Exercises
Musik als Wachstum
Baal
Monumentum
Blätter der „Sägezahn“-Wolfsmilchpflanze
Die „Euphorbia serrata“, auch als gezackte oder „Sägezahn“-Wolfsmilchpflanze bekannt, kommt ursprünglich aus Europa und Nordafrika. Heutzutage wächst sie auf der ganzen Welt als ‚Unkraut‘ – ihre Anpassungsfähigkeit macht sie zu einer typischen Art der Pflanzengattung.
Bildquelle: Alvesgaspar / Wikimedia
Kaum zu glauben:
eine Pflanzengattung und so viele Gestalten – es sind über 2000 Arten, die auf der ganzen Welt verbreitet sind, in Wüsten wie in Hochgebirgen.
All diese Pflanzen tragen den wissenschaftlichen Namen Euphorbie. Im deutschen Sprachraum nennt man sie Wolfsmilchgewächse. Einige gleichen Krautpflanzen, andere sehen strauchartig aus, weitere ähneln Bäumen oder gar Kakteen. Allen Arten sind ihre Stängel mit giftigem Milchsaft gemeinsam, dem sich der Name „Wolfsmilch“ verdankt. Es gibt kaum einen Lebensraum, den die Pflanzengattung noch nicht erobert hat: Über den ganzen Globus verstreut wachsen verschiedene Arten. Ihre Überlegenheit verdankt sich einer extremen Anpassungsfähigkeit an jeweils andersartige Lebensräume – ein Phänomen, das Cerha derartig faszinierte, dass er es für musikalische Überlegungen fruchtbar machte. Seine Exercises gedeihen auf diesem geistigen Fundament.
Außenansicht
Cerhas Werkentwicklung folgt oftmals den Ausschlägen eines Pendels: Nach der intensiven Durchdringung eines Interessensgebiets ist es meist der Kontrast, den der Komponist danach aufsucht. Eine große Neugierde sowie der Unwille, sich einer ideologischen Gesinnung zu verpflichten, grundieren diese Wandlungen. Ein besonders spannender Zeitraum mögen die ersten Jahre der 1960er Jahre sein. In diesen vollzieht sich ein ebensolcher Umbruch in der kompositorischen Arbeit des damals Mittdreißigern. 1961 wurde der astronomische Spiegel-Zyklus vollendet: Ein Sinfonieorchester von ungeheurer Größe, hyperdichte Klangmassen und utopische Entwürfe einer buchstäblich unerhörten Musik stehen für dieses, bis dato größte Projekt Cerhas. Die Spiegel erfüllen die Vision einer radikalen Nuanciertheit innerhalb eines musikalischen Gewebes, sie sind stilistisch im besten Sinne des Wortes rein. Eine „immer feinere Ausgestaltung eines kleinen Raumes“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 71 vermochte Cerha jedoch nicht ganz zu befriedigen: Die innerlich erlebte „Unruhe, wie ganze Städte gebaut sein könnten“ ließ sich durch sie „nicht beruhigen“ und flammte immer wieder auf. Noch während Cerha über den Spiegeln brütete, begann er im selben Jahr deshalb ein neues Projekt, beginnend mit dem Traum einer „uferlosen Musik“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 74, die „nicht rund, zufrieden und satt in ihrer Vollkommenheit“ sei. Die Weiterverfolgung dieses initialen musikalischen Geistesbildes füllte die folgenden Jahre aus. 1963 notiert Cerha schließlich, er sei „auf der Suche nach einem Titel für das ganze Werk“ auf Exercises gekommen: „Er ist mir sympathisch, weil er keine Assoziationen herausfordert – und weil er den Werkstättencharakter unterstreicht.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 75 Den zunächst vorläufigen Titel behält Cerha auch nach Fertigstellung der Komposition bei, um so dem selbst entworfenen Programm zu folgen. „Exercises sind Übungen; ihr Resultat: Erfahrung“ hält er resümierend fest, als das Werk Ende 1967 finalisiert ist.
Uraufführung von Exercises: Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha , Zentralsparkasse Wien, 26.3.1968
Brücke
Cerhas Affinität zu Naturerscheinungen, speziell solchen aus der Pflanzenwelt, manifestiert sich in den Exercises zum ersten Mal mit der konkreten Bezugnahme auf beobachtete Phänomene. Dennoch ergeben sich die hier aufdeckbaren Querbeziehungen nicht voraussetzungslos: „Schon die Frühwerke“, so der befreundete Musikwissenschaftler Lothar Knessl, „ließen erkennen, wie eines aus dem anderen wächst, mit umgestalteten Rückgriffen, Variationen im weitesten Sinne, Mutationen, imaginativ Gesetze der Natur einbindend.“ Geschult ist dieses strukturell geschärfte Entwicklungsdenken maßgeblich an der Wiener Schule. Der Gedanke des integralen Komponierens – des Entwickelns aller musikalischen Erscheinungsformen aus einer Keimzelle heraus – spielt etwa bei Arnold Schönberg eine herausragende Rolle. „Entwickelnde Variation“ nennt dieser folglich das oberste Prinzip insbesondere seiner zwölftönigen Werke, ein Verfahren, das Schönberg bereits bei Komponisten des 19. Jahrhunderts, etwa Johannes Brahms, verwirklicht sieht. Die Idee, eine Grundgestalt zu variieren und die entstandene Abwandlung dann wiederum als Ausgangspunkt für neue Variationen zu nehmen, impliziert fortwährende Veränderung unter Wahrung des allzeit Verbindenden. Herangebildet ist sie an der Ideengeschichte eines harmonikalen Weltbildes, das im Wien des frühen 20. Jahrhunderts durchaus populär war. Auch Anton Webern, mit dem sich Cerha in seiner Frühzeit ausgiebig beschäftigte, folgte ihm. Er interessierte sich insbesondere für Goethes Schrift Metamorphose der Pflanzen (1798):
Es ist immer Dasselbe, und nur die Erscheinungsformen sind immer andere. – Das hat etwas Nahverwandtes mit der Auffassung Gothes von den Gesetzmäßigkeiten und dem Sinn, der in allem Naturgeschehen liegt und sich darin aufspüren lässt. In der „Metamorphose der Pflanze“ findet sich der Gedanke ganz klar, dass alles ganz ähnlich sein muss wie in der Natur, weil wir auch hier die Natur dies in der besonderen Form des Menschen aussprechen sehen. So meint es Goethe.
Und was verwirklicht sich in dieser Anschauung? Dass alles dasselbe ist: Wurzel, Stengel, Blüte. Und auch bei den Wirbeln des menschlichen Körpers ist es nach der Anschauung Goethes ähnlich. Der Mensch hat eine Reihe von Rückenwirbeln, und alle sind verschieden voneinander und doch wieder gleich. Urwirbel – Urpflanze. – Und es ist Goethes Idee, dass man da Pflanzen erfinden könnte bis in die Unendlichkeit. – Und das ist auch der Sinn unseres Kompositionsstils.
Anton Webern
Der Weg zur neuen Musik, hg. v. Willi Reich, Wien 1960, S. 42 f.
Es ist unerlässlich, Cerhas Interesse an Botanik im Kontext der Wiener Schule zu sehen. Dennoch bilden sich in seinem Werk eigenständige und originelle Facetten ab. Obwohl Cerhas Zuneigung zur Natur seit seiner Kindheit zu einem geschärften Bewusstsein über deren Vorgänge und Geheimnisse führte, sind in den 1960er Jahren neue Impulse zu verzeichnen, die ein differenziertes Bild ergeben. In Cerhas Privatbibliothek kündet etwa das 1960 publizierte Buch Die Pflanze in Raum und Gegenraum der britischen Autor:innen George Adams und Olive Whicher, von seiner Neugier gegenüber formalen und morphologischen Aspekten der Pflanzenwelt. Adams und Whicher entwickeln Goethes These über die Bildung aus einer Grundgestalt weiter. Ihre Untersuchung konzentriert sich auf die „Wachstums- und Entfaltungsform hervorbringenden Bildekräfte“George Adams und Olive Whicher, Die Pflanze in Raum und Gegenraum, Stuttgart 1960, S.7.. Geschult am Instrumentarium der Geometrie widmen sich die beide Autoren etwa der „Entfaltungsgeste des Sprosses“, der „Urraumgestaltung“Als „Urraum“ bezeichnen die Autoren ein abstrahiertes Konzept der projektiven Geometrie, der von der „polarisch ausgeglichene[n] Gegenseitigkeit des Punktes und der Ebene“ bestimmt wird und in welchem nur „wandelbare Formtypen“ denkbar sind. Vgl. Adams und Whicher 1960, S. 39 f., dem „Ätherraum des Pflanzensprosses“ sowie der „Welt der Blüte“. Goethes Naturphilosophie wird dabei immer wieder gestreift und so als Bezugspunkt benannt. Cerhas Lektüre ihres Buchs bekräftigt einmal mehr sein Bestreben, klassische Denkweisen neu zu kontextualisieren.
Ein zentraler Ort ist für Cerha seinerzeit der Botanische Garten der Universität Wien. Hier verbringt er Stunden, nicht nur, um ihn als ‚Naherholungsgebiet‘ zu nutzen, sondern auch, um die Vielfalt der dort anzutreffenden Pflanzen zu studieren. Die mannigfaltigen Arten der Euphorbien kann er hier aus der Nähe betrachten – kein Wunder, dass die Dokumentation Zu Gast bei Friedrich Cerha teilweise vor Ort gefilmt wurden. Über das musikalische Potential seiner Entdeckung berichtet er in einer Filmsequenz:
Der Kern von Cerhas interdisziplinären Reflexionen bildet sich aus dem Konzept der Anpassung an verschiedenartige Bedingungen. „Entscheidend für die Evolution der endgültigen Gestalten und Lebensformen“ der Euphorbien sei „das Regelsystem, unter dem sie stehen (Klima und andere Umweltbedingungen)“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 80. Für ebendiese Umwelt und das Verhältnis eines Organismus zu ihr interessierte sich Cerha besonders. Nicht gänzlich loszulösen sind die botanischen Gedanken deshalb vom Gebiet der Kybernetik, deren Modelle sich der Komponist in den 1960er Jahren besonders eifrig aneignete. Beide Bereiche haben eine Schnittmenge, nämlich die Wesensverwandtschaft des Lernens und Anpassens:
Innenansicht
Sukkulentengruppe am Eingang des Botanischen Garten der Universität Wien
Bildquelle: Gugurell
Cerhas Auseinandersetzung mit den Wolfsmilchgewächsen – gepaart mit seinen Reflexionen über die Selbsterhaltungsmechanismen in abstrakten Systemen – veränderte während der Arbeit an den Exercises sein musikalisches Denken. Statt alle Möglichkeiten innerhalb eines begrenzten musikalischen Materials zu erproben, Vielfalt also in der Einheitlichkeit zu suchen (wie noch in den Spiegeln), gewann die Uneinheitlichkeit, die schillernde Buntheit zunehmend an Reiz. Mit dieser Hinwendung zur Diversität blieb Cerha in den 1960er Jahren nicht allein auf weiter Flur. En vogue wurde es in dieser Dekade, Musikmaterial aus unterschiedlichen Quellen zusammenzuführen – Komponisten von Bernd Alois Zimmermann über Lukas Foss, Mauricio Kagel oder Luciano Berio arbeiteten collagenartig, oftmals indem sie scheinbar Vergangenes zitierten. Von ihren Ansätzen unterscheidet sich Cerhas Weg jedoch. Die musikalische Sprache in Exercises bleibt originär und ist nicht von fremden Elementen durchzogen. Dennoch öffnet das Werk die Tür zur musikalischen Traditionen der Vorkriegszeit. Cerha entschied sich, entsprechende Materialien bewusst zu verwenden, um so die Tabuisierung von allem Traditionellem, die in der Neuen-Musik-Szene vorherrschte, zu durchbrechen:
Ich habe mich entschlossen, Bezüge zu traditionsgebundenem Material, die zu verschleiern, aber unter bestimmten Voraussetzungen nicht zu vermeiden sind, zunächst betont anzusprechen und habe sie in verschiedener Form und in verschiedenem Maß in meine Arbeit einbezogen. Was sich dabei heraus-kristallisiert hat, war zunehmend eine Konzentration auf den Begriff von „Komposition“ im eigentlichen Sinn, aufgesucht in verschiedenem Material.
Friedrich Cerha
Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 71
Eine Zusammensetzung von Verschiedenem – der ursprünglichen Wortbedeutung des Kompositionsbegriffs folgend – geschieht in den Exercises durch die Etablierung zweier nebeneinandergestellter Ebenen. Eine von ihnen nennt Cerha „Hauptsätze“ – sie wurden zuerst komponiert und in eine bestimmte Abfolge gebracht. In den Hauptsätzen entwickeln sich die musikalischen Gestalten auf einem imaginierten Zeitstrahl der Evolution. Diese Entwicklung folgt durchaus der Idee einer Metamorphose, wie sie aus der Botanik bekannt ist, also die Umwandlung der pflanzlichen Organe in Wurzeln, Sprosse und Blätter. Hinter dieser Umwandlung verbirgt sich die Anpassung an jeweils unterschiedliche Lebensbedingungen und Umweltfaktoren. Eine solche Umgebung stellt auch Cerha in den Exercises künstlich her, nämlich durch eine zweite Ebene: die sogenannten „Regresse“. Unter ihnen kann man eine neuerliche Umwandlung verstehen, allerdings von ganz anderer Art. Im gewählten Wort „Regress“ steckt nicht rein zufällig die Anspielung auf einen „Rückschritt“ – dieser ist aus Sicht der musiksprachlichen Mittel als solcher gemeint. Die Regresse sind „regressiv im Zurückfallen von höheren Organisationsebenen auf primitivere Gestaltungen des Grundmaterials, sie sind aber – traditionelle Formulierungen einbegreifend – meist noch stärker regressiv in stilistischer Hinsicht.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 233 Durch die Aufeinanderfolge der benannten Ebenen ergibt sich ein reizvolles Wechselspiel. Auf der Unterschiedlichkeit der Musikabschnitte liegt letztlich das Hauptaugenmerk der gesamten Komposition, die bewirkt, dass „Klischeevorstellungen im Gewand eines Stils fallen.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 82 Wie weit entfernt sich Cerha jedoch vom damaligen Mainstream der Collagenkomposition bewegt – in dessen Etymologie ebenfalls das „Zusammenkleben“ von Verschiedenem anklingt – wird deutlich, wenn man sich das Spannungsverhältnis zwischen einem organischen und einem montierten Musikverständnis vor Augen führt, das Cerha bei der Arbeit an Exercises immerzu bewegte:
Zur Zeit ihrer Erfindung schockierten die Regresse mehr als Zitate und Zitatcollagen, die alles zum ästhetisch definierten Spiel machen, weil sie „Stil“ in verschiedenen Graden missachteten und „Geschmack“ in dieser Hinsicht stärker verletzten. Im Gegensatz zur Collage, die Bruch und Verfremdung zu einem wesentlichen Erlebnisinhalt macht, kam es mir zwar auch darauf an, Brüche zu schaffen, aber ich war ebenso bestrebt, das Gebrochene organisch einzubinden: Bruch und Vermittlung haben mich also in gleichem Maß beschäftigt.
Friedrich Cerha
Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 233
Aus der Betrachtung der Polaritäten – der synthetischen Schnitttechnik auf der einen und der natürlich anmutenden Organik auf der anderen Seite – geht das Gebilde der Exercises nicht ohne Widersprüche hervor. Für das Werk findet Cerha dementsprechend ein faszinierendes Bild. In seinen letzten Notizen zum Stück Ende 1967 ist zu lesen:
„Der Gesamtorganismus entpuppt sich als Wesen mit komplexer Individualität, bei dem selbst Laune, Eigensinn, Eitelkeit, Selbstherrlichkeit nicht fehlen.“
aus: Cerha, Notizen zu Exercises, AdZ,000T0061A/46
Dass Cerha seine Exercises wie einen Organismus betrachtet, sagt viel über die quasi biologische Anlage des Stücks aus. In entschiedener Weise ist diese auch durch eine besondere Entstehungsgeschichte geprägt: Die Genese der Komposition ist mit dem bedächtig langsamen Wachstum einer Pflanze vergleichbar. Obwohl die Aufführungsdauer nicht mehr als eine Stunde beträgt, beanspruchte ihre Vollendung einen Großteil der 1960er Jahre, schwerpunktmäßig die Zeit zwischen 1962 und 1967. An der Ontogenese – der Heranbildung des Individuellen – lassen sich die Entwicklungsstadien des Exercises-Organismus lupenartig verfolgen. Das wichtigste historische Dokument sind hier Cerhas Tagebuchnotizen. Sie dokumentieren, wie aus dem ersten Traum einer gewaltsamen Musik „in Wellen“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 74 über die Jahre ein musikalischer Komplex erwuchs. Von dieser Klangfantasie ausgehend entstand 1962 ein Stück, die als der „Ursatz“ der Exercises gilt. Er verwirklicht Cerhas Traum äußerlich recht genau: Eine Musik der Binnenräume, die sich „in verschiedenen Blöcken von Struktur- und Farbvarianten“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 232 herausbildet, wird beständig von längeren Pausen unterbrochen – sie pflanzt sich episodenartig fort. Das Bemerkenswerte: Die aneinander geschnürten Episoden ergeben keine logische Entwicklung. Stattdessen sind sie Momentaufnahmen des schier endlosen Wandlungsprozesses eines gemeinsamen Grundmaterials an Tönen.
Weil eine stringente musikalische Entwicklung nicht angestrebt werden soll, notiert Cerha kurz nach Fertigstellung des Ursatzes konsequenterweise, er plane, „die Reihenfolge der durch Pausen getrennten einzelnen Wellenzüge den Interpreten freizustellen“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 74. Von dieser Überlegung nahm er letztendlich Abstand. Sie reflektiert jedoch seinerzeit aktuelle Idee des Aleatorischen, der offenen Formen und musikalischen Mobiles – einen Ansatz, den auch der britische Komponist Cornelius Cardew verfolgte, der Assistent Karlheinz Stockhausens. Um 1960 führte Cerha mit der eben gegründeten „reihe“ Cardews Ensemblestück Herbst 60 auf. Die Überlegung wurde letztendlich nicht in die Tat umgesetzt. Sie reflektiert jedoch deutlich die im damaligen Zeitgeist liegende Idee des Aleatorischen, der offenen Formen und musikalischen Mobiles. Eine besondere Verbindung kann zum britischen Komponisten Cornelius Cardew, einem Assistenten Karlheinz Stockhausens, gezogen werden. Um 1960 führte Cerha mit der frisch gegründeten „reihe“ Cardews Ensemblestück Herbst 60 auf. Von Zäsuren getrennte Sektionen, „deren Reihenfolge beliebig ist“Cerha, Begleittext zu Fantasien nach Cardews Herbst 60, AdZ, 000T0060/3 prägen die flexible Gestalt dieses Werks – eine deutliche Parallele zum Ursatz der Exercises. Cardews Stück inspirierte Cerha schließlich zu seinen eigenen Fantasien nach Cardews Herbst 60 für sieben Instrumente, die in den Jahren 1962 und 1963 entstanden, parallel zum Exercises-Ursatz. Mit ihm sind sie im Geiste verwandt.
Exercises for nine, Ursatz, erste Partiturseite, 1964,
AdZ, 00000061/3
Exercises for nine (Ausschnitt)
Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha, Museum des 20. Jahrhunderts Wien, 1963
Fantasien nach Cardews ‚Herbst 60‘, erste Partiturseite, 1963,
AdZ, 00000060/2
Fantasien nach Cardew's 'Herbst 60' (Ausschnitt)
Ensemble für Neue Musik Siegen, Ltg. Ute Debus, Musiksaal der Universität Siegen, 2017
1963 gesellte sich zu Cerhas „Ursatz“ ein weiterer Satz, der sein „Antipode“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 232werden sollte. Auch bei ihm hielt Cerha an der Idee von durch Pausen getrennten „Wellenzügen“ grundsätzlich fest – die Wellenzüge gerannen hier aber zu beinahe starren Impulsen:
Die Bewegungen werden hier in einem Maß komprimiert, das sie als Simultanschläge erscheinen lässt. Wie im Bereich der Natur vollzieht sich die Verformung nicht mit absoluter Gleichmäßigkeit: Es kommen ab und zu Töne zu früh, andere klingen nach. Die immer gleich langen und sehr lang wirkenden Pausenbleiben erhalten und der Satz rollt unerbittlich ab – ins Zeit-Leere. Ich habe ihn später „Versuch eines Requiems I“ genannt.
Friedrich Cerha
Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 232
Mit dem Entwurf des zweiten Stücks als „Verformung“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 75 des Ursatzes war die Grundlage für das weitere Gedeihen von Exercises als sich entwickelnder Organismus gelegt: Die beiden Sätze sind die Keimzellen für alles Weitere. Noch im selben Jahr führte Cerha die beiden Sätze unter dem Namen Exercises for nine auf (der Titel spielt u.a. auf die Besetzung mit neun Instrumenten an).
In den anschließenden vier Jahren erweitert sich die erste Fassung Exercises for nine zu einem vielfältig verzahnten Komplex: Elf Hauptsätze und sieben Regresse, annähernd symmetrisch umklammert von jeweils zwei Expositionen und Reprisen, stellen 1967 die gültige Fassung der Exercises dar. Cerha kommentiert: „Meine Umgebung spottet, dass niemand eine Aufführung wird aushalten können, weil das Stück so unablässig gewachsen ist.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 84
Wie sich die Idee einer quasi botanischen Vielgestaltigkeit der Musik letztlich ausdrückt, lässt sich durch die vergleichende Schau einzelner Stationen der Exercises erfahren. Da die Hauptsätze gewissermaßen puristische, in sich geschlossene Gestalten darstellen, ist an ihnen das Prinzip der Metamorphose am eindeutigsten erkennbar. Die einzelnen Sätze muten wie eine Enzyklopädie (musikalischer) Arten an.
Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha, Arthur Korn (Bariton), Produktion ORF Edition Zeitton 2001