Oft zweistimmig eingesetzte Geigen, Klarinetten und Posthörner zählten Ende des Jahrhunderts ebenfalls zum „feste[n] Bestandteil des Instrumentariums“.Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 247 Bis zum Ersten Weltkrieg prägten Auftritte der entsprechenden Ensembles in Heurigen und anderen Stadtlokalen das Wiener Musikleben. Die nach dem Krieg einsetzende „Internationalisierung der Unterhaltungsmusik“Ernst Weber, Art. „Heurigenmusik“, in: Österreichisches Musiklexikon online durch Schlager, Salonmusik und Jazz verdrängte die lokale Musik schließlich nach und nach.

Innenansicht

Ernst Kein, Wiener Grottenbahn (o.l.) und Wiener Panoptikum (o.r. + u.),
Exemplare aus Cerhas Privatbestand

Foto: Christoph Fuchs

Cerhas in der Keintate eingenommener Blick auf seine Heimatstadt ist in erster Linie beziehungsreich. Nicht nur die vielfältigen Texte Ernst Keins sowie die musikalischen Anspielungen auf den Vorstadtklang Wiens an der Jahrhundertschwelle spielen dabei hinein. Auch für den visuellen Ausdrucksbereich zeigt sich das Werk offen. Um die Lebensechtheit der Vertonungen noch plastischer erfahrbar werden zu lassen, entschied sich Cerha dazu, den einzelnen Nummern der Keintate Bildern zuzuordnen und diese bei Aufführungen für das Publikum auf eine Leinwand zu übertragen. Damals machte ein Diaprojektor die Bilderschau möglich. Die Schwarzweiß-Fotografien stammten vom österreichischen Fotografen Franz Hubmann. In zahlreichen seiner rund 80 Bildbände richtete er das Objektiv auf die Stadt Wien und ihre Bewohner. Interessiert an den Menschen, ihren Geschichten und Lebensweisen gelang es ihm so, einen unverfälschten Blick ins Alltägliche zu werfen. Schauplatz seiner impliziten Bildgeschichten war dabei u.a. das „Café Hawelka“, das Künstlercafé in der Nähe vom Stephansplatz. Bereits 1960 veröffentlichte Hubmann die entsprechenden Fotos in seiner eigenen Zeitschrift „magnum“. Besonders in den 1970er Jahren prägte er durch Bildbände und Fernsehfilme das das ,„nostalgische Wien-Bild“http://www.deutschefotothek.de/documents/kue/70060161 ,dem auch die Keintate in Teilen nachspürt. Rund 200 Dias stellte Cerhas aus dem Fundus des fotografischen Werks zusammen – allesamt „ausdrucksstarke, poetische oder auch sarkastische Bilder von Wiener Typen und Schauplätzen“.Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 247
Das Zusammenspiel der Vertonungen mit den Fotos schien Cerha „außerordentlich geeignet, ein realistisches Wien zu präsentieren, das gleichwohl das an ihm Anziehende beibehält.“ Diesem intermedialen Ansatz ist es auch geschuldet, dass die Keintate trotz ihrer Dialektsprache im Ausland sehr erfolgreich war. Auf den beziehungsreichen Zugängen basierte indes noch 2015 ein Bildungsprojekt des Ensemble Modern mit dem Namen „Keintate eingetütet“.Vgl. das Begleitheft zur Veranstaltungsreihe „Images of Sound“ des Festivals „cresc…“, Frankfurt a.M., https://www.hfmdk-frankfurt.info/fileadmin/files/studium_lehre/IZM/cresc-2015_programmheft_internet.pdf, S. 7 Die drei Ebenen des Werks (Text, Musik und Bild) dienten etwa 100 Schülerinnen und Schülern als Impulse, um ihre eigene Stadt Frankfurt am Main auf selbige Weise künstlerisch zu erkunden.

Das visuelle Potenzial der Keintate führte schließlich auch zum bewegten Bild. Dass sich bereits in der Diashow ein latentes Filmkonzept verbirgt, mögen Planungen zu einer tatsächlichen filmischen Realisation der Keintate belegen. Eindrücklich dokumentiert ein erhaltenes Typoskript, dessen Entstehungszeit unbekannt ist, den Planungsprozess für einen Fernsehfilm. Vorgesehene Drehorte sind dabei markante Wiener Orte: Der Hof des „Metropol“, der Heurigen „Nierscher“ im Stadtviertel Pötzleinsdorf, die Kärntner Straße in der Inneren Stadt, die Katakomben des Stephansdom, der Ottakringer Friedhof oder der Prater. Ein surrealistischer Streifzug durch die Stadt scheint der cineastischen Szenenabfolge als Leitidee innezuwohnen. So sieht das Manuskript etwa vor, ein altes Foto von HK Gruber als Sängerknabe zum Emblem auf einer Mozartkugel zu überblenden oder ein „Kuh- oder Karpfenauge“Typoskript mit Filmkonzept zur I. Keintate, AdZ, 000T0084/12 zum „Blinkauge einer Verkehrsampel“ werden zu lassen – Gestaltungsmittel, die zuweilen an die frühen Experimentalfilme von Luis Buñuel erinnern.

 

Typoskript mit Filmkonzept zur I. Keintate, Entstehungszeit unbekannt

115 Einzelszenen und -motive überspannen das filmische Konzept zur Keintate. Ins Typoskript eingetragen sind korrespondierend zur Bilddramaturgie auch die musikalischen Nummern des Werks.
Die fließende Dramaturgie des geplanten (jedoch nie realisierten) Films steht dabei im Spannungsverhältnis zur klar strukturierten Großform des Musikstücks. Dieses besteht aus 49 Einzelnummern und gliedert sich in vier etwa gleich große Teile. Gerahmt werden die vier Teile durch einen für sich stehenden Prolog und einen Epilog, der wiederum aus sechs Einzelnummern besteht. Architektonisch gestützt wird das Gesamtkonstrukt außerdem durch rein instrumentale Nummern, die den mannigfaltigen Gesangsnummern gegenüberstehen. Sie tragen alle den Titel „Intermezzo“. Werden der erste und der zweite große Teil jeweils durch einen „Marsch“ als Intermezzo abgeschlossen, so verteilen sich die restlichen Intermezzi unregelmäßig. Im dritten Teil fehlt jegliches instrumentale Zwischenspiel, im vierten rahmt ein „Galopp“ und eine „Polka“ symmetrisch die im Zentrum stehende Nummer „Wauma uns min dreg und midn leam“. Ein letztes Intermezzo eröffnet schließlich den Epilog.
Obwohl die Keintate aufgrund ihrer Kleinteiligkeit zuweilen den bunten Bildbrechungen eines Kaleidoskops ähnelt, verzichtet sie nicht auf einen Spannungsbogen. „Zum Dokument einer wesentlichen Schicht in der Mentalität“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 247 der Stadt wird vor allem der letzte Teil. Hier nehmen „Auflösungserscheinungen überhand“, „Delirium, Fatalismus und Tod dominieren – uralte Themen in der Volkskunst und in der Kunst aus Wien“, so der Komponist. Cerhas Schüler Georg Friedrich Haas, inzwischen selbst renommierter Komponist auf internationalem Parkett, wohnte der Uraufführung der Keintate selbst bei. Die Premiere des Stücks fällt in die Zeit seines Kompositionsstudiums bei Cerha. Seine Erinnerungen an die Aufführung schildern lebendig, wie die Verfinsterung des dramaturgischen Bogens auch das Publikum erreichte:

Unvergesslich ist mir die Uraufführung der Keintate. Als [sie] zum ersten Mal erklang, war das Publikum zunächst beinahe geschockt: Von Cerha hätte man derart konkret Fassliches nicht erwartet. Aber der zunächst noch liebenswürdige Humor zog alle in seinen Bann und bald herrschte eine geradezu ausgelassene Stimmung mit brüllendem Gelächter. Aber der Humor wurde immer bitterer, immer böser, eine an den „Herrn Karl“ gemahnende Niedertracht drang an die Oberfläche. Allmählich erstickte das Lachen. Es wurde immer stiller, zuletzt lachte nur mehr eine einzige Frau, geradezu hysterisch, bis es ihr gelang, sich mit tatkräftiger Unterstützung ihres Partners unter Kontrolle zu bringen und auch sie verstummte. Eine beklemmende Stimmung hatte sich breitgemacht, schließlich sang Gruber vom Tod, der jedes Mal anders aussieht und jedes Mal anders riecht.
Es war so etwas wie ein zweischichtiger Kontrapunkt entstanden: einerseits die differenziert und ausdrucksvoll gearbeitete Musik mit ihren zahllosen Anspielungen und Scheinzitaten und andererseits die Linearität der Publikumsreaktionen (vom Jahrmarkt zum Friedhof).

Georg Friedrich Haas

„Ohne ihn wäre ich ein Anderer geworden. Friedrich Cerha zum Geburtstag“, Text für das Klangforum Wien

In der geschilderten Dramaturgie der Keintate offenbart sich Cerhas auch andernorts gezeigtes Gespür, kleine Teile in einen längeren Prozess einzubinden. Ähnlich zum Streifzug durch Wien, zu dem der geplante Film einladen wollte, sei im Folgenden ein Streifzug auch durch die circa einstündige Keintate gewagt. So lassen sich die vielen Abschattierungen zwischen Witz und Moritat zumindest erahnen.

Prolog
1 Heans inas au
Heans inas au Hören Sie sie an
de magaredna die Margarethner
und fünfhausa und Fünfhauser
de flurisduafa die Florisdorfer
und de simaringa und die Simmeringer
de weana die Wiener
miad an wuat mit einem Wort
   
heans inas hören Sie sie sich
uandlech au ordentlich an
unds wiad ina und es wird Ihnen
gauns woam ums heaz ganz warm um’s Herz
oda se griang oder Sie kriegen
de ganslhaut die Gänsehaut
ans fon de zwaa eines von beiden
I. Teil
2 Bei da bost schdimmt aa wos ned
Bei da bost Bei der Post
schdimmt stimmt
aa wos ned auch etwas nicht
aundas kauni anders kann ich
ma des ned mir das nicht
eaglean erklären
daas i scho dass ich schon
seit ana seit einer
glanan ewigkeit kleinen Ewigkeit
kane libesbriaf keine Liebesbriefe
mea griag mehr bekomme
3 Waun i da keisa gwesn waa
Waun i Wenn ich
da keisa der Kaiser
gewsn waa gewesen wäre
   
daun hed i dann hätte ich
ole maln alle Mädchen
in da keantnaschdrossn in der Kärntnerstraße
in da brodaschdrossn in der Praterstraße
und aum giatl und am Gürtel
ausbrowiad ausprobiert
   
und nocha und nachher
hed i gsogt hätte ich gesagt
es woa sea scheen „Es war sehr schön,
es hod mi sea gefreid es hat mich sehr gefreut“

 

4 Da hime fia uns weana
Da himme Der Himmel
fia uns weana für uns Wiener
miast a grossa müsste ein großer
schanigoatn sei Gasthausgarten sein
   
aun an woaman an einem warmen
sumadog Sommertag
   
und de kona und die Kellner
miastn schizln müssten Schnitzel
und guaknsolod und Gurkensalat
bringa und bia bringen und Bier
sofüü ma wüü soviel man will
   
und ollas umasunst und alles gratis

 

Cerhas Intention, von den Wienerlied-Modellen des 19. Jahrhunderts auszugehen, offenbart sich gleich zu Beginn. Im vierten Lied tritt die Süße eingängiger Schunkelmelodien besonders stark hervor.  Zu ihr tragen vor allem die beiden Geigen bei. Schon in der kurzen Einleitung geht die melodische Bewegung von ihnen aus. Für sich allein genommen könnten sie tatsächlich einem authentischen Wienerlied entspringen – ihre Zweistimmigkeit bewegt sich fortwährend im tonalen Bereich von Es-Dur. Die klaren Harmonien werden jedoch von den umliegenden Stimmen „verschmutzt“Hartmut Krones, „‘Wienerische‘ Kompositionen von Friedrich Cerha“, in: Lukas Haselböck (Hg.): Friedrich Cerha. Analysen, Essays, Reflexionen, Freiburg u.a. 2006, S. 187-213, hier S. 195 f., immer wieder mischen sich unterschwellig fremde Töne hinein. So entsteht ein etwas ‚wackliger Spaziergang‘. Die Orientierung geht jedoch nie ganz verloren: Ein langsamer Walzer führt die Hörerschaft.
Dem lieblichen Klangbild entspricht die heile, im Text erträumte Welt. Augenzwinkernd, mit einer kleinen Pointe am Ende, persifliert er die Gemütlichkeit der Wiener Seele. Dem folgend trägt auch der Sänger „verträumt“ und „einfach im Ausdruck“Vortragsbezeichnung für den Sänger, T. 5 die sehnsuchtsvollen Verse vor, stets genüsslich den Linien der Geigen folgend. Erst im Nachspiel weicht der vermeintlich sichere Boden merkbar auf. Die Geigenmelodien versickern im trüben Geflecht der übrigen Stimmen. Zusätzlich gesteigert wird diese Verunklarung durch zwei kurz aufblitzende Zitate. Die beiden Klarinetten stimmen spöttisch das Wiener Volkslied „O du lieber Augustin“ an (das bereits Schönberg tragischerem Unterton in seinem Zweiten Streichquartett zitierte). Den Erfinder seiner Melodie, Franz von Suppè, schätzte Cerha überaus.Interview mit Friedrich und Gertraud Cerha für „Cerha Online“, 10.9.2019

5 Waasd no wiasd ois weisses mal

Waasd no

Weißt du noch

wiasd ois

wie du als

weisses mal

weißes Mädchen

rosnblaln

Rosenblätter

gsdrad hosd

gestreut hast

 

 

jetzt kumst hintn

jetzt kommst du hinten

bei de oedn weiwa

bei den alten Weibern

waun da pfora

wenn der Pfarrer

midn himme

mit dem Traghimmel

scho umd nexte

schon um die nächste

ekn bogn is

Ecke gebogen ist

6 De sun is ma zhaas
Di sun Die Sonne
is ma zhaas ist mir zu heiß
und da reng und der Rege
is ma znos ist mir zu nass
und di ködn und die Kälte
fadrog i scho goaned vertrag‘ ich schon gar nicht
fo miaraus von mir aus
brauchads bräuchte es
iwahaupt überhaupt
ka weda gem kein Wetter geben
7 Im grund bin i a guada loodsch
Im grund bin i Im Grunde bin ich
a guada loodsch ein gutmütiger Mensch
nua haas gee nur zornig (heilaufen)
dua i leichd werde ich leicht
und wauni und wenn ich
haas gee zornig werde
daun fagis i imma dann vergesse ich immer
daas i im grund dass ich im Grunde
a guada loodsch bin ein gutmütiger Mensch bin

 

8 I hoid di du hoidsd mi
I hoid di Ich halte dich
du hoidsd mi du hältst mich
ea hoid si er hält sie
si hoid eam sie hält ihn
so hoid ana so hält einer
   
in aundan den anderen
aum schmee zum Narren

 

Keins Gedicht „I hoid di du hoidsd mi“ baut mit den einfachsten Mitteln sprachlicher Variation eine wirkungsvolle Schlusspointe auf. Die Schlichtheit der an Kinderreime erinnernden Verse verleitet Cerha zu einer ebenso transparenten und launigen Vertonung, die auf das Jodeln anspielt. Aus dem in Österreich überaus populären Jodler „Hätt i di“ (bekannt auch unter anderen Namen) leitet sich die Motivik des Lieds ab. Auch seine typischen, über die Berge schallenden Echos dringen in die Vertonung ein: Das, was der Sänger begleitet von der Bratsche vorträgt, wird unmittelbar danach in Geige und Cello wiederholt – ein veritabler Kanon entsteht. Im Zwischenspiel rückt die zweite Stimme noch näher heran. Wiederum als Kanon erklingt das prägende Anfangsmotiv hier unmissverständlich, eingehüllt in die volkstümlich-alpinen Klangfarben der beiden Klarinetten. Das geschäftige Treiben der stets um sich kreisenden Musik kommt mit den letzten vertonten Zeilen zum Stillstand. Sie ziehen das vorher Gehörte in Zweifel und führen tatsächlich aufs Glatteis.

 

 

9 Waunsd amoi brofessa wiasd
Waunsd amoi Wenn du einmal
brofessa wiasd Professor wirst
daun greng di ned dann kränk‘ dich nicht
des kaun bei uns das kann bei uns
an jedn basian jedem passieren
10 An lipizana mecht i
An lipizana Einen Lipizzaner
mecht i gauns möchte ich ganz
fia mi alaa für mich allein
an lipizana einen Lipizzaner
groos und groß du
weis und weiß und
ausgschtopft ausgestopft
mecht i möchte ich
   
oda wenigstns oder wenigstens
an sengagnabn einen Sängerknaben
11 De darm san in de katakombm
De darm Die Gedärme
san in de katakombm sind in den Katakomben
es heaz das Herz
is in da augustinakiachn ist in der Augustinerkirche
da keapa der Körper
in da kapuzinagruft in der Kapuzinergruft
   
so haums di keisarin so haben sie die Kaiserin
marideresia fadeut Maria Theresia verteilt
das ma deimoi damit man drei Mal
zoen muaas bezahlen muss
waumas seng wü wenn man sie sehen will
12 Intermezzo (Marsch)

II Teil
13 A leich aum otagringa friidhof

A leich

Ein Begräbnis

aum otagringa friidhof

am Ottakringer Friedhof

ist so schee

ist so schön

de fogaln singan

die Vögel singen und die

und d kastanien blian

Kastanien blühen

di witwe wand

die Witwe weint

de feterana schbün

die Veteranenmusik spielt

es riecht noch weirauch

es riecht nach Weihrauch

und da pfora ret

und der Pfarrer redet

na wiakli woa

nein, wirklich

nix schenas ken i ned

wahr ich kenne nichts Schöneres

14 I hob a wax heaz
I hob a wax heaz Ich hab‘ ein weiches Herz
und da winta und der Winter
is schdreng ist streng
und de aumschln und die Amseln
de haum haben nichts
nix zum fressn zu fressen
   
und drum und deshalb
hob i mei oede hab‘ ich meine Frau
dawiagd und erwürgt und
zaschtiklt zerstückelt
und aufs fenstablech und auf’s Fensterblech
gschdraad gestreut
   
weu i hob a wax heaz denn ich hab‘ ein weiches Herz
und da winta und der Winter
is schdreng ist streng
und ma deaf ned und man darf nicht
aufd aumschln fagessn die Amseln vergessen

 

An grotesken Nummern fehlt es in der Keintate nicht. Das Stück „I hob a wax heaz“ sticht als eine solche jedoch besonders hervor. Keins Mordfantasie erzählt völlig überzeichnet von der Kluft zwischen maßlosen Taten und gut gemeinten Intentionen. Dem ‚plappernden‘ Ton des Textes folgt auch Cerha in seiner Vertonung. Ohne ein Gewicht auf einzelne Worte zu legen, ziehen die geballten Sprachfetzen der sprachlos machenden Geschichte am Hörer vorbei. Der Vortragsstil orientiert sich dabei kaum am Singen, sondern vielmehr an der natürlichen Sprechweise. Gestützt werden die rastlosen Worte durch ein einfach zu durchschauendes Begleitmuster. Rasche Harmoniefolgen im Akkordeon folgen dem regelmäßigen „Parlando“ des Sängers. Darüber flirrt ein Streichquartett in Flageoletttönen. Die aparte Klangkombination verwendet Cerha auch in der späteren Nummer „das ringlgschbü draad si“. Dort steht sie für das Vergnügen – ein Hinweis auch auf Cerhas Lesart dieses Gedichts?

15 Waun i sinia

Waun i sinia

Wenn ich so nachsinne

i dua des oft

das tu‘ ich oft

i bin a mensch

ich bin ein Mensch

dea füü siniad

der viel nachsinnt

und jedesmoi

und jedes Mal

waun i des dua

wenn ich das tu‘

wia soi i sogn

wie soll ich sagen

a jedesmoi hoid

jedes Mal halt

waun i so sinia

wenn ich so nachsinne

nau jo

na ja

do schlof i ei

dann schlaf‘ ich ein

16 Aufschbringa deafst ned

Aufschbringa

Aufspringen

deafst ned

darf man nicht

oschbringa

abspringen

deafst ned

darf man nicht

ausselaana

hinauslehnen

deafst di a ned

darf man sich auch nicht

ausschbukn

ausspucken

deafst ned

darf man nicht

min foara redn

mit dem Fahrer sprechen

deafst ned

darf man nicht

und do hasts ollaweu

und da wird immer behauptet

bei uns is ma

dass man bei uns

a freia mensch

ein freier Mensch ist

17 Do sans maschiad

Do sans maschiad

Da sind sie marschiert

de buagschandam

die Hofburgwache

es bundeshea

das Bundesheer

de deidschn und

die Deutschen und

de russn

die Russen

 

 

jo do aum ring

ja, da über die Ringstraße

do sans maschiad

da sind sie marschiert

da schuzbund und

der Schutzbund und

de haunanschwanzla

die Heimwehr

de nazi und

die Nazis und

de kumaln

die Kommunisten

 

 

und i

und ich

woa oeweu

bin immer

in schbalia

im Spalier gestanden

18 Glauma des ollas sumiad si

Glauma des

Glaub‘ mir das

ollas sumiad si

alles summiert sich

und wauns aa

und wenn es auch

nau a so gla is

noch so klein ist

heit wos

heute etwas

und muang wos

und morgen etwas

und iwamuang

und übermorgen

aa wos

auch etwas

sumiad si

summiert sich

und wiad da

und wird dir

amoi zu füü

eines Tages zu viel

19 Gee nua eine kum nua ausse

Gee nua eine

Geh‘ nur hinein

kum nua ausse

komm‘ nur heraus

schdeig nua auffe

steig‘ nur hinauf

greu nua owe

kriech‘ nur hinunter

 

 

wiasd scho segn

wirst schon sehen

wosd hikumst

wo du hinkommst

20 A glosaug miasd ma haum

A glosaug

Ein Glasauge

miasd ma haum

müsste man haben

daun ded ma

dann würde man

fon dem ölend

von dem Elend

umadum

rundherum

nua mea

nur mehr

di höfte seng

die Hälfte sehen

und des waa

und das wäre

aa nau gnua

auch noch genug

21 De retung und de feiawea

De retung und

Die Rettung und

de feiawea

die Feuerwehr

de heari geen

die hör‘ ich gerne

do deng i daun bei mia

da denk‘ ich mir dann

es brend oda jetzt hods

es brennt, oder jetzt ist

scho wiida an darend

schon wieder einer verunglückt

und i bin daun

und dann bin ich

a bissl draureg

ein wenig traurig

und a bissl froo

und ein wenig froh

i man

i glaub‘

i dua mi daun

ich fühl‘ mich dann

genauso fün wia waun

genau so, wie wenn

de schramen schbün

die Schrammeln spielen

22 Intermezzo (Marsch)

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III Teil
23 Daas ma laud schdadisdig
Daas ma laud Dass wir laut
schdadisdig Statistik
wenig saf wenig Seife
fabrauchn dan verbrauchen
is logisch ist logisch
weu bei uns denn bei uns
woschd ee wäscht ohnehin
a haund di aundare eine Hand die andere
24 Di daunau gibds

Di daunua gibds

Die Donau gibt’s

und hoche heisa

und hohe Häuser

hauma mea wia gnua

haben wir mehr als genug

an bam finst scho

einen Baum findest du schon

in glanstn bak

im kleinsten Park

de gas is aa ned

das Erdgas ist auch nicht

iwanesig deia

übermäßig teuer

 

 

mid an wuat

mit einem Wort

bei uns schdeen da

bei uns stehen dir

olle meglichkeitn offn

alle Möglichkeiten offen

gs.

25 Wauns da fua augn hoidsd

Waunsdaa

Wenn du dir

fua augn hoidsd

vor Augen hältst

wos heitzudog

was heutzutage

a leich kost

ein Begräbnis kostet

daun bleibt da

dann bleibt dir

goanix aundas iwa

gar nichts anderes übrig

ois wia weidazlem

als weiterzuleben

26 Schee woans jo ned de waunzn

Schee woans jo ned

Schön waren sie ja nicht

de waunzn

die Wanzen

ubd grochn haums

und gerochen haben sie

aa ned guad

auch nicht gut

 

 

owa ma is si

aber man ist sich

wenigstns ned

wenigstens nicht

so falossn fuakuma

so verlassen vorgekommen

wia jezt

wie jetzt

27 Daas ma oft de foam wexln

Daas ma oft

Dass wir oft

de foam wexln

die Farben wechseln

des is aa

das ist auch

so a faleimdung

so eine Verleumdung

nim zum beischbüü

nimm zum Beispiel

de magirungan

die Markierungen (der Wege)

in winawoed

im Wienerwald

de haum si

die haben sich während

de gaunze zeid

der ganzen Zeit

ned gendat

nicht verändert

28 Waun i a baafleisch iis

Waun i a

Wenn ich

baafleisch iis

Beinfleisch esse

do foin ma glei

dann fallen mir gleich

d fiaka ei

die Fiaker ein

da brodfisch

der Bratfisch

und di meri wetschera

und die Mary Vetsera

da graunprinz rudoif

auch der Kronprinz Rudolf

und a meialing

und Mayerling

und dafau kumts

und daher kommt es

daas i waun i

dass ich wenn ich

a baafleisch iis

Beinfleisch esse

oeweu so

immer so

melancholisch bin

melancholisch bin

29 Da fassldiwla san scho ausgschduam

De fassldiwla

Die Biertippler

san scho ausgschduam

sind schon ausgestorben

wia de dschikaretira

so wie die Zigarettenstummel-Sammler

de dschikaretira

die Zigarettenstummel-Sammler

san scho augschduam

sind schon ausgestorben

wia de balschdira

so wie die Typen, die in den Abfällen nach Knochen stieren (um sie an Seifenfabriken zu verkaufen)

de balschdira

die Knochenstierer sind

san scho ausgschduam

schon ausgestorben

wia de fassldiwla

so wie die Biertippler

 

 

und mia

und wir

mia kuman a

wir kommen auch

boid drau

bald dran

30 Des ringlgschbü draad si
Des ringlgschbü Das Ringelspiel (Karussell)
draad si und draad si dreht sich und dreht sich
und du sitzt und du sitzt
auf dein hoizanan pfead auf deinem hölzernen Pferd
und fagissd gauns und vergisst ganz
daas amoi dass es einmal
wiida schtee bleibt wieder stehen bleibt

 

Das Wort „ringlgschbü“, hochdeutsch „Ringelspiel“, bezeichnet im österreichischen Sprachgebrauch ein Pferdekarussell in Vergnügungsparks. Bereits der Ursprung des Gedichts aus Keins Wiener Grottenbahn weist passenderweise auf den Bezugsort des Wiener Praters hin. Zum prominenten Vergnügungsareal gehören Ringelspiele seit seinen Anfängen im 18. Jahrhundert, anfangs noch durch reine Muskelkraft in Gang gesetzt.https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Ringelspiel In Keins Text wird das Sinnbild der Erheiterung zugleich zum Sinnbild des Lebens, das irgendwann aufhört, sich zu drehen.
Die Vertonung nimmt die Hommage an den Prater wörtlich und setzt die Idee des langsamer werdenden Karussells mit großer Plastizität um. Bildhaft wird der Klang etwa durch die Aktionen des Schlagzeugers, der japanische Glasscheiben oder verbundene Ketten aus Glasscherben zum Klirren bringen soll. Im restlichen Ensemble entsteht eine überzeichnete Karussellmusik. Grelle Obertöne in den Streichern mögen das schlecht geölte Fahrgeschäft in ein akustisches Bild fassen. Bunt schillernde Harmonien im Akkordeon lassen hingegen die zirkushafte Umgebung des Praters ans Ohr dringen. Nach und nach werden die einzelnen Elemente abgebaut. Die fast über das gesamte Stück gespannte Verlangsamung lässt das Ringelspiel verfolgbar zum Stehen kommen.

31 Beredn dan sas de leid

Beredn dan sas

Sie reden darüber

de leid

die Leute

waunsd dschechasd

wenn du säufst

owara bessas mitl

aber ein besseres Mittel

gengan duaschd

gegen den Durst

des wissns ned

wissen sie nicht

32 De schlechte zeid hod uns ned guad dau

Di schlechte zeid

Die schlechte Zeit

hod uns ned

hat uns nicht

guad dau

gut getan

und di guade

und die gute

duad uns

tut uns

aa ned guad

auch nicht gut

wos woin mia

was wollen wir

eigndli

eigentlich

IV Teil
33 De ringldaum
De ringldaum und Die Ringeltauben und
de duatldaum und die Turteltauben und
de waundadaum und die Wandertauben und
de diakndaum und die Türkentauben und
de schtrossndaum und die Straßentauben und
de rauchfaungdaum und die Rauchfangtauben und
de briafdaum und die Brieftauben und die
de hausdaum und Haustauben und
de lochdaum die Lachtauben
   
de ludan scheissn die Luder scheißen
oilas au alles an

Die Eröffnungsnummer des vierten Keintaten-Teils ist einem allseits bekannten Stadttier gewidmet: Der Taube. Wie ein Besucher auf der Parkbank geht der Text beobachtend vor und zählt alle möglichen Varianten der Vögel auf. Dabei öffnet er zugleich die Schatztruhe des zoologischen Dialektvokabulars der Wiener. Unter die aufgezählten Vogelarten hat sich dabei ein Wort gemischt, das gar keinen Vogel beschreibt. Mit „Rauchfangtaube“ („rauchfaungdaum“) bezeichnet der Wiener vielmehr abschätzig eine alte Frau.
Nicht nur im Text fällt das geschickt eingesetzte Schimpfwort nicht auf – auch die Musik geht über seine Sonderstellung gleichmütig hinweg. Cerha entwickelt zunächst eine Wienerische Melodie, die fast wie ein Zitat wirkt, ohne jedoch eines zu sein. Mit ihr wird der Text zunächst in eine klangliche Liebeserklärung gehüllt – die eigentliche Botschaft verbergend (ähnlich wie die getarnte Beschimpfung). Mit den Worten geht Cerha dann gleichsam flexibel um. Operettenhaft schließt sich eine ins Groteske ziehende zweite Strophe an, die sich bis zum erschöpfenden Zungentraining steigert. In einer dritten Strophe wird der schwärmerische Ton des Beginns wieder aufgenommen und ebenso gefühlig weitergetrieben. Der Weg führt aber in die Irre – beziehungsweise in die Keint’sche Pointe. Wie in anderen Nummern der Keintate wird der sängerisch gepflegte Ton am Ende aufgekündigt und dem Wienerischen Ärger anheimgegeben.

34 Fois se a fremda san

Fois se a fremda san

Falls Sie ein Fremder sind

und noch wean kuman

und nach Wien kommen

daun schdeigns glei

dann sollten Sie gleich

uam schdefansduam auffe

auf den Stephansturm hinaufsteigen

und schauns owe aum grom

und auf den Graben hinunterschauen

aufs rodhaus und

auf’s Rathaus und

auf di wotifkiachn

auf die Votivkirche

und daun ume zum koenbeag

und dann hinüber zum Kahlenberg

zua daunau und zum risnral

zur Donau und zum Riesenrad

und wauns des dau daum

und wenn Sie das getan haben

schdeigns owa fon schdefansduam

dann steigen Sie herunter vom Stephansturm

und foans gschwind wiida ham

und fahren schnell wieder nach Hause

35 I woa scho in kaoale

I woa scho

Ich war schon

in kaoale

in Caorle

in jesolo

in Jesolo

und auf da insl rab

und auf der Insel Rab

 

 

i ken di wöd

ich kenne die Welt

mia kenans nix

mir können Sie nichts

dazön

erzählen

36 De gmiadlichkeit des kaunst ma glaum

De gmiadlichkeit

Die Gemütlichkeit

des kaunst ma glaum

das kannst du mir glauben

de geed ma iwa ollas

die geht mir über alle

und waunstas

und wenn du’s

ned glaubst

nicht glaubst

schleich di glei

dann scher‘ dich zum Teufel

weu sunsta leansd

sonst lernst du

mi kena

mich kennen

37 Intermezzo (Galopp)

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38 Wauma uns min dreg und midn leam

Wauma uns

Wenn wir uns

min dreg

mit dem Dreck

und midn leam

und mit dem Lärm

söwa umbrocht

selbst umgebracht

haum wean

haben werden

daun wiad

dann wird

ned amoi mea

nicht einmal mehr

ana do sei

einer da sein

dea sogt

der sagt

recht gschicht eich

recht geschieht euch

es depm

ihr Idioten

39 Intermezzo (Polka)

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40 I sog da heit gibds nua mea gfrasta

I sog da

Ich sag‘ dir

heit gibds nua mea

heute gibt’s nur mehr

gfrasta

unredliche Menschen

wosd hischausd

wo man hinschaut

sogoa am söwa

sogar sich selbst

kauma nimma draun

kann man nicht mehr trauen

41 Waun i singa kent wiara kanari

Wauni singa kent

Wenn ich singen könnte

wiara kanari

wie ein Kanarienvogel

daun wari

dann wäre

in gaunzn dog

ich den ganzen Tag

schdüü

still

 

 

auf de oat

auf diese Weise

dedad i eich olle

würde ich euch alle

schdrofm

bestrafen

42 Zeascht schtingn de kaneu
Zeascht schtingn Zuerst stinken
de kaneu die Kanäle
daun kumt da wind dann kommt der Wind
und drogt und wirbelt
de kasbabialn die Papierfetzen
bis in dritn schtog bis zum dritten Stock
und nocha schitts und dann regnet es
fileicht a hoiwe schtund vielleicht eine halbe Stunde
daasd glaubst dass man glaubt,
di wöd geed unta die Welt geht unter
waunsd owa daun wenn du aber dann
es fensta wiida aufmoxt das Fenster wieder öffnest
is di luft ist die Luft
di fon da schmöz die von der Schmelzwiese
umawaat herüberweht
so gschmackig und küü so würzig und kühl
ois wira mentoizukal wie ein Mentholbonbon

Viele Nummern der Keintate bleiben mehr oder minder einer einzigen Stimmung treu. Das Lied „Zeascht schtingn de kaneu“ macht hier eine Ausnahme. Es gehört zu den Stücken mit den vielfältigsten Ausdrucksweisen. Dies liegt auch am Text, der mit Sinneseindrücken übersät ist. Grob lässt er sich in zwei Hälften teilen: In der ersten herrscht eine apokalyptische Atmosphäre, in der zweiten lichtet sich der düstere Dunst. Beschrieben wird zunächst ein aufkommendes Unwetter. Dieses wird durch illustrative Mittel musikalisch verdichtet: Das geisterhafte Streichen am Steg verklanglicht den Kanaluntergrund, ein Lauf der Klarinetten die aufgewirbelten Papierfetzen, raue Klangeffekte der Blasinstrumente den Regensturm. Im zweiten Teil wandelt sich der Charakter hin zur Schwelgerei mit doppeltem Boden. Die Schmelzwiese, Ursprungsort der „würzigen“ Luft, ist ein ehemaliger Übungsplatz der k.u.k.-Armee – Unwetter und militärisches Getose werden ununterscheidbar. Ätherisch ummanteln besonders die Streicher die gesungenen Beschreibungen der wie ein „mentoizukal“ riechenden Luft. Nicht nur das expressive Nachspiel erinnert an die besonders lyrischen Momente der Wiener Schule. Das Schöne und das Schaurige vereinen sich hier mit großer poetischer Kraft.

43 Mi kenan olle liawa hea

Mia kenan olle

Mich können alle

liawa hea

lieber Herr

de wochta und

die Polizisten und

de feiawea

die Feuerwehrleute

und a es

und auch das

gaunze mülidea

ganze Militär

de ralfora

die Radfahrer

de autofora

die Autofahrer

de oaman und

die Armen und

de reichn

die Reichen

de greisla

die Gemischtwarenhändler (Greisler)

de greila

die Gemüsehändler (Kräutler)

de müliweiwa

die Milchweiber

de rodn und

die Roten und

de schwoazn

die Schwarzen

de wiatn

die Wirte

und kafeesiada

und Cafétiers

de schuasta

die Schuster

schneida und de

Schneider und die

schdrossnkira

Straßenkehrer

de hean beaumtn

die Herren Beamten

und minista

und Minister

de bem

die Tschechen (Böhmen)

de gscheadn

die Provinzler

und growodn

und Kroaten

de hausmasta

die Hausmeister

de dramweia

die Straßenbahner

mi kenan olle

Mich können alle

liawa hea

lieber Herr

und se wauns woin

und Sie, wenn sie wollen,

se a

Sie auch

Epilog
44 Intermezzo
45 Wiama seinazeid auf da greizeichnwisn

Wia ma seinazeid

Als wir damals

auf da greizeichnwisn

auf der Kreuzeichenwiese (im Wienerwald)

babla gfaungt haum

Schmetterlinge fingen

hauma nau ned gwusd

haben wir nicht gewusst,

daas mar amoi

dass wir einmal

so gfaungt und daun

so gefangen und dann

mid ana

mit einer

unsichtboan nodl

unsichtbaren Nadel

auf an

auf einem

unsichtboan bopandekl

unsichtbaren Karton

gschbenld wean

angenadelt würden

46 A fietl und no a fietl

A fietl

Ein Viertel(liter)

und no

und noch

a fietl

ein Viertel

und no

und noch

a fiatl

ein Viertel

und no

und noch

a fietl

ein Viertel

 

 

und daun

und dann

waun

wann

daun

dann

 

 

a fiatl

ein Viertel

und no

und noch

a fietl

ein Viertel

und no

und noch

 

 

und daun

und dann

waun

wann

no daun

na dann

jo daun

ja dann

47 Fria hob i glaubt
Fria hob i glaubt Früher hab‘ ich geglaubt
daas da dod dass der Tod
ollaweu gleich ausschaut, immer gleich aussieht
so wi dea so wie der
in da geistabaun in der Geisterbahn
und noch leim riachd und nach Leim riecht
und schtaub und Staub
   
oba jetzt waas i aber jetzt weiß ich
daas a ollaweu dass er immer
aundas ausschaut anders aussieht
und ollaweu und immer
aundas riachd anders riecht

Auch in den Nummern des Epilogs bleiben Bezüge zum Wienerlied erkennbar. Abhanden kommt im letzten Teil aber die liebliche Aura der vertraut wirkenden Musiksphäre. Sie wandelt sich tendenziell ins Schaurige, korrespondierend mit jenen Texten Keins, die morbide Themen umkreisen. „Der Tod, das muss ein Wiener sein“ sang Georg Kreisler 1969 nicht voraussetzungslos – der Blick auf den Verfall besitzt in der Kulturgeschichte der österreichischen Hauptstadt durchaus Tradition.
Im drittletzten Lied des gesamten Zyklus nimmt der Tod besonders deutlich Gestalt an. Keins Text geht von naiven Darstellungen des Todes aus, die in der „geistabaun“ dominieren, also etwa im Geisterschloss des Wiener Prater, der ältesten Geisterbahn Österreichs, 1933 errichtet. Den Kitschbildnissen auf dem Rummel stehen die geschilderten Individualerfahrungen mit dem Tod entgegen, der sich in unendlich vielen Formen zeigen kann.
Cerha begegnet dem Text durch ein thematisch verzweigtes Klangbild. Direkt zu Beginn entwirft das Cello ein Thema. Dieses Thema wird bereits kurz nach den ersten Tönen von anderen Instrumenten aufgegriffen. Die tiefen Instrumente (unter ihnen eine Bassklarinette) führen es nach unten, die höheren (etwa die Geigen) entwickeln es in einer Umkehrungsform nach oben. Unergründlich durchdringen sich die zahlreichen Varianten ein- und desselben, bilden einen Klangteppich für die Erzählung des Sängers, um schließlich ins Dunkle zu münden.

48 Da wagna jaurek is scho laung dood

Da wagna jaurek

Der Wagner-Jauregg

is scho laung dod

ist schon lange tot

und in hoff gibds

und den Hoff gibt es

jetzt a nimma mea

jetzt auch nicht mehr

 

 

schee schauma aus

schön schau’n wir aus

mia iaman noan

wir armen Narren

49 Waun an fiemling

Waun an fiamling

Wenn einem Firmling

da luflbalaun

der Luftballon

dafaufliegd

davonfliegt

daun sog i imma

dann sag‘ ich immer

waan ned glana

wein‘ nicht, Kleiner

wea waas fia

wie weiß,

wos guad is

wofür’s gut ist

Schatztruhe