Enjambements
Spielräume
Spiegel
Relazioni fragili
Friedrich Cerha, Ohne Titel
1998, Mischtechnik auf Spanplatte, 65,2 x 110 cm
Aufgefundene Objekte zu montieren: das bestimmt einen Großteil von Cerhas bildnerischem Werk. Oft ist hier die Balance zwischen Ordnung und Unordnung bedeutsam – so auch in einem Bild mit geometrisch angeordneten, monochrom übermalten Stäben. Das Verfahren der Durchbrechung lässt auch musikalische Assoziationen zu: etwa zu Cerhas Enjambements.
Foto: Christoph Fuchs
Sie waren Zeitgenossen mit ebenso vielen Gemeinsamkeiten wie Unterschieden:
Friedrich Cerha und Karlheinz Stockhausen.
Probe der „reihe“ zu Stockhausens „Kurzwellen“
Aus: Zu Gast bei Friedrich Cerha, Dokumentation ORF, Wien 1975
Die Archivaufnahmen aus den 1970er Jahren zeigen eine Probe der „reihe“ zur Einübung von Stockhausens Kurzwellen (1968). Cerha kontrolliert die Abläufe am Mischpult – ein seltenes Bild. Während das Kölner „Studio für Elektronische Musik“ Karlheinz Stockhausen schon 1951 experimentelle Möglichkeiten bot, wurde ein solches in Wien erst sieben Jahre später als Teil der Musikakademie aufgebaut. Die künstlerische Leitung wurde u.a. Cerha anvertraut, der 1963 den „Lehrgang für Elektroakustische Musik“ einrichtete. In diesem Zuge holte er auch Stockhausens Musik nach Wien, nutzte sein Ensemble, um Stücke des rheinischen Avantgardisten einzustudieren. Ihn hatte er bereits einige Jahre zuvor in Darmstadt kennengelernt. Ein musikalisches Zeugnis dieser persönlichen Verbindung gibt es ebenfalls: Das Ensemblewerk Enjambements entstand 1959 in einem von Stockhausens Kurse.
Außenansicht
In den 1950er Jahren verzeichnete Cerhas persönliches Netzwerk den größten Zuwachs. Er lernte unzählige internationale Künstler:innen kennen, größtenteils auf dem Parkett der Darmstädter Ferienkurse. Unter ihnen befanden sich Pierre Boulez, Luigi Nono, Sylvano Bussotti, György Ligeti, Krzysztof Penderecki, Franco Evangelisti „und viele andere.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 33 Zu einigen, etwa zu Boulez und Ligeti, intensivierte sich die Beziehung später, es entstanden wertvolle Künstlerfreundschaften. Andere Kontakte waren weniger langlebig, doch nicht minder nachhaltig. Die Begegnung mit Stockhausen, Darmstadts Galionsfigur, gehört dazu. Eine erste Wegkreuzung gab es schon in Wien: Auf Einladung der Universal Edition war Stockhausen einmal als international bekannter Komponist zu Gast und fand so auch den Weg zur österreichischen IGNM (Internationale Gesellschaft für Neue Musik), bei der Cerha verkehrte. Die Begegnung war jedoch alles andere als selbstverständlich, denn Stockhausens Besuch zählte zu den großen Ausnahmen: In Wien waren Vertreter:innen der Avantgarde nur selten präsent. So musste Darmstadt zum letzten „Türöffner“ werden„Wenn wir nichts tun, geschieht gar nichts“. Friedrich und Gertraud Cerha im Interview, https://van-magazin.de/mag/friedrich-gertraud-cerha/ Wirklich warm lief die Beziehung zwischen Cerha und Stockhausen aber auch dort nicht. Ein Grund dafür mag in den unterschiedlichen Eigenarten beider Komponisten liegen. Mit Cerhas gelassen-zurückhaltenden, zugleich gesund misstrauischen Charakterzügen konnte der temperamentvolle und direkte Stockhausen anscheinend nicht viel anfangen: „Meine kritischen Fragen [haben ihn] so sehr irritiert, dass er bei meinem und seinem Freund Kurt Schwertisk Erkundigungen über mich einzog“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 33, so eine Erinnerung. Schwertsiks offene und schelmische Art brach das Eis zwischen österreichischen und deutschen Fronten hingegen schnell: Über viele Jahre verband ihn mit Stockhausen eine besondere Beziehung – trotz merkbarer inhaltlicher Differenzen, die schon bald zu Tage traten. Als sein strittiges Collagenstück Liebesträume 1961 in Darmstadt aufgeführt wurde, warf ihm Stockhausen beim Applaus ironisch ein Stück Würfelzucker zu. Darauf geschrieben: „Bitte beehren Sie uns bald wieder!“ Der sonst so ernste Stockhausen konnte also auch humorvoll sein.
Brücke
Historisch betrachtet gilt Stockhausen als ein zentraler Vertreter der seriellen Schule, dem höchste Kontrolle über das musikalische Material und ein von subjektiven Einflüssen befreiter Stil wichtig sind. In Darmstadt trat er für seine Ideale ein: Musik zu schreiben geriet nun teilweise zu einem wissenschaftlichen Akt. Reihen und Matrizen, komplizierte Formschemata und mühevolle Skizzierungen gehörten zum Komponieren wie selbstverständlich dazu. Man war überzeugt, mittels solcher Verfahren die Musikgeschichte konsequent fortzuführen, ausgehend von der Zwölftontechnik der Wiener Schule, insbesondere dem Spätwerk Anton Weberns, das als Fixstern galt. Die verbreitete Fortschrittsgläubigkeit verlief jedoch auf (zu) engen, geradlinigen Bahnen: Wann sich alternative Wege vom „orthodoxen Frühserialismus“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 222 abzweigen, schien nur eine Frage der Zeit zu sein. Mitte der 1950er Jahre mehrten sich die kritischen Stimmen. Vom „Altern der Neuen Musik“ sprach Theodor W. Adorno bereits 1954. Drei Jahre später schließlich hielt Pierre Boulez in Darmstadt seinen geschichtsträchtigen Vortrag „Alea“. Hier klagt er (der selbst zu den führenden ‚Serialisten‘ gehörte) den verbreiteten „Fetischismus der Zahl“ an, die aktuelle Tendenz „zur vollkommensten, spiegelglatten, unantastbaren Objektivität.“Pierre Boulez, „Alea“, in: Rainer Nonnenmann (Hg.): Mit Nachdruck. Texte der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik, Mainz 2010, S. 173-185, hier S. 174 Sein Gegenvorschlag: Äußerste Kontrolle solle dem sparsam dosiertem Zufall weichen. Das Werk müsse „eine gewisse Anzahl möglicher Fahrbahnen bieten, und zwar vermittels sehr präziser Vorkehrungen, wobei der Zufall die Rolle einer Weichenstellung spielt, die im letzten Augenblick eintritt.“ In Anlehnung an das Wort „Alea“ für „Würfel“ zirkulierte schnell ein neuer Fachbegriff: Unter Aleatorik verstand man all jene Ansätze, die zufällige Komponenten in das Schreiben von Musik miteinbezogen. Stockhausen und Boulez komponierten unter neuen Vorzeichen jedoch weiter seriell. Nur die „Weichen“ zwischen streng organisierten Modulen sollten flexibler gemacht werden – es entstanden Labyrinthformen durch dicht strukturierte Gebilde.
Um die dogmatische Oberfläche in Darmstadt vollends aufzubrechen, bedurfte es eines Anregers von außen. Er kam in Gestalt des Amerikaners John Cage. In seiner Figur personalisierte sich ein radikaler Gegenentwurf zur Darmstädter Schule. Zufall begriff Cage nicht bloß als Schmiermittel zwischen einem penibel konstruierten Getriebe. Er sollte zum Kern schlechthin werden. Konsequenterweise nutzte Cage das Orakelbuch I Ging, um seine Musik auszuarbeiten, er warf Münzen, schwärzte Unebenheiten auf Papier oder arbeitete mit grafisch mehrdeutigen Zeichen. Die radikale Freiheit als Teil der Musik stieß beim Publikum jedoch größtenteils auf Unverständnis. Entsprechende Erfahrungen machte auch Cerha, als er 1959 im dritten Konzert mit der „reihe“ Cages Klavierkonzert aufführte, nebst aleatorischen Werken von Sylvano Bussotti und Cornelius Cardew. Die Wiener Presse verriss das Konzert, ja verunglimpfte die aufgeführten Komponisten als Scharlatane. Aleatorik entwickelte sich wie der Serialismus zu einem Reizwort, pauschal der Substanzlosigkeit verdächtigt.
Programmheft, Ensemble die reihe, 19.11.1959, AdZ, KRIT008
Rezensionen der Wiener Presse zum ersten Aleatorik-Konzert der reihe, AdZ, KRIT008
Cages erstmaliges Auftreten in Darmstadt erlebte Cerha bei seinem zweiten Besuch der Ferienkurse hautnah mit. Seine Erinnerungen schildern die Impulskraft des Amerikaners in einem ideologischen Umfeld, führen aber zugleich vor Augen, welche Spuren die Zufallspoetik in seiner eigenen kompositorischen Haltung hinterließ:
Von entscheidender Bedeutung war neben der Auseinandersetzung mit der jungen europäischen Avantgarde und ihren Ideen für mich natürlich die Begegnung mit John Cage. In das streng seriell orientierte Darmstadt ist er 1958 wie ein Elementarereignis hereingebrochen. Die Wirkung seiner locker-hedonistischen Persönlichkeit hatte dort etwas ungeheuer Befreiendes an sich. Mich hat sein Vortrag „Lecture on nothing“ nachdenklich gemacht; die fernöstlichen Quellen seiner mentalen Haltung waren mir gleichwohl seit langem bekannt und vertraut. Letztlich hat er aber bei mir – im Unterschied zu Stockhausen etwa – keine wesentliche Änderung in meinen Einstellungen zu Kunst und Leben oder in meinem kompositorischen Denken bewirkt. Ich verdanke ihm hingegen etliche Anregungen, neue musikalische Konzepte adäquat aufzeichnen zu lernen und mir in der Folge im weitgespannten, vielfältigen Feld von „aleatorischen“ Arbeiten mögliche praktische Lösungen und grundsätzliche Positionen bewusst zu machen.
Friedrich Cerha
Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 35
Anders als im Fall Stockhausens hielt Cerha zu Cage auch in den Jahren nach ‚Darmstadt‘ Kontakt – Cage reiste mehrmals nach Wien, um dort eigene Stücke aufzuführen, u.a. wurde sein Atlas eclipticalis durch Merce Cunninghams Ballettgruppe im Museum des 20. Jahrhunderts vertanzt.Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 36. Als Komponist konnte Cerha sich mit der „New York School“, zu der neben Cage auch auch Earle Brown, Morton Feldman, David Tudor oder Christian Wolff gehörten, allerdings wenig identifizieren. In der kompositorischen Erkundung aleatorischer Möglichkeiten stand er bezeichnenderweise Stockhausen, der ein differenziertes Wechselspiel zwischen Freiheit und Kontrolle anstrebte, deutlich näher.
In seinem Kompositionskurs habe ich 1959 begonnen, ein Stück zu entwerfen, das – wie üblich – am Ende durch das dort vorhandene Ensemble aufgeführt werden sollte. Meine Vorstellungen waren aber bezüglich der rein technischen Seite sehr kompliziert und das Ergebnis dieser kurzfristigen Arbeit auch noch für mich selbst zu unbefriedigend. So ist es nicht dazu gekommen und das Projekt hat mich den Rest des Jahres weiter intensiv beschäftigt; das Ergebnis waren meine Enjambements für sechs Spieler, die ich dann 1961 auf Einladung von Pierre Boulez mit seinem Ensemble Domanine musicale in Paris uraufgeführt habe.
Friedrich Cerha
Cerha, Begleittext zu Enjambements, AdZ, 000T0053/2
Innenansicht
1959, das Jahr in dem Cerha die Komposition seiner Enjambements anging und letztmals an den Ferienkursen für Neue Musik teilnahm, war das Programm in Darmstadt von den Anregungen der Aleatorik noch deutlich geprägt. John Cage war zwar nicht persönlich anwesend, seine Werke und Ideen jedoch präsent. Auch Stockhausen hatte sich inzwischen mit aleatorischen Prinzipien auseinandergesetzt. Sein Schlagzeugstück Zyklus dominierte das Programm und wurde mehrmals aufgeführt, u.a. als Pflichtstück im „Wettbewerb um den Kranichsteiner Musikpreis.“Gianmario Borio und Hermann Danuser (Hgg.): Im Zenit der Moderne, Bd. 3, Freiburg i.B. 1997, S. 599 Erstmals brachte es Christoph Caskel zu Gehör, mit dem sich Cerha anfreundete. Er kam im Januar 1961 auch nach Wien, um im Rahmen der „reihe“-Konzerte die österreichische Erstaufführung von Zyklus auf den Weg zu bringen. Für Stockhausens Verständnis der Aleatorik ist das Werk symptomatisch. Das Stück erkundet Verbindungen zwischen „dem ganz Determinierten und dem extrem Freien.“Karlheinz Stockhausen, Werkeinführung zu Zyklus, https://www.universaledition.com/karlheinz-stockhausen-698/werke/zyklus-5874 Eine Interpretation erfordert also mehr als konventionelles Einstudieren.
O.A., „Vierzehn Koffer Schlaggerät – das war dem Zoll zuviel“, Neues Österreich, 19.1.1961, AdZ, KRIT0008/89
Der Balanceakt zwischen Festlegung und Zufall war gegen Ende der 1950er Jahre ein brandaktuelles Thema in Fachkreisen. Zum Gegenstand wurde er auch in Stockhausens Kursen in „praktischen Kompositionsübungen“, die er unter Mitwirkung dreier Interpreten gestaltet: Christoph Caskel (Schlagzeug), Severino Gazzelloni (Flöte) und David Tudor (Klavier). „Jeder Teilnehmer hatte sein eigenes Zimmer, in dem er ungestört arbeiten konnte“, erinnert sich Cerhas Freund Kurt Schwertsik, der ebenfalls am Kompositionsseminars teilnahm.Kurt Schwertsik, Was & wie lernt man?, Wien 2020, S. 102 „Stockhausen besuchte jeden Tag alle Studenten in ihren Zimmern, um den Fortgang der Arbeit zu beobachten und zu kommentieren.“ Am letzten Tag der Ferienkurse kamen die entstandenen Werke zur Uraufführung – moderiert von Stockhausen. Alle präsentierten Kompositionen waren auf das Instrumentarium Schlagwerk, Flöte und Klavier beschränkt. Das erklärt, weshalb Cerhas Enjambements damals nicht zur Aufführung kamen. Zwar sind Flöte und Schlagzeug Bestandteil des Ensembles, doch die Besetzung wucherte während des Arbeitsprozesses aus. Zwei Blechblasinstrumente (Trompete und Posaune) und zwei Streicher (Violine und Kontrabass) ergaben ein Sextett.
Die Endfassung der Partitur beschäftigte Cerha bis ins Jahr 1960 hinein. Ein Grund für die akribische Ausarbeitung liegt in der neuartigen Niederschrift der aleatorischen Musik. Bis dato hatte Cerha keinerlei Zufallskomponenten in seine Werke einfließen lassen. Enjambements sind das erste und zugleich radikalste Werk dieser Art. In zeitnah entstandenen Kompositionen wie Intersecazioni oder den Spiegeln ist Aleatorik lediglich ein episodisches, am Rande wirkendes Gestaltungsmittel. Die Partitur der Enjambements hingegen verschreibt sich dem Zufall in multidimensionaler Hinsicht. Sie ist nicht linear zu lesen, sondern besteht aus mehreren Blättern, die zeitlich zu koordinieren sind. Die Konstituenten und die Mechanik der Komposition lassen sich am besten mittels einer Spielbeschreibung erklären.
Die Spielregeln
Miteinander spielen in Enjambements zwei Parteien: Die erste Gruppe besteht aus Flöte, Violine und Schlagwerk, die zweite aus Trompete, Posaune und Kontrabass. Beide Gruppen haben unterschiedliche Funktionen inne. Die erste folgt wesentlich stärker als die zweite vorgegebenen, musikalischen Gebilden. Für sie sind „zwölf Strukturen“ auf einzelnen Blättern notiert. Die Hälfte dieser Blätter ist „weitgehend determiniert“, in der anderen Hälfte „sind Tonhöhen- und Zeitverhältnisse nicht exakt fixiert.“Cerha, Begleittext zu Enjambements, AdZ, 000T0053/3 Wie die zwölf Strukturen genau aufeinanderfolgen, stellt Cerha frei – der Ablauf wird „für jede Aufführung vom Dirigenten im Einvernehmen mit den Interpreten festgelegt, – mit der Einschränkung, dass auf jede Struktur der ersten Gruppe je eine aus der zweiten Gruppe folgen muss und bestimmte Zäsurvorschriften bestehen.“
Seine Unvorhersehbarkeit und Spannung erhält das Stück schließlich durch das Ineinandergreifen des ersten Trios mit dem zweiten. Die übrigen Instrumente sind in ihrem Spiel gewissermaßen von dem situativen Geschehen abhängig, wie Cerha erläutert:
Cerha, Begleittext zu Enjambements (I), Typoskript, undatiert, AdZ, 000T0053/3
Das interpretatorische Prinzip ‚Aktion – Reaktion‘ bestimmt maßgeblich das Spiel von Trompete, Posaune und Kontrabass. Abläufe im Einzelnen hängen jedoch nicht in der Luft, sondern folgen wiederum einem genauen Plan. Auf jeweils einem Blatt sind musikalische Aktionen dreier Sorten notiert. Sie begreifen Stichnoten und klangliche Kurzbeschreibungen der anderen Instrumente mit ein. Was auch an Klangaktion geschieht – immer muss reagiert werden. Geantwortet werden kann auf Signale des eigenen Trios (Szenario 1) oder des anderen. Wird auf das andere reagiert, so können die eigenen Klangaktionen wiederum Auslöser für andere (Szenario 2) oder isolierte Einzelaktionen sein (Szenario 3). Je nachdem, wie die Strukturen des ersten Trios angeordnet sind, ergeben sich so viele Varianten ein- und desselben Stücks. Seine Form ist grundsätzlich offen und auch die Spieldauer variabel (sie schwankt gewöhnlich zwischen 10 und 16 Minuten). Cerha betont jedoch, dass alles Notierte möglichst zu spielen sei. Nur Wiederholungen sollten vermieden werden.
Cerha, Enjambements, Blatt für die Trompete, Ausschnitt, ca. 1960, AdZ, 00000053/16
Cerha, Enjambements, Blätter E2, 1B (Tromp.), B1, 1A (Tromp.)
Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha
Die Elemente
Prinzipien der Aleatorik lösen sich nicht nur im Großen durch die mobilen ‚Bauteile‘ der Komposition ein. Auch im Detail sind Freiheiten angelegt. Besonders in den Blättern des ersten Trios (Flöte, Violine, Schlagwerk) ist nicht alles festgelegt. Allein die Tatsache, dass kein für alle verbindliches Metrum existiert, verflüssigt die Vorgänge. Die Strukturen des ersten, determinierten Typs (Blätter A1 – F1) werden jedoch dirigiert. Es gibt hier in jeder Stimme eigene Taktmodule. Ziffern über ihnen geben an, in wie vielen Schlägen das Notierte gespielt werden soll. Ein besonderes Stilmittel von Cerhas Notation ist die weitgehende Befreiung der Noten von ihren Hälsen. Damit wird angezeigt, dass es keinen strengen Rhythmus gibt. Stattdessen entsprechen die Zeitverhältnisse ziemlich genau der räumlichen Ausdehnung auf dem Notenblatt – ein Vorgriff auf die proportionelle Notation, wie sie sich in Fasce oder Spiegel findet.
Cerha, Enjambements, Blatt E1, Ausschnitt, ca. 1960, AdZ, 00000053/12
Cerha, Enjambements, Blatt E1
Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha
Noch größere Freiheiten beherrschen die Blätter des zweiten Typs (A2 – F2). Die Notenschrift ist hier viel stärker von grafischen Qualitäten bestimmt. Tonhöhen und Rhythmen sind nur angedeutet, Unterteilungen durch Taktstriche fehlen gänzlich. Bei einer Interpretation gilt es dennoch, sich an den räumlichen Verhältnissen auf dem Papier zu orientieren, dem einzigen ‚Wegweiser‘ durch die Zeit. Die Klangereignisse auf diesen Blättern entsprechen einem Konzept der Aleatorik, das sich Ende der 1950er Jahre weit verbreitet hatte. Unter dem Schlagwort „Indetermincy“ wurde es besonders von Pierre Boulez und John Cage popularisiert. Letzterer hielt 1958 in Darmstadt einen Vortrag mit gleichnamigem Titel.Gianmario Borio und Hermann Danuser (Hgg.): Im Zenit der Moderne, Bd. 3, Freiburg i.B. 1997, S. 592 Verquickt wurden seine Ausführungen mit einer anschließenden Performance seines Stücks Variations I – dieses setzt die grundlegende Idee radikal um. Nur Striche und Punkte auf übereinander zu legenden Transparentblättern geben das völlig unbestimmte Material vor. Cerha wählt im Vergleich einen Mittelweg: Seiner Notation sind konkrete Gesten und Klangvorstellungen deutlich zu entnehmen. Dennoch lässt sie für die Interpretation allerhand offen.
Cerha, Enjambements, Blatt D2, Ausschnitt, ca. 1960, AdZ, 00000053/11
Cerha, Enjambements, Blatt F2
Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha
Das Ziel
Cerha, Enjambements, Skizzen für die Violinstimme, ca. 1960
Wie viele aktuelle Phänomene, die Cerha aufgreift, lässt auch seine Beschäftigung mit der Aleatorik Eigenständigkeit erkennen. Die Enjambements können als Widerstand gegen modische Folgsamkeit gelten. Erstaunlicherweise ähneln seine Erkundungen der Aleatorik denjenigen des Serialismus. Die neuen Ansätze werden in beiden Fällen kritisch reflektiert. Hier wie dort bleiben innere musikalische Vorstellungen die oberste Maxime. Die neuen Ansätze werden in beiden Fällen kritisch reflektiert. Hier wie dort bleiben innere musikalische Vorstellungen die oberste Maxime. Das „Ordnen von Vorgestelltem“, der „Wille zu Ausdruck und Form“ sind wichtiger als der „Wille zur Befreiung“.Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 223 Dieses Prinzip erscheint gerade angesichts der avantgardistischen Techniken bedeutsam. Obwohl hochgradig verschieden neigen sowohl der Serialismus als auch die Aleatorik dazu, das komponierende Subjekt auszuschalten, Persönliches zu Gunsten des Sachlichen und Über-Individuellen zu unterdrücken. Wie die Enjambements deutlich zeigen, umgeht Cerha derartige Stolperfallen. Eine farbige Klangsinnlichkeit dominiert das Werk. Insbesondere der extensive Gebrauch von erweiterten Spieltechniken (allein für die Violine gibt es vier Arten des Pizzicato-Spiels) bereichert die jederzeit durchhörbare, transparente Oberfläche. „Profilierte Gestalten“, so wie Cerha sie in seinen seriellen Stücken herausarbeitete, gibt es auch in diesem Ensemblewerk. Sie sind jedoch elastisch, einer formbaren Knetmasse vergleichbar. Zufall erweist sich eher als Komponente der Interpretation als der Komposition. Der aleatorische Entwurf fordert die Imagination insgesamt stärker heraus als ein konventionell notierter. Doch legte Cerha klangliche Varianten fest, indem er für das Trio verschiedene Szenarien von Dynamik und Tempo ausarbeitete – er komponierte Charaktere mulitperspektivisch mitVgl. Cerha, Begleittext zu Enjambements, AdZ, 000T0053/3 Im Bereich der Klangimagination steht Cerha Stockhausen näher als Cage. Während Letzterer den Klang ohne bedeutungsaufladenden Hintersinn quasi in Reinform existieren lassen wollte, ging Ersterer von der Kraft persönlicher Vorstellungskraft aus: Das innere Hören sollte die Voraussetzung für das Komponieren sein.
Auch für die Spieler:innen von Cerhas Enjambements ergibt sich kein völliger Freiraum. Mehr als sonst müssen sie mit offenen Ohren spielen, gewissermaßen nach links und rechts hören, um Signale für das eigene Spiel orten zu können. So entsteht eine kommunikative Musik, die auch dem Werktitel nachspürt: Die Idee des Enjambements, also des Zeilensprungs wie er sich in Gedichten findet, lässt sich im Großen und Kleinen aufdecken. Als poetische Zeilen oder Verse lassen sich beispielweise die einzelnen Blätter verstehen, zwischen denen Brüche und Zäsuren bestehen. Die Reaktionen des zweiten Trios hingegen brechen die Kontinuität des ersten Trios auf, sodass kein ungetrübter Klangfluss entsteht. Selbst die eigenen Reaktionen müssen zuweilen unterbrochen werden, wenn zeitgleich ein anderes Signal ertönt, um wiederum auf dieses zu reagieren. Seinen konzeptionellen Kerngedanken fasst Cerha zusammen:
Cerha, Begleittext zu Enjambements (II), Typoskript, undatiert AdZ, 000T0053/3+4