Verzeichnis
Verbrannte Menschenwürde
Jahrlang ins Ungewisse hinab
Und Du…
Flugblatt um 1550
Bildquelle: Wikimedia
Ob Goethes Faust, Mussorgskys Eine Nacht auf dem kahlen Berge oder zahlreiche Gemälde, wie das folgende von Louis Boulanger –
der Hexensabbat beflügelt seit Jahrhunderten die künstlerische Fantasie.
Lithografie, 20 x 26,9 cm
Bildquelle: MET Museum
Wo fantasievolle Ausschmückungen der dämonischen Szenerie in der Kunst vielfach zu reizvollen Ergebnissen führten, da verursachten sie in der Realität Leid und Elend. Die Vorstellung eines Hexensabbats als tatsächliche Begebenheit trug einen gehörigen Anteil zur historischen Hexenverfolgung bei. Der Hexerei beschuldigte Menschen sahen sich extremer Qualen ausgesetzt. Unter Folter zwang man sie, die Rituale des Hexensabbats zu beschreiben sowie die Namen anderer Personen zu nennen, die sie beim Teufelstanz gesehen haben mögen. Dem Schmerz nachgebend fielen die Namen – und die Jagd auf andere Hexen begann weite Kreise zu ziehen. Aus einzelnen Prozessen wurde so schnell ein blindwütiger Wahn der Menschenverfolgung. Er steht im Zentrum von Cerhas Chorwerk Verzeichnis.
Außenansicht
Neuorientierung, Befreiung von Altlasten, kühne Visionen der Zukunft: Diese Beschreibungen passen zu den ausgehenden 1960er Jahren. Allerorts spitzten sich politische Spannungen zu und Rufe nach einer liberalen, antiautoritären und friedlichen Gesellschaft wurden lauter. Ein sorgloses Fortführen des bisherigen Zusammenlebens schien schwer vorstellbar.
Für Cerha brachten jene Jahren gleichermaßen ein Erneuern mit sich – eines jedoch, das sich aus stiller Reflexion ergab. Arbeitete er bis 1967 noch mit großer Konzentration an seinen Exercises, so fällt auf, dass im turbulenten Jahr 1968 kein einziges Werk entstand. Ein ungewöhnliches Schweigen nach der geschäftigen Kreativität der vorausgegangenen Phase. Im Folgejahr änderte sich die Lage. Gleich mehrere zentrale Kompositionen entstanden. Zu ihnen gehörten mit der Langegger Nachtmusik I und dem Catalogue des objets trouvés zwei originelle Ensemblestücke. Zudem vollendete Cerha ein Werk für gemischten Chor ohne instrumentale Begleitung: das Verzeichnis.
In vielfacher Hinsicht war gerade die Komposition eines neuen Chorstücks für Cerha eine Besonderheit. Die letzte Arbeit für A-capella-Chor lag immerhin knapp 15 Jahre zurück, als der Komponist den Zehn Rubaijat des Omar Chajjam ihren letzten Schliff verpasste. Auffällig zugleich: der Umgang mit Sprache. Zwar beinhalteten noch die Exercises Vokalsolisten und Sprecher, das Libretto basierte aber auf einer experimentellen, eigens für das Stück geschaffenen Kunstsprache. Ähnliches galt für vorausgegangene Stücke wie Relazioni fragili oder Intersecazioni, in denen virtuos mit nonsemantischen Lauten operiert wurde. Dem Verzeichnis hingegen lag zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder ein Text zu Grunde. Cerhas „langjährige Reserven gegenüber dem ‚Vertonen‘“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 238 eines solchen schienen ausgehebelt zu sein – ein Sachverhalt, der auch mit dem Text selbst zusammenhängt…
Brücke
Den Text für sein neues Chorwerk fand Cerha, ohne zu suchen. Ursächlich war ein österreichischer Almanach mit dem Titel „Protokolle ‘69“. Diese „Wiener Jahresschrift für Literatur, bildende Kunst und Musik“ enthielt Arbeiten namhafter österreichischer Künstler:innen, von Peter Handke, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker oder Cerhas Freunden Anestis Logothetis, Ernst Kein und Gerhard Rühm. Mitten unter den zeitgenössischen Texten befand sich ein seltsames Dokument. Sein Titel: „Verzeichnis der Hexen-Leut, so zu Würzburg mit dem Schwert gerichtet und hernachher verbrannt worden“. Es listet Personen auf, die man der Hexerei beschuldigt hatte. Auf dem Marktplatz wurden sie enthauptet und anschließend meist auf dem „Sanderranger“ verbrannt, einer Weide nahe der Stadtmauer. Diese Weide war zugleich einer der vermuteten Orte für den Hexensabbat.
Als einzigartiges historisches Dokument bezeugt das „Verzeichnis“ eine dunkle Periode der deutschen Geschichte. Anfang des 17. Jahrhunderts gab es im Hochstift Würzburg die ersten Hexenprozesse, schon bald darauf folgten wahre Wellen der Verfolgung. Das „Verzeichnis“ reicht zeitlich bis zum Februar 1629 und listet die Opfer der ersten 29 Brände auf – 157 Personen an der Zahl. Im Hochstift wurden bis ins mittige 18. Jahrhundert jedoch weitaus mehr Menschen in die Flammen geworfen, insgesamt mehr als 900. Erst 1749 endet die Serie mit der Verbrennung der Ordensfrau Maria Renata Singer von Mossau. Ihr Kopf wurde an einem Pfahl befestigt und dieser als Abschreckung aufgestellt, der restliche Körper auf einem stadtnahen Steinbruch verbrannt.
Wenngleich das „Verzeichnis“ den Anschein erweckt, das Hochstift Würzburg sei eine der Hochburgen der Hexenverfolgung in der frühen Neuzeit gewesen, so dokumentiert es lediglich einen Ausschnitt. An anderen Orten führte man keine Protokolle, sodass die Namen der Opfer für immer im Dunkeln bleiben. Dass die Würzburger Auflistung bis heute erhalten geblieben ist, verdankt sie ihrer Aufnahme in die Bibliotheca sive acta et scripta magica („Magische Bibliothek, Handlungen und Schriften“), einem „zeitschriftenähnliche[n] Mitteilungsorgan“Wolfgang Behringer, „Bibliotheca Magica“, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, herausgegeben von Friedrich Jaeger, http://dx.doi.org/10.1163/2352-0248_edn_COM_246871, das ab 1738 vom Oberpfarrer und lutherischen Superintendenten Eberhard David Hauber herausgegeben wurde. Gegenstand von Haubers Bibliotheca waren „Nachrichten und Urtheile von solchen Büchern und Handlungen, welche die Macht des Teufels in leiblichen Dingen betreffen“ – so verkündet es der Untertitel. Einzuordnen ist die Edition in früh-aufklärerische Absichten, die Ausmaße eines verheerenden Aberglaubens schriftlich festzuhalten und miteinander vergleichen zu können. Die Bibliotheca „stellt auf breiter anthropologischer Ebene […] Bausteine zu einer Geschichte der Magie bereit“Wolfgang Behringer, „Bibliotheca Magica“, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, herausgegeben von Friedrich Jaeger, http://dx.doi.org/10.1163/2352-0248_edn_COM_246871 und beleuchtet dabei einen Zeitraum vom 14. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Historische Dokumente der Hexenverfolgung ziehen sich als Leitfaden durch die „Stücke“ (so nennen sich die einzelnen Bände). Gleich im ersten wird die sogenannte „Hexenbulle“ des Papstes Innozenz VIII. von 1484 abgedruckt, ein Dokument, mit dem zwei deutsche Inquisitoren die Menschenjagd legitimierten und wenig später im „Hexenhammer“ popularisierten, dem „einflussreichsten Handbuch zur Hexenverfolgung“Wolfgang Behringer, „Bibliotheca Magica“, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, herausgegeben von Friedrich Jaeger, http://dx.doi.org/10.1163/2352-0248_edn_COM_246871 Das Würzburger „Verzeichnis“ wurde schließlich 1745 im 36. Stück der Bibliotheca abgedruckt. Es zählt zu den letzten Dokumenten, die Hauber in seiner Edition veröffentlichte. Ohne seine Überlieferung wäre das Protokoll der menschlichen Verbrechen wohl nicht ans Licht geraten.
Innenansicht
Einen bürokratischen Text einem Musikstück anzuverwandeln stellt besondere Aufgaben. Der Mangel an Poetik beispielsweise, die Distanz der Sprache zum Künstlerischen, ist zunächst ein widerständiges Element. Gerade die kühle Neutralität des „Verzeichnis“ motivierte Cerha jedoch, sich des Textes anzunehmen. „Sein nicht-reflektierender Charakter“ werfe „die unverändert aktuelle Frage, wie lange Menschen einander verurteilen und morden wollen, mit besonderer Deutlichkeit auf“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 238, so der Komponist. Eine andere Frage ergibt sich zwangsläufig: Ist Cerhas Verzeichnis eine politische Musik? 1969, zur Zeit der Entstehung, steht die Welt in Flammen. Dass sich die globalen Brandherde der ausgehenden Dekade in den beschworenen Bränden des frühen 17. Jahrhunderts spiegeln, ist ein naheliegender Gedanke. Dennoch ist eine solche Verortung zu kurz gedacht. Die politische Anklage Cerhas ist vielmehr als der Zeit enthobene Allegorie zu verstehen, die umso mehr Aussagekraft besitzt. Dass entfernte Zeiträume dazu taugen, Allgemeingültiges besser anschaulich zu machen als gegenwärtige verdeutlicht auch Cerhas Rattenfänger, dessen Handlung im 13. Jahrhundert spielt, sich aber mühelos auf andere Epochen übertragen lässt. Gleichermaßen verbirgt sich im Text des „Verzeichnis“ ein sinnbildliches wie zeitloses Dokument des menschlichen Missbrauchs.
Wie aktuell die Aussage des Brandprotokolls auch um 1969 war, lässt sich am prominenten Kriminalfall der Fränkin Anneliese Michel verstehen. Michel litt ab den frühen 1970er Jahren an epilepsieartigen Anfällen und schweren Wahrnehmungsstörungen, die mutmaßlich einer paranoiden Psychose zuzuschreiben waren. Angestachelt von zwei zu Rate gezogenen Pfarrern glaubten ihre streng religiösen Eltern, dass ihre Tochter von Dämonen besessen sei. Ausgerechnet der damalige Bischof von Würzburg – dem Ort der früheren Hexenverbrennungen – veranlasste daraufhin zahlreiche Durchführungen des großen Exorzismus, einem katholischen Ritus für die Teufelsaustreibung. 67 dieser auslaugenden Riten wurden bis zu Michels Tod im Jahr 1976 an der erkrankten jungen Frau durchgeführt. Ihr Ableben durch Unterernährung und körperliche Schwächung hätte durch eine angemessene Versorgung verhindert werden können – stattdessen trieb sie ihr Umfeld in den Tod. Symbolisch demonstriert Michels Fall das Überdauern der Brandmarkung und Folter im Laufe der Geschichte.
Das „Verzeichnis“ zeigt beispielhaft auf, wie weit das Spektrum der Verfolgten potenziell war (und im übertragenen Sinne sein kann). Vor keiner Menschengruppe machte der Vorwurf der Hexerei Halt, er durchgriff alle Gesellschaftsschichten. Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Alte, Männer und Frauen, Mittellose, Bürgermeister und Adlige wurden auf den Scheiterhaufen verbrannt. Eine schonungslose Aufhebung der Unterschiede ist auch dem Protokoll zu eigen. „Ein klein Mägdlein von 9 oder 10 Jahren“ und ihr noch kleineres „Schwesterlein“ sind die jüngsten aufgelisteten Opfer. Sie wurden im 13. Brand gemeinsam mit dem „alte[n] Hof-Schmidt“ und einem „alt[en] Weib“ den Flammen übergeben. Exemplarisch ist an diesen Personen nicht nur zu erkennen, wie gleichgültig die Lebensalter der Beschuldigten waren, sondern auch, wie die Auflistung zwischen persönlich bekannten Menschen und Fremden changiert. Soweit bekannt, listet das „Verzeichnis“ die Stände der Verbrannten auf, teils sogar mit Familiennamen. So finden sich etwa „des Herrn Domprobst Vögtin“, „die dicke Schneiderin“, „das Göbel Babelin, die schönste Jungfrau in Würtzburg“, „der Silberhans, ein Spielman“, oder „ein geistlicher Doctor, Meyer genannt“ in der Opferliste – allesamt charakterisierte Personen. Neben ihnen tauchen jedoch ebenso Menschen auf, deren ‚Gesichter‘ gänzlich unkenntlich bleiben. 26 Personen sind explizit als „Fremde“ benannt – meist mischen sich diese unter bekannte Personen (eine Ausnahme macht der siebte Brand, dem ausschließlich Fremde zum Opfer fallen). Viele andere sind hingegen so spärlich beschrieben, dass sie anonym bleiben. In dieser Weise schwankt die Auflistung zwischen persönlich definierten, zum Teil nachvollziehbaren Schicksalen und Gesichtslosigkeit.
Bibliotheca sive acta et scripta magica, 36. Stück, „Verzeichnis“
Cerha, Verzeichnis, Libretto zur Komposition, Typoskript, 1969, AdZ, 000T0072
Cerhas musikalische Umsetzung gründet nicht zuletzt auf Vielfalt, die auf 16 eigenständigen Stimmen basiert, die solistisch oder chorisch besetzt werden können. Demnach reiht Verzeichnis in die Werke der späten 1960er Jahre ein: Auch die Langegger Nachtmusik I oder der Catalogue des objets trouvés streben Diversität an – ein Weg, den Cerha mit seinen Exercises systematisch abzuschreiten begann. Um dem Text immer wieder neue Klanglichkeit abzugewinnen, wendet Cerha sowohl zeitgenössische als auch traditionelle Mittel an.
Musikalisch ist der Text so behandelt, dass er nur fragmentarisch voll verständlich wird. Trocken-deklamierendes Sprechen, Legato-Polyphonie in motettischer Technik, mechanisiert wirkende Staccato-Folgen, Sprechgesang, absinkende Glissandi auf einzelnen Worten und glissandierende Vokalisen sind die bewusst heterogenen Stilmittel in der Komposition. Die leiernde Wiederholung bestimmter Passagen entspricht dem Gleichmaß des referierten Grauens ebenso wie die Vielfalt der Mittel, aus der es immer wieder hervorkommt, auf seine ungebrochene Allgegenwart hinweist.
Friedrich Cerha
Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 238
Der Einstieg ins rund elfminütige Werk führt eine der vokalen Gestaltungsmittel modellhaft vor. In individuellen Geschwindigkeiten murmeln die acht Männerstimmen (4 Tenöre und 4 Bässe) den vollständigen Titel des historischen Dokuments. So entsteht eine dunkel gefärbte, undurchdringliche Klangtextur. Sie stimmt atmosphärisch auf das ebenso undurchdringliche, nicht begreifliche Schreckensszenario ein.
Das Wortgewebe löst sich im weiteren Verlauf langsam auf. Zunächst bildet es einen Untergrund für bedächtig entstehende Gesangsphrasen, die vom ersten Brand erzählen. Schnell wird das musikalische Geschehen komplex: Cerha spaltet den aufzählenden Text in Stücke und lässt diese sich überlagern. So entsteht ein Erzählen des Neben- und Übereinanders, des Vorweggreifens und Nachhallens. Besonders gut lässt sich dies in den anfänglichen Momenten beobachten. Während zwei Altstimmen die Worte „Im ersten“ über eine weite Phrase spannen, führen zwei Soprane den Text noch während des Vorgangs weiter: „Brandt vier Personen“. Noch während diese überlagerten Zeilen fortgeführt werden, setzen nacheinander zwei weitere Melodiestränge mit neuem Text in den restlichen Frauenstimmen ein. Gleichzeitigkeit von aufeinander folgenden Abläufen ist das Ergebnis dieses Verfahrens. Zwar gibt Cerha die Chronologie des Erzählten nicht auf, doch die vernetzten Überschneidungen verhindern ein müheloses Verfolgen des Berichteten. Die Musik schwankt zwischen linearer Fortbewegung und räumlicher Bauweise.
Mit komplexen Textschichtungen, immer der chronologischen Abfolge der 29 Brände folgend, arbeitet das Werk in den meisten seiner Teile. Cerhas Umgang mit den 16 Chorstimmen verfolgt dabei verschiedene Strategien. Mal koppeln sich, wie zu Beginn, zwei Stimmen aneinander, mal trägt eine ganze Stimmgruppe einen Textteil imitierend vor (wie im Bericht des vierten Brands). An wieder anderen Stellen (ab dem neunten Brand) bilden sich stimmübergreifende Quartette. Sie tragen einen Textteil mit gleichem Rhythmus, aber auf jeweils anderen Tönen vor, sodass eigenständige, im Gesamtklang verwobene Choräle entstehen. Die Beschränkung auf diese Vertonungstechnik in einigen Teilen führt dazu, dass statt einem Chor tatsächlich vier Chöre singen. Innerhalb der Musik entstehen verschiedenartige Räume, die sich ineinander winden. Die Besingung der Opfer geschieht so multiperspektivisch und konzentriert sich auf mehrere Personen zugleich – ein auch inhaltlich adäquates Darstellungsmittel, wurden doch immer mehrere Menschen an die Pfähle der Scheiterhaufen gebunden und zusammen verbrannt. Auffällig sind auch die heraushörbaren Motivwiederholungen auf den immer gleichen Textfragmenten. Analog zur Stumpfheit des Protokolls sowie der dadurch dokumentierten Mordmaschinerie stellt Cerha mechanische Abläufe in der Musik heraus.
Cerha, Verzeichnis, 9.-12. Brand
ORF Chor, Ltg. Erwin Ortner, Produktion ORF, Edition Zeitton 2001
Ein besonderes Gestaltungsmittel des Verzeichnis sind theatralische Elemente. Einen Hinweis auf die visuelle Wirkung einer Aufführung ist bereits dem Titelblatt des Autografs zu entnehmen. Dort sind – ungewöhnlich für Cerha – auch Angaben zur Konzertkleidung notiert. Dem folgend sollen die Interpreten „nicht abendlich ‚festlich‘“, „nicht historisch“ und auch „nicht uniformiert“Cerha, Verzeichnis, Titelblatt des Autografs, AdZ, 00000072/2 gekleidet auftreten. Auch gibt es eine Vorgabe zum Bühnenraum. So soll der Boden, auf dem der Chor steht„aus Holz sein“. Diese Festlegung hat jedoch rein musikalische Gründe. Nach Besingen des elften Brandes werden alle Chorsänger dazu angehalten, „mit der flachen Fußsohle gegen den Boden zu schlagen“. Zugleich richtet sich ihr Blick an dieser Stelle starr nach vorn. Zum unerbittlichen Stampfen des Kollektivs treten in dieser Passage Momente der Stille und ein beklemmendes Sprechen des Textes hinzu. Die Opfer des „kleinen Mägdeleins von neun oder zehn Jahren“ und ihres „Schwesterleins“ werden schließlich von zwei Frauenstimmen solistisch vorgetragen – ein Mittel der Identifikation.
Die Beleuchtung einzelner Schicksale – in den hervorgehobenen Verbrennungen der kleinen Mädchen erkennbar – ist im Verzeichnis nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme. Dort, wo der Text mehr über die Geopferten erzählt, als er es gewöhnlich tut, stellt auch die Musik die persönlichen Geschichten heraus. Oftmals geschieht dies, indem sich eine einzelne Stimme vom Rest des Chores ablöst und den Text sprechend vorträgt, der individuellen Tönung des Gesagten folgend. Auf diese Weise werden etwa die Schicksale einer „Harfnerin“ dargestellt (womit im altdeutschen Sprachgebrauch tatsächlich eine Harfenspielerin gemeint ist), die „sich selbst erhenket“Cerha, Verzeichnis, 26. Partiturseite, AdZ, 00000072/27hat oder einer „Beckin“ (= Bäckerin), die „lebendig verbrannt“Cerha, Verzeichnis, 29. Partiturseite, AdZ, 00000072/30 wurde. Im Protokoll des 16. Brandes wird das Schicksal eines Jungen besonders ausführlich geschildert. Es heißt dort: „Ein Edelknab von Ratzenstein, ist Morgens um 6 Uhr auf dem Cantzley-Hof gerichtet worden und den ganzen Tag auf der Pahr stehen blieben, dann hernacher den andern Tag mit den hierbeygeschriebenen verbrannt worden.“ Cerha lässt einen einzelnen Sopran diese Worte „in einem verkündenden Charakter“Cerha, Verzeichnis, 23. Partiturseite, AdZ, 00000072/24 vortragen. Die restlichen Chorstimmen bilden im Untergrund der Rezitation ein klangliches Kaleidoskop aus Sprachfetzen. Es verschmelzen hier auch Zeiträume des Protokolls miteinander: Die Altstimmen tragen einander imitierend die Opfer des 16. Brandes vor, jenen Gleichgesinnten des verbrannten Knaben. In den Männerstimmen hingegen geistern echoartig noch die Berichte über die jüngst geschehenen Brände umher: Die Tenöre erzählen vom 15., die Bässe vom 14. Brand. Stoische Wiederholungen des schon Vergangenen bekräftigen an dieser Stelle die traumatische Nachwirkung der Gewaltakte.
Dem Hervorheben einzelner kleiner Dramen stehen auf der anderen Seite musikalische Gestaltungen entgegen, welche die Masse der Opfer betonen. Mit fortschreitender Brandzahl steigert sich die Musik dabei fast in den Wahnsinn. Zunehmend entkoppeln sich die Stimmen voneinander und münden in die Individualität. Diese Verdichtungstendenz führt so weit, dass ab einem bestimmten Punkt die volle Sechzehnstimmigkeit ausgeschöpft ist. Jede Stimme berichtet von anderen Opfern, ein überbordender Strom an Sprache bahnt sich seinen Weg. In diesen Strom fließen Cerhas kompositorische Erfahrungen mit musikalischen Massengebilden deutlich ein. Dramatisch bäumt sich der vielstimmige Schwall auf – man mag an die rasende Erregtheit aufgebrachter Würzburger, aber auch an die niederwalzende Kraft großer Menschengruppe im allgemeinen denken.
Nach der musikalischen Berichterstattung aller 29 Brände schließt sich in Cerhas Verzeichnis ein bedeutungsvoller Epilog an. Dieser beginnt nach einer Generalpause damit, dass ein Tenor das Ende der Aufzeichnung verkündet: „Datum, den sechzehnten Februar Sechzehnhundertneunundzwanzig.“Cerha, Verzeichnis, 53. Partiturseite, AdZ, 00000072/54 Die Schlusszeile des historischen Protokolls, „Bisher aber noch viel unterschiedliche Brändte gethan worden“, wird schließlich zur Keimzelle einer langsam im Nichts versinkenden Schlusspartie. Symbolisch wird alles musikalische Geschehen allmählich vom Wort „viel“ angezogen. Aufeinander folgend beginnen die Chorstimmen, das Wort immer und immer wieder auf verschiedenen Anfangstönen zu singen und diese mittels Glissandi absinken zu lassen. Ähnlich wie in Cerhas Klangkompositionen, etwa Fasce oder Spiegel, entsteht so aus einer einzigen musikalischen Zelle ein massiges Klangnetz, das zwar innerlich bewegt, aber äußerlich weitgehend statisch erscheint. Unmerklich entwickeln sich aus den absinkenden Tonschichtungen weitere glissandierende Bewegungen, die sich gänzlich vom Wort ablösen. Nur auf Vokalen gleiten die 16 Stimmen am Ende dieses Prozesses gemeinsam (und doch jede für sich) durch den Tonraum. Die ortbaren Bewegungen verwischen gleichsam in der Ferne: Immer leiser und langsamer setzen sich die schlängelnden Linien fort. Gegen Ende verlassen zunächst die Bässe, dann die Tenöre das atmosphärische Klangband. Im vierfachen piano ist am Schluss nurmehr eine flimmernde Fläche der Frauenstimmen vernehmbar – ein Tonsymbol der letzten lodernden Flammen?
Cerha, Verzeichnis, Schluss
ORF Chor, Ltg. Erwin Ortner, Produktion ORF, Edition Zeitton 2001
Obwohl am Ende des Verzeichnis die Sprache ganz verstummt, transportiert die Musik dennoch eine Bedeutung. Vielleicht ist diese für die Empfindung des vermittelten Inhalts noch eindringlicher als die zuvor geschilderten Brände. Der Flut an Mitteilungen steht hier eine buchstäblich sprachlose, innerlich umherirrende Klangfläche entgegen. Sie spiegelt die Unerklärlichkeit der Schreckenstaten besser wider als alle wörtlichen Benennungen. In seinem späteren Chorwerk Nichtigkeit ist alles nach einem Text aus dem Alten Testament greift Cerha die ruhigen Glissandi als Reminiszenz an sein Verzeichnis wieder auf. Dort stehen sie für die „uferlose, stille Resignation“ – ein Zeichen der Ohnmacht, das auch das Hexenprotokoll beschließt.