Und Du…
Von der Zeit des Endes
Verzeichnis
Jahrlang ins Ungewisse hinab
Test der Kernwaffe „Castle Romeo“
Bikini-Atoll (Pazifik) 1954
Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs begannen die USA damit, nukleare Sprengsätze zu zünden, initiiert durch den damaligen Präsidenten Harry S. Truman. 1954 fand die „Operation Castle“ statt, eine Kernwaffentestserie inmitten des Pazifiks, zwischen Hawaii und Papua-Neuguinea. Die Inselgruppe Bikini-Atoll kann bis heute nicht mehr besiedelt werden.
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Weitaus vielschichtiger, als lediglich apokalyptische Bilder zu beschwören, begründet Anders‘ Text, der 1972 als Teil des Essays „Endzeit und Zeitenende“ erschien, die Existenz des letzten Zeitalters, das sich im Stande zeigt, Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen zu vernichten. Dem Gedankenstrang folgend rückt die potenzielle Auslöschung der Menschheit durch die Omnipräsenz der entsprechenden Möglichkeiten näher an die Gegenwart. Jeden Tag könnte es soweit sein – eine Erwägung, die Anfang der 1960er Jahre so realistisch erschien wie wohl noch nie zuvor. Angesichts der Kubakrise hätte es 1962 zu einem Atomkrieg zwischen den USA und der damaligen Sowjetunion kommen können, eine Bedrohung, die im Folgejahr haarscharf abgewendet werden konnte. Zum „Ende der Zeiten“ ist es (noch) nicht gekommen. Anders‘ Reflexionen über die Endzeit hingegen bleiben aktuell. Sie hallen in Cerhas Komposition Und Du… nach, die sich einer Zusammenarbeit der beiden verdankt.
Außenansicht
Ein humanistisch gesinnter Homo politicus mag Cerha sein, ein durch Politik angetriebener Künstler ist er jedoch nicht. Dem Bestreben, Musik zu funktionalisieren, sie in den Dienst ideologischer Botschaften zu stellen, lehnt der Komponist grundsätzlich ab. Werke, die denn unverblümt die politischen Kontexte ihrer Entstehungszeit spiegeln, sucht man vergeblich in seinem Œuvre. 1963 kam es allerdings zu einer singulären Ausnahme. Die Komposition Und Du… verdankt ihre Existenz der allgegenwärtigen, vom Kalten Krieg herrührenden Gefahr. Die Angst, die sie auslöste, ging auch an Cerha nicht spurlos vorüber.
Mein eigenes Betroffen-Sein von der weltpolitischen Situation und einem atomaren Wettrüsten, dessen Gefährlichkeit vor dem Hintergrund von Hiroshima klar, aber breiten Schichten der Bevölkerung nicht annähernd im heutigen Ausmaß bewusst war, hat mich damals veranlasst, mein ebenso grundsätzliches wie durch Erfahrungen begründetes Unbehagen gegenüber dem direkten Bezug von Kunst auf aktuelle Probleme nicht wichtiger zu nehmen als die Dringlichkeit, mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln zu einer Schärfung des Bewusstseins für sie beizutragen.
Friedrich Cerha
Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 230
Die „zu Gebote stehenden“ Mittel wurden 1963 durch einen außergewöhnlichen Kompositionsauftrag zur Verfügung gestellt. Der ORF veranlasste Cerha dazu, ein „radiophones“ Stück zu schreiben – eines also, das „allein über Band und Lautsprecher wiederzugeben“ sein und „einen dem Wirkungsradius des Mediums entsprechenden Hörerkreis“ erreichen und betreffen sollte.Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 230 Den Anforderungen nachkommend, machte Cerha hier eine zweite Ausnahme für sich selbst: Und Du… blieb das erste und letzte Werk, das sich nach den Vorgaben einer ausschließlichen Radiowiedergabe richtete. Die besondere mediale Gebundenheit wäre dem Stück jedoch beinahe zum Verhängnis geworden. Nachdem es im Rahmen des europäischen Rundfunkpreises „Prix d’Italia“ erfolgreich gesendet wurde, fristete das Tonband ein stummes Dasein in den Regalen des ORF – bis es versehentlich überspielt wurde. Die aufwendige Produktion schien für immer verloren. Nur ein Zufall rettete sie in die heutige Zeit: Cerha hatte eine Kopie des Bandes zuvor an Barbara Brecht-Schall geschickt, um sie von seinem Vorhaben zu überzeugen, Brechts Baal vertonen zu dürfen. Dieses 19 cm große Tonband erhielt sich – und diente als Grundlage für die spätere Rekonstruktion von Und Du… durch den ORF.
Brücke
Mit seiner Entscheidung, durch ein künstlerisches Statement auf die weltpolitisch zugespitzte Lage zu reagieren, blieb Cerha nicht allein. Zu Beginn der 1960er Jahre mehrten sich die musikalischen Reaktionen auf die atomare Bedrohung. Einen wichtigen Beitrag steuerte Krzysztof Penderecki bei. Seine 1960 komponierte Threnody to the Victims of Hiroshima für 52 Streichinstrumente erweist sich als ein stilistisch avanciertes Menetekel: Der Streicherapparat wandelt sich in einen Geräuscherzeuger, schreiende Cluster und wie von Angst getriebene Klangbilder steigen aus ihm empor, als ob sie an das Trauma von Hiroshima erinnern wollten. Pendereckis rein instrumentaler, also eher abstrakter Ansatz steht einem Kollektiv an textbasierten Stücken gegenüber, zu dem eben auch Cerhas Und Du… gehört. In Italien schuf Luigi Nono 1962 den dreiteiligen Zyklus Canti di vita e d’amore für Orchester und Gesangssolisten, basierend auf Texten von drei verschiedenen Autoren. Das Atomzeitalter wird im ersten Satz Sul Ponte di Hiroshima („Auf der Brücke von Hiroshima“) reflektiert – eine Referenz zu Günther Anders‘ Text Der Mann auf der Brücke. Tagebuch aus Hiroshima und Nagasaki, welcher der Musik zugrunde liegt. Auch in einem Werk des deutschen Komponisten Herbert Eimert kommt Anders buchstäblich zur Sprache: Das Epitaph für Aikichi Kuboyama (1960-62) thematisiert das Schicksal des japanischen Fischers Aikichi Kuboyama, der 1954 mit seinem Kutter im Südpazifik schiffte – unweit des Einschlagortes der ersten von der US-Regierung gezündeten Wasserstoffbombe. Koboyama starb nach fünf Monaten an der radioaktiven Vergiftung. In Eimerts Epitaph erklingt die Grabinschrift des Bombenopfers, die von Anders ins Deutsche übersetzt wurde. Sie wurde im Tonstudio eingesprochen und mittels Filter, Verstärker und Magnetophon kompositorisch zu einem vierkanaligen Lautsprecherstück verarbeitet. Betrachtet von der Warte elektronischer Gestaltungsmittel steht das Epitaph für Aikichi Kuboyama Cerhas Und Du… nahe. Auch hier ergeben aufgenommene Texte ein Grundmaterial, das die Komposition erzählerisch durchwirkt. Das Besondere: Am Mikrofon stand Anders selbst, als einer von fünf Sprechern.Die übrigen Sprecher waren Ernst Meister, Helmut Janatsch, Guido Wieland und Grete Zimmer. Am 30. August 1963 wurde das Stück im Großen Sendesaal des ORF Funkhauses in Wien aufgenommen. Die damaligen technischen Möglichkeiten (oder besser Limitationen) sind der Produktion eingeschrieben. In einem Manuskript bezeichnet Cerha Und Du… deshalb als „Fossil aus dem Anfang der 60er Jahre.“ Cerha, Begleittext zu Und Du…, Manuskript, AdZ, 000T0062/9 Auf der anderen Seite hätten die inhaltlichen Aussagen des Stücks seither keinen Alterungsprozess durchlebt, sie blieben aktuell.
Cerha, Libretto zu Und Du…, Typoskript, 1963, AdZ, 000T0062/18
Das Libretto ist ein Gemeinschaftsprodukt von Anders und Cerha. Wie den Niederschriften über die Entstehung zu entnehmen ist, mischte sich auch authentisches Textmaterial der Zeit hinein. „Wörtliche Zitate aus Prospekten“Cerha, Begleittext zu Und Du…, Manuskript, AdZ, 000T0062/8, welche die Atombombe bewarben, fanden auf Vorschlag Anders‘ Eingang in das Libretto. Die Reklameelemente sprechen auf makabre Weise für sich: „Eine Großmacht, die auf sich hält, kann auf zeitgemäße Waffen nicht verzichten!“Cerha, Und Du…, Autograf, AdZ, 00000062/17 oder „Die Rüstung sichert deinen Arbeitsplatz und das Wohl deiner Familie!“Cerha, Und Du…, Autograf, AdZ, 00000062/18 – verlogene Bekenntnisse zur Wirtschaftlichkeit einer massentödlichen Waffe. Eingewoben sind die Zitate in ein grob abgestecktes Szenario. Ort und Zeit der Handlung: Hiroshima, kurz nach Abwurf der ersten Atombombe. Die ‚Abdrücke‘ der Katastrophe werden gleich zu Beginn in finsteren Bildern umschrieben, zu denen die „Schatten an Ruinenwänden“ gehören: Umrisse von Menschen, die infolge der atomaren Hitze mit den Steinen verschmolzen.
Eingebrannter Schatten einer Gastankpumpe, Hiroshima (Minamimachi 1-chōme), 9.10.1945
Bildquelle: National Archives Catalog
Innenansicht
Bereits die aufwendige Radioproduktion für den ORF deutet es an: Cerhas Und Du… ist kein Seitenwerk, sondern ‚groß‘ gedacht. Es reiht sich in die ab 1959 entstandene Gruppe von Werken für großes Orchester ein, zu der besonders Fasce und der Zyklus Spiegel zählen. Hinsichtlich der instrumentalen Palette übertrumpft Und Du… gar beide bereits massig besetzten Orchesterstücke. Es gibt verschiedene Instrumentalensembles, die im Stück eingesetzt werden. Da die Anforderungen an den Apparat die übliche Orchestergröße überstiegen, wurde bei der Produktion sowohl das große ORF-Sinfonieorchester als auch Cerhas eigenes Ensemble „die reihe“ eingesetzt.
Zunächst ist das Binnenensemble aus elf menschlichen Stimmen zu erwähnen, von denen einige sprechend, andere singend agieren. Ihr Einsatz erinnert an Cerhas 1959 entstandene Intersecazioni: Auch dort ergänzen (allerdings ‚nur‘ vier) Stimmen ein Orchester und übernehmen teils instrumentale Funktionen. In Und Du… tritt die Ebene der Semantik hinzu. Weiterhin wächst das bei Cerha ohnehin oft üppige Schlagwerk zu einer bislang unerreichten Größe: Regulär sind neun Schlagzeuger im Orchester beschäftigt. Darüber hinaus gibt es jedoch auch ein autonomes Ensemble für besondere Passagen: 15 Spieler bedienen in diesen ein Arsenal an Schlaginstrumenten – eine deutliche Verbindung zum ersten von Cerhas Mouvements (1959), das mit der gleichen Besetzung aufwartet. Als dritte Besonderheit ist der Einsatz einer Hammondorgel vom Typ L100 zu nennen, die von drei Spielern bedient wird. Auch durch dieses Instrument entstehen Verbindungen zu kurz vorher entstandenen Stücken. Cerha verwendet es sowohl im dritten seiner Mouvements als auch im Ensemblestück Phantasma 63. Beide seien, so der Komponist, die einzigen Beispiele seines Werks „für ein minutiöses Festhalten aller Einstellungen der Klangregler und ihrer Modifikationen“ auf der Orgel. Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 230 Der Komponist fasst zusammen:
Die Musik, die Orchester, kammermusikalische Besetzungen, elektronische Mittel, Sprechstimmen, Singstimmen und an technischen Möglichkeiten Mischung, Filterung, Montage und Ringmodulation etc. benützt, stammt im wesentlichen aus der Klangwelt, die ich mir 1959/60 geschaffen hatte. Wie in den vorangegangenen Werken aus dieser Periode, gibt es von traditionellen Formulierungen freie Klangprozesse, die sich entwickeln, beeinflussen, behindern, stören und deren Nebeneinander und Ineinander im Ganzen wirksam ist. In Und du … traten im Dienst der Aussage vokale Elemente und eine bis zu Jazzanklängen reichende Palette von anderen Sprachmöglichkeiten hinzu.
Friedrich Cerha
Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 230
Cerhas Bezugnahme auf jene 1959/60 ins Leben gerufene Klangwelt – die der Massenaggregate, Klangflächen und -ballungen – ist nicht bloß eine annähernde. Vielmehr führt Und Du… das Quellenmaterial mehrerer zuvor entstandener Stücke zusammen und verschmilzt es miteinander. Dazu treten zahlreiche neue Erfindungen in stilistisch ähnlichem Gewand. „Die Worte ertrinken, ersticken schließlich in der Musik.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 230
En gros folgt das Stück mehreren unterscheidbaren Etappen, die sich durch verschiedene Nähe- und Distanzverhältnisse zum Text auszeichnen. Eine Art Prolog führt in das Stück ein: Atmosphärisch zählt ein Sprecher Wörter auf, die sich zu einer illustrativen Sprachkette zusammenfinden. Zwei weitere Sprecher treten hinzu, die Wörter überlagern sich und verstärken die fragmentarischen Eindrücke. Der sprachlich gemalten Kriegslandschaft folgt eine rein instrumentale Passage, die der endzeitlichen Stimmung nachspürt: Dunkle Klangfarben (initiiert durch tiefe Schlaginstrumente, die Hammondorgel und die Bespielung des inneren Korpus eines Flügels) spinnen sich unheilvoll fort, erzeugen ein Dröhnen, Raunen und entfernt hallendes Gedonner.
Cerha, Und Du…, 1. Partiturseite, Ausschnitt, 1963, AdZ, 00000062/3
Cerha, Und Du..., Beginn
Radio Symphonie Orchester Wien, Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha, Ernst Meister (Sprecher), Helmut Janatsch (Sprecher), Guido Wieland (Sprecher), Günther Anders (Sprecher), Grete Zimmer (Sprecherin), Produktion ORF, Edition Zeitton 2001
Der atmosphärischen Einleitung folgt der Kernteil des Szenarios, eine Art Hörspiel. Nach Maßgabe eines solchen steht eine Geschichte im Mittelpunkt, die sich mit wechselnden Klangschichten verknüpft. Die Suggestionskraft der Musik lässt ein lebendiges Kopfkino entstehen. Zu verfolgen ist das Schicksal von „Herr[n] Hiyoshi und seiner Familie“, augenscheinlich eine Vertretung der durchschnittlichen japanischen Bevölkerung.
Die Familie Hiyoshi, so erfährt man gleich zu Beginn, hat den Atombombenangriff überlebt, ist „verschont“ Cerha, Und Du…, Autograf, AdZ, 00000062/3geblieben. Nicht verschont bleibt sie aber vor den schaurigen Folgen. Nach und nach fallen einzelne Familienmitglieder der atomaren Strahlung zum Opfer. Es lässt sich verfolgen, wie Herr Hiyoshi erst unter Kopfschmerzen leidet, dann ins Krankenhaus muss und schließlich stirbt. Seine Tochter entbindet erst „einen toten Knaben“Cerha, Und Du…, Autograf, AdZ, 00000062/18und stirbt dann selbst an Leukämie. All diese Schicksale werden nicht am Stück erzählt, sondern verteilen sich als narrative Stationen über den Gesamtablauf. Ausschmückungen oder poetische Überhöhungen sucht man vergeblich: Berichtet wird stets lakonisch, in nüchternem Ton. Auf diese Weise lassen sich die Figuren nur aus der Distanz erleben. Die Namen der Charaktere wirken vertraut, doch ihre Gedanken- und Gefühlswelt bleibt verschlossen. So stehen sie auch für ein anonym bleibendes Leiden.
Gibt sich der Text sachlich aus, so tut dies die Musik keinesfalls. Wie im Sog erzeugt sie nuancierte Stimmungen, das Erzählte kodierend. Oft tritt die Sprache sogar gegenüber der Musik zurück. Es genügen einzelne Sätze, um den groben Handlungsverlauf zu vermitteln. Die imaginative Wirkung entfaltet sich im Zwischenraum – den „sich verdichtenden, verflüchtigenden, verfärbenden Klangaggregate[n].“ Cerha, Begleittext zu Und Du…, Manuskript, AdZ, 000T0062/3Tonmalerischer Natur sind diese hingegen nicht: „Vielmehr waren sie, obwohl vielleicht unbewusste Antworten auf die heutige Situation, autonom musikalisch und zum Teil schon vor der Festlegung des Textes konzipiert worden“, so der Komponist. „Ans Licht gebracht erwiesen sie sich als Beschwörungen des Heute.“
Die „zum Teil schon vor“ dem Text komponierte Musik tritt in der Partitur zu Und Du…für Kenner von Cerhas Werk markant hervor. Die Seiten sind buchstäblich zusammengebastelt: Deutlich erkennbar wurde der Notentext für das Orchester zurechtgeschnitten und passend aufgeklebt. Im nächsten Schritt notierte Cerha auf den großformatigen Papierbögen den Text für die Sprecher und trug ergänzende Angaben zur Musik (etwa den Tempi) ein. Die so entstandene ‚Patchwork‘-Partitur lässt sich auch als eine Art Drehbuch für die Radioproduktion verstehen. So sind die Abläufe nicht immer streng linear nacheinander notiert, sondern werden durch eingetragene Cues zusammengeführt, eine Art modulares Notationsverfahren. Auch Anweisungen für die Postproduktion im Tonstudio sind vermerkt. Sie betreffen zum Beispiel Manipulationstechniken, wie die Verfremdung des aufgenommenen Materials durch den Ringmodulator, einer elektronischen Schaltung, die in den 1960er Jahren auch extensiv von Karlheinz Stockhausen für seine Kompositionen eingesetzt wurde.
Dass das Autograf zum Teil wie ein (gleichwohl geordneter) Flickenteppich aussieht, ist nicht nur ein optischer Reiz. Die Beobachtung betrifft auch die Musik selbst. Vieles erinnert nicht nur an Cerhas Klangwelt der vorausgegangenen Jahre, es entstammt ihr auch direkt. Eine zentrale Quelle, aus der Und Du… schöpft, sind die Mouvements I-III, drei Klangstudien für Ensemble aus dem Jahr 1959. In ihnen gestaltete Cerha seine Vorstellungen einer Zustandsmusik aus, in der Bewegung nur innerhalb eines engen Rahmens möglich erscheint. Die Charaktere der drei Mouvements heben sich stark voneinander ab: Im ersten dominiert ein helles Geklapper; alle 15 Spieler sind dazu angewiesen, Schlaginstrumente zu spielen, dazu treten noch einzelne andere Instrumente. Das zweite arbeitet mit Streicherglissandi und kurzen Einwürfen der Blechbläser, während sich im dritten ein aus tiefen Klangfarben zusammengeschmolzenes Kontinuum entfaltet. Passagen aus allen Mouvements tauchen in Und Du… auf. Sie sind aus der ursprünglichen Partitur ausgeschnitten und an musikalisch adäquaten Stellen eingefügt. Als erster identifizierbarer Moment schälen sich Passagen aus Mouvement I heraus. Diese werden von den Klängen der Hammondorgel umwoben. Beide Ebenen gemeinsam ergeben ein suggestives Klangbild, das Assoziationen an atomare Strahlung weckt. Der elektronisch leuchtende Sound der Orgel etwa taucht die Musik in eine unwirkliche, gespenstische Atmosphäre, während das Klappern der Schlaginstrumente zuweilen an die akustischen Ausschläge eines Geigerzählers erinnert.
Cerha, Mouvement I, Autograf, Ausschnitt, AdZ, 00000055/6
Cerha, Mouvement I, Ausschnitt
Klangforum Wien, Ltg. Friedrich Cerha
Cerha, Und Du…, Ziffer 6
Radio Symphonie Orchester Wien, Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha, Ernst Meister (Sprecher), Helmut Janatsch (Sprecher), Guido Wieland (Sprecher), Günther Anders (Sprecher), Grete Zimmer (Sprecherin), Produktion ORF, Edition Zeitton 2001
Ähnlich wie die Ausschnitte aus Mouvement I im erzählerischen Kontext von Und Du… eine Bedeutung erhalten, werden auch die verwendeten Stellen der übrigen Mouvements subtil mit einer solchen belegt. Mit Mouvement II ließe sich etwa die zunehmende Bedrohung ‚von außen‘ (symbolisiert durch die harten Einwürfe des Blechs) assoziieren, während Mouvement III die beängstigende Dunkelheit der Katastrophenzeit musikalisch transportiert. Episodenhaft tauchen die Klangaggregate immer wieder auf, verschiedene seelische symbolisierend.
Die avancierten Ensemblestücke sind nicht die einzigen, eigenen Quellen. Noch 1963, im gleichen Entstehungsjahr von Und Du…, entsteht mit Phantasma 63 das zweite Werk, in dem Cerha von der Hammondorgel Gebrauch macht. Auch dieses Ensemblewerk sickerte in den Klangkosmos des Radiostücks ein und prägte viele der markanten Orgelpassagen – insbesondere jene, die durch die aparte Kombination von zwei Piccoloflöten und drei Bassklarinetten angereichert sind. Schließlich scheint auch die Welt der Spiegel an mehreren Stellen durch sich prozesshaft entwickelnde orchestrale Klangflächen durch. Im letzten Teil der Komposition stellt Cerha gar ganze Partiturseiten aus Spiegel II und Spiegel III zusammen und leitet so in den Schluss über – eine Beobachtung, welche die Dimensionen des Projekts, seine vielseitige Vernetzung noch einmal vor Augen führt.
Zwei ganz andere Klangwelten treten im Stück ebenso mit großer Wichtigkeit episodisch hervor. Die eine ist aus rein elektronischem Material gebaut. Cerhas Erfahrungen auf diesem Gebiet verdichteten sich zu Beginn der 1960er Jahre, als er bereits an den Tonband-Zuspielungen für einige Sätze der Spiegel gearbeitet hatte. In Und Du… fließt dieses Know-how ein. Neben der nachträglichen Bearbeitung von Sprache spielte auch die Herstellung von elektronischen Klangtexturen eine Rolle. In einer markanten Episode werden Sinustöne mit verschiedenen Frequenzen gemischt – ein Klangsymbol des Kalten Kriegs, das an frühe Computertechnik und die industrielle Machart der Atombombe erinnert. Unterlegt ist die Passage von den Berichten eines Sprechers, der die Warnungen von Wissenschaftler_innen und Betroffenen ins Gedächtnis ruft. Die Sinustöne gehen danach über in ein massenorchestrales Crescendo, das dramaturgisch den Tod von Herr Hiyoshi vorbereitet.
Cerha, Und Du…, 14. Partiturseite, Ausschnitt, 1963, AdZ, 00000062/14
Cerha, Und Du..., Ziffer 24
Radio Symphonie Orchester Wien, Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha, Ernst Meister (Sprecher), Helmut Janatsch (Sprecher), Guido Wieland (Sprecher), Günther Anders (Sprecher), Grete Zimmer (Sprecherin), Produktion ORF, Edition Zeitton 2001
Die stilistisch sichere Artikulation und Tongebung in der Radioproduktion lässt erkennen, dass für die Aufnahme professionelle Jazzinterpreten ausgewählt wurde. In Interviews berichtete Cerha mehrfach über eine von ihm eingesetzte Bigband (nähere Informationen dazu sind jedoch nicht bekannt).Vgl. Interview mit Friedrich und Gertraud Cerha im Rahmen von „Cerha Online“, 10.9.2019
Wenngleich sich Vieles an den Jazzpassagen zweifelsohne aus der Klangaura des Genres ableitet, handelt es sich jedoch nicht um genuinen Jazz. Dies ist zum Beispiel an der Kontrabassstimme zu erkennen: Immer wieder tauchen hier Figuren auf, die an einen Walking Bass erinnern. Ein solcher hätte etwa in der Stilistik des Swing die Aufgabe, den metrischen Puls zu erzeugen – bei Cerha fehlt dieser jedoch. Seine Rhythmusgruppe agiert verhältnismäßig frei, allein die räumlich gedachte Notation verrät dies.
Cerha, Und Du…, 17. Partiturseite, Kontrabassstimme, AdZ, 00000062/17
Es handelt sich bei Und Du… insgesamt um ein Spiel mit Andeutungen. Typisches scheint kurz auf, um wieder zu verschwinden. In Teilen erinnert die Überformung von Stilen an die Nachempfindungen von Klezmer-Musik im später komponierten Riesen vom Steinfeld. Mit der Oper teilt Und Du… auch die forcierte Mehrdimensionalität der Klangsprache. Wie vielschichtig, teils sogar collagenhaft, das Radiostück gedacht ist, zeigt nicht zuletzt die Einbettung der Jazzpassagen. Sie tauchen in einem Umfeld auf, das von Ausschnitten aus dem ersten und zweiten Satz der Mouvements dominiert wird. Das buchstäbliche Aufkleben dieser Ausschnitte in der Partitur ist nicht nur als ein Akt der Produktion zu verstehen, sondern auch als einer der Formgebung, der kompositorischen Montage. Die Klangebenen wechseln ohne Übergänge, sind quasi als verschiedenartige Bauteile zu einer Gesamtinstallation gefügt.
Cerha, Und Du…, 17. Partiturseite, 1963, AdZ, 00000062/17
Cerha, Und Du…, Ziffer 27
Radio Symphonie Orchester Wien, Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha, Ernst Meister (Sprecher), Helmut Janatsch (Sprecher), Guido Wieland (Sprecher), Günther Anders (Sprecher), Grete Zimmer (Sprecherin), Produktion ORF, Edition Zeitton 2001
Dennoch zeigt sich auch hier das für Cerha typische Bestreben, trotz offensichtlicher Unterschiede Verbindendes aufzusuchen. Die punktuellen Klänge der Jazzcombo etwa finden sich in anderer Form auch in den zitierten Ausschnitten aus Mouvement I und II. Im Verbund entsteht eine neue organische Einheit, die trotzdem verschiedene Sprachen kennt.
Sprache als solche tritt in Und Du… indes erst am Schluss in reiner, von Musik unberührter Form auf. Nachdem Mouvement III als letzte vernehmbare Musik ausgeklungen ist, schließt sich der eingangs thematisierte Text von Günther Anders über die „Zeit des Endes“ an, vom Autor selbst gelesen. Letztlich, so Cerha, könne „keine Form von ‚künstlerischer Gestaltung‘ den Dimensionen des Problems – der mit ihm verbundenen Gefahr und dem mit ihm verbundenen Grauen – angemessen“ sein.Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 231 Die Musik verstummt deshalb zwangsläufig. Anders‘ Worte hingegen sind für Cerha „das Präziseste, was bis zum heutigen Tag zur atomaren Situation gesagt worden ist und gesagt werden kann.“
Cerha, Und Du..., Schluss
Radio Symphonie Orchester Wien, Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha, Ernst Meister (Sprecher), Helmut Janatsch (Sprecher), Guido Wieland (Sprecher), Günther Anders (Sprecher), Grete Zimmer (Sprecherin), Produktion ORF, Edition Zeitton 2001