Exercises

Musik als Wachstum

Baal

Monumentum

Blätter der „Sägezahn“-Wolfsmilchpflanze

Die „Euphorbia serrata“, auch als gezackte oder „Sägezahn“-Wolfsmilchpflanze bekannt, kommt ursprünglich aus Europa und Nordafrika. Heutzutage wächst sie auf der ganzen Welt als ‚Unkraut‘ – ihre Anpassungsfähigkeit macht sie zu einer typischen Art der Pflanzengattung.

Bildquelle: Alvesgaspar / Wikimedia

Kaum zu glauben:
eine Pflanzengattung und so viele Gestalten – es sind über 2000 Arten, die auf der ganzen Welt verbreitet sind, in Wüsten wie in Hochgebirgen.

All diese Pflanzen tragen den wissenschaftlichen Namen Euphorbie. Im deutschen Sprachraum nennt man sie Wolfsmilchgewächse. Einige gleichen Krautpflanzen, andere sehen strauchartig aus, weitere ähneln Bäumen oder gar Kakteen. Allen Arten sind ihre Stängel mit giftigem Milchsaft gemeinsam, dem sich der Name „Wolfsmilch“ verdankt. Es gibt kaum einen Lebensraum, den die Pflanzengattung noch nicht erobert hat: Über den ganzen Globus verstreut wachsen verschiedene Arten. Ihre Überlegenheit verdankt sich einer extremen Anpassungsfähigkeit an jeweils andersartige Lebensräume – ein Phänomen, das Cerha derartig faszinierte, dass er es für musikalische Überlegungen fruchtbar machte. Seine Exercises gedeihen auf diesem geistigen Fundament.

Außenansicht

Cerhas Werkentwicklung folgt oftmals den Ausschlägen eines Pendels: Nach der intensiven Durchdringung eines Interessensgebiets ist es meist der Kontrast, den der Komponist danach aufsucht. Eine große Neugierde sowie der Unwille, sich einer ideologischen Gesinnung zu verpflichten, grundieren diese Wandlungen. Ein besonders spannender Zeitraum mögen die ersten Jahre der 1960er Jahre sein. In diesen vollzieht sich ein ebensolcher Umbruch in der kompositorischen Arbeit des damals Mittdreißigern. 1961 wurde der astronomische Spiegel-Zyklus vollendet: Ein Sinfonieorchester von ungeheurer Größe, hyperdichte Klangmassen und utopische Entwürfe einer buchstäblich unerhörten Musik stehen für dieses, bis dato größte Projekt Cerhas. Die Spiegel erfüllen die Vision einer radikalen Nuanciertheit innerhalb eines musikalischen Gewebes, sie sind stilistisch im besten Sinne des Wortes rein. Eine „immer feinere Ausgestaltung eines kleinen Raumes“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 71 vermochte Cerha jedoch nicht ganz zu befriedigen: Die innerlich erlebte „Unruhe, wie ganze Städte gebaut sein könnten“ ließ sich durch sie „nicht beruhigen“ und flammte immer wieder auf. Noch während Cerha über den Spiegeln brütete, begann er im selben Jahr deshalb ein neues Projekt, beginnend mit dem Traum einer „uferlosen Musik“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 74, die „nicht rund, zufrieden und satt in ihrer Vollkommenheit“ sei. Die Weiterverfolgung dieses initialen musikalischen Geistesbildes füllte die folgenden Jahre aus. 1963 notiert Cerha schließlich, er sei „auf der Suche nach einem Titel für das ganze Werk“ auf Exercises gekommen: „Er ist mir sympathisch, weil er keine Assoziationen herausfordert – und weil er den Werkstättencharakter unterstreicht.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 75 Den zunächst vorläufigen Titel behält Cerha auch nach Fertigstellung der Komposition bei, um so dem selbst entworfenen Programm zu folgen. „Exercises sind Übungen; ihr Resultat: Erfahrung“ hält er resümierend fest, als das Werk Ende 1967 finalisiert ist.

Uraufführung von Exercises: Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha , Zentralsparkasse Wien, 26.3.1968

Brücke

Cerhas Affinität zu Naturerscheinungen, speziell solchen aus der Pflanzenwelt, manifestiert sich in den Exercises zum ersten Mal mit der konkreten Bezugnahme auf beobachtete Phänomene. Dennoch ergeben sich die hier aufdeckbaren Querbeziehungen nicht voraussetzungslos: „Schon die Frühwerke“, so der befreundete Musikwissenschaftler Lothar Knessl, „ließen erkennen, wie eines aus dem anderen wächst, mit umgestalteten Rückgriffen, Variationen im weitesten Sinne, Mutationen, imaginativ Gesetze der Natur einbindend.“ Geschult ist dieses strukturell geschärfte Entwicklungsdenken maßgeblich an der Wiener Schule. Der Gedanke des integralen Komponierens – des Entwickelns aller musikalischen Erscheinungsformen aus einer Keimzelle heraus – spielt etwa bei Arnold Schönberg eine herausragende Rolle. „Entwickelnde Variation“ nennt dieser folglich das oberste Prinzip insbesondere seiner zwölftönigen Werke, ein Verfahren, das Schönberg bereits bei Komponisten des 19. Jahrhunderts, etwa Johannes Brahms, verwirklicht sieht. Die Idee, eine Grundgestalt zu variieren und die entstandene Abwandlung dann wiederum als Ausgangspunkt für neue Variationen zu nehmen, impliziert fortwährende Veränderung unter Wahrung des allzeit Verbindenden. Herangebildet ist sie an der Ideengeschichte eines harmonikalen Weltbildes, das im Wien des frühen 20. Jahrhunderts durchaus populär war. Auch Anton Webern, mit dem sich Cerha in seiner Frühzeit ausgiebig beschäftigte, folgte ihm. Er interessierte sich insbesondere für Goethes Schrift Metamorphose der Pflanzen (1798): 

Pierre Jean François Turpin, Darstellungen der Urpflanze nach Vorstellungen Goethes,
Holzschnitt, 1837

Es ist immer Dasselbe, und nur die Erscheinungsformen sind immer andere. – Das hat etwas Nahverwandtes mit der Auffassung Gothes von den Gesetzmäßigkeiten und dem Sinn, der in allem Naturgeschehen liegt und sich darin aufspüren lässt. In der „Metamorphose der Pflanze“ findet sich der Gedanke ganz klar, dass alles ganz ähnlich sein muss wie in der Natur, weil wir auch hier die Natur dies in der besonderen Form des Menschen aussprechen sehen. So meint es Goethe.
Und was verwirklicht sich in dieser Anschauung? Dass alles dasselbe ist: Wurzel, Stengel, Blüte. Und auch bei den Wirbeln des menschlichen Körpers ist es nach der Anschauung Goethes ähnlich. Der Mensch hat eine Reihe von Rückenwirbeln, und alle sind verschieden voneinander und doch wieder gleich. Urwirbel – Urpflanze. – Und es ist Goethes Idee, dass man da Pflanzen erfinden könnte bis in die Unendlichkeit. – Und das ist auch der Sinn unseres Kompositionsstils.

 

Anton Webern

Der Weg zur neuen Musik, hg. v. Willi Reich, Wien 1960, S. 42 f.

 

Es ist unerlässlich, Cerhas Interesse an Botanik im Kontext der Wiener Schule zu sehen. Dennoch bilden sich in seinem Werk eigenständige und originelle Facetten ab. Obwohl Cerhas Zuneigung zur Natur seit seiner Kindheit zu einem geschärften Bewusstsein über deren Vorgänge und Geheimnisse führte, sind in den 1960er Jahren neue Impulse zu verzeichnen, die ein differenziertes Bild ergeben. In Cerhas Privatbibliothek kündet etwa das 1960 publizierte Buch Die Pflanze in Raum und Gegenraum der britischen Autor:innen George Adams und Olive Whicher, von seiner Neugier gegenüber formalen und morphologischen Aspekten der Pflanzenwelt. Adams und Whicher entwickeln Goethes These über die Bildung aus einer Grundgestalt weiter. Ihre Untersuchung konzentriert sich auf die „Wachstums- und Entfaltungsform hervorbringenden Bildekräfte“George Adams und Olive Whicher, Die Pflanze in Raum und Gegenraum, Stuttgart 1960, S.7.. Geschult am Instrumentarium der Geometrie widmen sich die beide Autoren etwa der „Entfaltungsgeste des Sprosses“, der „Urraumgestaltung“Als „Urraum“ bezeichnen die Autoren ein abstrahiertes Konzept der projektiven Geometrie, der von der „polarisch ausgeglichene[n] Gegenseitigkeit des Punktes und der Ebene“ bestimmt wird und in welchem nur „wandelbare Formtypen“ denkbar sind. Vgl. Adams und Whicher 1960, S. 39 f., dem „Ätherraum des Pflanzensprosses“ sowie der „Welt der Blüte“. Goethes Naturphilosophie wird dabei immer wieder gestreift und so als Bezugspunkt benannt. Cerhas Lektüre ihres Buchs bekräftigt einmal mehr sein Bestreben, klassische Denkweisen neu zu kontextualisieren.

George Adams und Olive Whicher, Die Pflanze in Raum und Gegenraum, Stuttgart 1960, von links nach rechts: Abb. 96, Abb. 85, Abb. 81

Ein zentraler Ort ist für Cerha seinerzeit der Botanische Garten der Universität Wien. Hier verbringt er Stunden, nicht nur, um ihn als ‚Naherholungsgebiet‘ zu nutzen, sondern auch, um die Vielfalt der dort anzutreffenden Pflanzen zu studieren. Die mannigfaltigen Arten der Euphorbien kann er hier aus der Nähe betrachten – kein Wunder, dass die Dokumentation Zu Gast bei Friedrich Cerha teilweise vor Ort gefilmt wurden. Über das musikalische Potential seiner Entdeckung berichtet er in einer Filmsequenz:

Der Kern von Cerhas interdisziplinären Reflexionen bildet sich aus dem Konzept der Anpassung an verschiedenartige Bedingungen. „Entscheidend für die Evolution der endgültigen Gestalten und Lebensformen“ der Euphorbien sei „das Regelsystem, unter dem sie stehen (Klima und andere Umweltbedingungen)“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 80. Für ebendiese Umwelt und das Verhältnis eines Organismus zu ihr interessierte sich Cerha besonders. Nicht gänzlich loszulösen sind die botanischen Gedanken deshalb vom Gebiet der Kybernetik, deren Modelle sich der Komponist in den 1960er Jahren besonders eifrig aneignete. Beide Bereiche haben eine Schnittmenge, nämlich die Wesensverwandtschaft des Lernens und Anpassens: 

Innenansicht

Sukkulentengruppe am Eingang des Botanischen Garten der Universität Wien

Bildquelle: Gugurell

Cerhas Auseinandersetzung mit den Wolfsmilchgewächsen – gepaart mit seinen Reflexionen über die Selbsterhaltungsmechanismen in abstrakten Systemen – veränderte während der Arbeit an den Exercises sein musikalisches Denken. Statt alle Möglichkeiten innerhalb eines begrenzten musikalischen Materials zu erproben, Vielfalt also in der Einheitlichkeit zu suchen (wie noch in den Spiegeln), gewann die Uneinheitlichkeit, die schillernde Buntheit zunehmend an Reiz. Mit dieser Hinwendung zur Diversität blieb Cerha in den 1960er Jahren nicht allein auf weiter Flur. En vogue wurde es in dieser Dekade, Musikmaterial aus unterschiedlichen Quellen zusammenzuführen – Komponisten von Bernd Alois Zimmermann über Lukas Foss, Mauricio Kagel oder Luciano Berio arbeiteten collagenartig, oftmals indem sie scheinbar Vergangenes zitierten. Von ihren Ansätzen unterscheidet sich Cerhas Weg jedoch. Die musikalische Sprache in Exercises bleibt originär und ist nicht von fremden Elementen durchzogen. Dennoch öffnet das Werk die Tür zur musikalischen Traditionen der Vorkriegszeit. Cerha entschied sich, entsprechende Materialien bewusst zu verwenden, um so die Tabuisierung von allem Traditionellem, die in der Neuen-Musik-Szene vorherrschte, zu durchbrechen:

Ich habe mich entschlossen, Bezüge zu traditionsgebundenem Material, die zu verschleiern, aber unter bestimmten Voraussetzungen nicht zu vermeiden sind, zunächst betont anzusprechen und habe sie in verschiedener Form und in verschiedenem Maß in meine Arbeit einbezogen. Was sich dabei heraus-kristallisiert hat, war zunehmend eine Konzentration auf den Begriff von „Komposition“ im eigentlichen Sinn, aufgesucht in verschiedenem Material.

Friedrich Cerha

Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 71

Eine Zusammensetzung von Verschiedenem – der ursprünglichen Wortbedeutung des Kompositionsbegriffs folgend – geschieht in den Exercises durch die Etablierung zweier nebeneinandergestellter Ebenen. Eine von ihnen nennt Cerha „Hauptsätze“ – sie wurden zuerst komponiert und in eine bestimmte Abfolge gebracht. In den Hauptsätzen entwickeln sich die musikalischen Gestalten auf einem imaginierten Zeitstrahl der Evolution. Diese Entwicklung folgt durchaus der Idee einer Metamorphose, wie sie aus der Botanik bekannt ist, also die Umwandlung der pflanzlichen Organe in Wurzeln, Sprosse und Blätter. Hinter dieser Umwandlung verbirgt sich die Anpassung an jeweils unterschiedliche Lebensbedingungen und Umweltfaktoren. Eine solche Umgebung stellt auch Cerha in den Exercises künstlich her, nämlich durch eine zweite Ebene: die sogenannten „Regresse“. Unter ihnen kann man eine neuerliche Umwandlung verstehen, allerdings von ganz anderer Art. Im gewählten Wort „Regress“ steckt nicht rein zufällig die Anspielung auf einen „Rückschritt“ – dieser ist aus Sicht der musiksprachlichen Mittel als solcher gemeint. Die Regresse sind „regressiv im Zurückfallen von höheren Organisationsebenen auf primitivere Gestaltungen des Grundmaterials, sie sind aber – traditionelle Formulierungen einbegreifend – meist noch stärker regressiv in stilistischer Hinsicht.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 233 Durch die Aufeinanderfolge der benannten Ebenen ergibt sich ein reizvolles Wechselspiel. Auf der Unterschiedlichkeit der Musikabschnitte liegt letztlich das Hauptaugenmerk der gesamten Komposition, die bewirkt, dass „Klischeevorstellungen im Gewand eines Stils fallen.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 82 Wie weit entfernt sich Cerha jedoch vom damaligen Mainstream der Collagenkomposition bewegt – in dessen Etymologie ebenfalls das „Zusammenkleben“ von Verschiedenem anklingt – wird deutlich, wenn man sich das Spannungsverhältnis zwischen einem organischen und einem montierten Musikverständnis vor Augen führt, das Cerha bei der Arbeit an Exercises immerzu bewegte:

Zur Zeit ihrer Erfindung schockierten die Regresse mehr als Zitate und Zitatcollagen, die alles zum ästhetisch definierten Spiel machen, weil sie „Stil“ in verschiedenen Graden missachteten und „Geschmack“ in dieser Hinsicht stärker verletzten. Im Gegensatz zur Collage, die Bruch und Verfremdung zu einem wesentlichen Erlebnisinhalt macht, kam es mir zwar auch darauf an, Brüche zu schaffen, aber ich war ebenso bestrebt, das Gebrochene organisch einzubinden: Bruch und Vermittlung haben mich also in gleichem Maß beschäftigt.

Friedrich Cerha

Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 233

Aus der Betrachtung der Polaritäten – der synthetischen Schnitttechnik auf der einen und der natürlich anmutenden Organik auf der anderen Seite – geht das Gebilde der Exercises nicht ohne Widersprüche hervor. Für das Werk findet Cerha dementsprechend ein faszinierendes Bild. In seinen letzten Notizen zum Stück Ende 1967 ist zu lesen:

„Der Gesamtorganismus entpuppt sich als Wesen mit komplexer Individualität, bei dem selbst Laune, Eigensinn, Eitelkeit, Selbstherrlichkeit nicht fehlen.“
aus: Cerha, Notizen zu Exercises, AdZ,000T0061A/46

Dass Cerha seine Exercises wie einen Organismus betrachtet, sagt viel über die quasi biologische Anlage des Stücks aus. In entschiedener Weise ist diese auch durch eine besondere Entstehungsgeschichte geprägt: Die Genese der Komposition ist mit dem bedächtig langsamen Wachstum einer Pflanze vergleichbar. Obwohl die Aufführungsdauer nicht mehr als eine Stunde beträgt, beanspruchte ihre Vollendung einen Großteil der 1960er Jahre, schwerpunktmäßig die Zeit zwischen 1962 und 1967. An der Ontogenese – der Heranbildung des Individuellen – lassen sich die Entwicklungsstadien des Exercises-Organismus lupenartig verfolgen. Das wichtigste historische Dokument sind hier Cerhas Tagebuchnotizen. Sie dokumentieren, wie aus dem ersten Traum einer gewaltsamen Musik „in Wellen“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 74 über die Jahre ein musikalischer Komplex erwuchs. Von dieser Klangfantasie ausgehend entstand 1962 ein Stück, die als der „Ursatz“ der Exercises gilt. Er verwirklicht Cerhas Traum äußerlich recht genau: Eine Musik der Binnenräume, die sich „in verschiedenen Blöcken von Struktur- und Farbvarianten“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 232 herausbildet, wird beständig von längeren Pausen unterbrochen – sie pflanzt sich episodenartig fort. Das Bemerkenswerte: Die aneinander geschnürten Episoden ergeben keine logische Entwicklung. Stattdessen sind sie Momentaufnahmen des schier endlosen Wandlungsprozesses eines gemeinsamen Grundmaterials an Tönen.
Weil eine stringente musikalische Entwicklung nicht angestrebt werden soll, notiert Cerha kurz nach Fertigstellung des Ursatzes konsequenterweise, er plane, „die Reihenfolge der durch Pausen getrennten einzelnen Wellenzüge den Interpreten freizustellen“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 74. Von dieser Überlegung nahm er letztendlich Abstand. Sie reflektiert jedoch seinerzeit aktuelle Idee des Aleatorischen, der offenen Formen und musikalischen Mobiles – einen Ansatz, den auch der britische Komponist Cornelius Cardew verfolgte, der Assistent Karlheinz Stockhausens. Um 1960 führte Cerha mit der eben gegründeten „reihe“ Cardews Ensemblestück Herbst 60 auf. Die Überlegung wurde letztendlich nicht in die Tat umgesetzt. Sie reflektiert jedoch deutlich die im damaligen Zeitgeist liegende Idee des Aleatorischen, der offenen Formen und musikalischen Mobiles. Eine besondere Verbindung kann zum britischen Komponisten Cornelius Cardew, einem Assistenten Karlheinz Stockhausens, gezogen werden. Um 1960 führte Cerha mit der frisch gegründeten „reihe“ Cardews Ensemblestück Herbst 60 auf. Von Zäsuren getrennte Sektionen, „deren Reihenfolge beliebig ist“Cerha, Begleittext zu Fantasien nach Cardews Herbst 60, AdZ, 000T0060/3 prägen die flexible Gestalt dieses Werks – eine deutliche Parallele zum Ursatz der Exercises. Cardews Stück inspirierte Cerha schließlich zu seinen eigenen Fantasien nach Cardews Herbst 60 für sieben Instrumente, die in den Jahren 1962 und 1963 entstanden, parallel zum Exercises-Ursatz. Mit ihm sind sie im Geiste verwandt.

Exercises for nine, Ursatz, erste Partiturseite, 1964,
AdZ, 00000061/3

Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha, Museum des 20. Jahrhunderts Wien, 1963

Fantasien nach Cardews ‚Herbst 60‘, erste Partiturseite, 1963,
AdZ, 00000060/2

Ensemble für Neue Musik Siegen, Ltg. Ute Debus, Musiksaal der Universität Siegen, 2017

1963 gesellte sich zu Cerhas „Ursatz“ ein weiterer Satz, der sein „Antipode“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 232werden sollte. Auch bei ihm hielt Cerha an der Idee von durch Pausen getrennten „Wellenzügen“ grundsätzlich fest – die Wellenzüge gerannen hier aber zu beinahe starren Impulsen:

Die Bewegungen werden hier in einem Maß komprimiert, das sie als Simultanschläge erscheinen lässt. Wie im Bereich der Natur vollzieht sich die Verformung nicht mit absoluter Gleichmäßigkeit: Es kommen ab und zu Töne zu früh, andere klingen nach. Die immer gleich langen und sehr lang wirkenden Pausenbleiben erhalten und der Satz rollt unerbittlich ab – ins Zeit-Leere. Ich habe ihn später „Versuch eines Requiems I“ genannt.

Friedrich Cerha

Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 232

 

Mit dem Entwurf des zweiten Stücks als „Verformung“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 75 des Ursatzes war die Grundlage für das weitere Gedeihen von Exercises als sich entwickelnder Organismus gelegt: Die beiden Sätze sind die Keimzellen für alles Weitere. Noch im selben Jahr führte Cerha die beiden Sätze unter dem Namen Exercises for nine auf (der Titel spielt u.a. auf die Besetzung mit neun Instrumenten an).

Cerha, Exercises for nine, Titelblatt zu „III“, AdZ, 00000060/23

Cerha, Exercises for nine, erste Partiturseite zu „III“, AdZ, 00000060/24

In den anschließenden vier Jahren erweitert sich die erste Fassung Exercises for nine zu einem vielfältig verzahnten Komplex: Elf Hauptsätze und sieben Regresse, annähernd symmetrisch umklammert von jeweils zwei Expositionen und Reprisen, stellen 1967 die gültige Fassung der Exercises dar. Cerha kommentiert: „Meine Umgebung spottet, dass niemand eine Aufführung wird aushalten können, weil das Stück so unablässig gewachsen ist.“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 84
Wie sich die Idee einer quasi botanischen Vielgestaltigkeit der Musik letztlich ausdrückt, lässt sich durch die vergleichende Schau einzelner Stationen der Exercises erfahren. Da die Hauptsätze gewissermaßen puristische, in sich geschlossene Gestalten darstellen, ist an ihnen das Prinzip der Metamorphose am eindeutigsten erkennbar. Die einzelnen Sätze muten wie eine Enzyklopädie (musikalischer) Arten an.

Hauptsatz I

Besetzung: 9 Instrumente (Urensemble)

Aufbau: 22 Abschnitte (ohne Takte)

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Im ersten Hauptsatz der Exercises wird das „Urensemble“ paradigmatisch eingeführt: Sieben tiefe, teils originelle und seltene Blasinstrumente (etwa Basstrompete oder Kontrabasstuba) und zwei tiefe Streichinstrumente bilden einen dunklen, unergründlichen Klangteppich. Die Klänge in diesem Satz leiten sich aus den ersten Träumen ab, die Cerha in seinem Tagebuch 1961 als „uferlos“ beschreibt. Dieser Charakter des Uferlosen entsteht vor allen Dingen dadurch, dass es viele kleinere (jedoch unterschiedlich lange) Abschnitte gibt, ein Merkmal, das bereits den ältesten „Ursatz“ der Exercises auszeichnet und hier erhalten geblieben ist. Pausen zwischen den Abschnitten trennen die einzelnen Segmente voneinander.

Neben dem Urensemble ist es auch eine Urordnung, die den ersten Hauptsatz charakterisiert. Stellten die einleitenden Expositionen bloß das musikalische Material vor, so wird es nun in Form gebracht. Diese Formwerdung lässt sich gleichwohl in Zeitlupe beobachten. In ungezwungener Freiheit entfalten sich die zahlreichen Abschnitte, ohne zwingende und logische Entwicklungen vorauszusetzen. Zarte und brüchige Klangflächen dominieren das Klangbild – sie knüpfen zwar an Cerhas Klangkompositionen an, verzichten jedoch gänzlich auf Monumentalität. Statt sich in orchestralen Massen zu ergießen, arbeitet sich die Musik zurückgenommen und kammermusikalisch vor.

 

Hauptsatz II

Besetzung: 9 Instrumente (Urensemble)

Aufbau: 22 Abschnitte (ohne Takte)

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Auch der zweite Hauptsatz arbeitet mit den Klangidealen des Urensembles: Tiefe, herbe Klänge pflanzen sich abschnittsweise und unberechenbar fort. Zu beobachten ist im Vergleich zum ersten Hauptsatz sehr gut, wie die Musik ihre grundsätzliche Identität zwar erhält, sie aber dennoch eine andere Gestalt annimmt, ähnlich den Wolfsmilchpflanzen in veränderter Umgebung. Das Klangflächenprinzip – beherrschende Gestalt des ersten Satzes – ist noch schemenhaft erkennbar, lugt gewissermaßen hintergründig hervor. Buchstäblich tonangebend sind im Vordergrund jedoch andere Eigenschaften. Die einstige Flächigkeit der Musik wird an zahlreichen Stellen aufgebrochen. Es sind Gestaltungsmerkmale, die im ersten Satz nur vereinzelt Beachtung finden: Kurze Tonpunkte, laute Zweitonschläge, scharfe Akzente, kratzige und reibende Klangeffekte. Ihre Vermehrung wandelt den Ausdruck der Musik hin zum Disparaten, sie komprimiert aber auch das musikalische Material. Die Vorgänge im Einzelnen werden dadurch dichter: Gedränge und Gewimmel lösen das Ideal bedächtiger Ausdehnung ab. Das Ausdrucksspektrum begnügt sich jedoch nicht bloß mit verworrenen Tonknäueln: Die Musik changiert zwischen sanfteren und brachialen, luftigen und gestauchten Abschnitten: Überraschungen sind im Nährboden eingepflanzt.

Hauptsatz III

Besetzung: 9 Instrumente (Urensemble)

Aufbau: 12 Abschnitte (ohne Takte)

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Im dritten Hauptsatz offenbart sich das letzte der drei grundlegenden Ausdrucksideale des „Ursatzes“ zu Exercises for nine. Zeichneten Klangflächen den ersten Hauptsatz aus und zerklüftete Texturen den zweiten, so erweist sich der dritte als eine Synthese. Vordergründig ist eine Beruhigung der Musik wahrzunehmen: Das Lautstärkelevel wird deutlich zurückgefahren und auch die Dichte reduziert sich merkbar. Eröffnet wird der Satz durch das wohl gesanglichste Instrument des Urensembles, dem Violoncello. Dies ist kein Zufall: Einzelne Tonlinien – entstammend dem ersten Hauptsatz – verdichtet Cerha dermaßen, dass aus den amorphen Klangflächen des Beginns nun überall kleine Melodien erwachsen. Die ersten Sektionen beginnen mit einem solistischen Instrument, zu dem sich rasch weitere Melodiestränge gesellen. Schnell führen diese musikalischen Überlagerungen dazu, dass die Stränge im Einzelnen kaum mehr zu verfolgen sind. Überwucherungseffekte treten ein und ineinander verflochtene Gebilde entstehen. Cerha nimmt die oftmals in Bezug auf Exercises verwendete Wachstumsmetapher hier wörtlich: Wie Schlingpflanzen oder Efeuranken tastet sich die Musik naturhaft voran und bahnt sich dabei ihren Weg in jedem Abschnitt in eine bestimmte Richtung. Meist führt die Bewegung nach unten – die klanglichen Eigenschaften des Urensembles voll ausschöpfend.

Hauptsatz IV

Besetzung: 9 Instrumente
(neu: Altflöte, Tenorsaxofon, Marimba, Klavier)

Aufbau: 23 Abschnitte (ohne Takte)

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Die Hauptsätze I-III stellen eine organische Einheit dar. Alle dort zusammengestellten Abschnitte leiten sich aus Cerhas „Ursatz“ ab, sie wurden im Zuge der kompositorischen Umarbeitungen lediglich anders angeordnet und zu drei eigenständigen Sätzen geformt. Der vierte Hauptsatz verlässt schließlich erstmals die älteste Schicht der Exercises. Erkennbar wird dies u.a. an der Besetzung. Knapp die Hälfte der Instrumente des Urensembles sind durch andere ersetzt – Cerha verzichtet fortwährend auf die besonders tiefen und kräftigen Farben des Baritonsaxofons, des Kontrafagotts, der Basstrompete und der Kontrabasstuba. Statt ihnen treten Instrumente aus dem höheren Frequenzspektrum auf den Plan. Die farbliche Aufhellung ist jedoch nicht die einzige zu registrierende Veränderung. Auch der abschnittsweise Bau der Musik ist einem Wandel unterzogen. Zwar gestaltet Cerha weiterhin voneinander getrennte Abschnitte, die Pausen verkürzen sich aber deutlich. Dies führt dazu, dass die Musik weniger dazu neigt, in Form von isolierten Momenten im stillen Raum zu verinseln, sondern in den Sog eines Entwicklungsstroms gerät. Mehrere Ausdruckstypen der vorherigen Hauptsätze sind in diesem Prozess miteinander vernetzt: Weiche, schillernde Gewebe, harte, perkussive Schläge, zarte Hintergrundflächen und verstreute Tonpunkte. Eine Synthese des Verschiedenen charakterisiert die Musik.

Hauptsatz V

Besetzung: Bariton, 9 Instrumentalisten (neu: metallisches Schlagwerk, Harfe, zweiter Kontrabass)

Aufbau: 31 Abschnitte (ohne Takte)

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Eine Wandlung des instrumentalen Apparats bestimmt auch das Verhältnis des fünften Hauptsatzes zu den vorherigen – er setzt damit die Linie des vierten Satzes fort. Neben der auffälligen Vermehrung von perkussiven Instrumenten – besonders solchen mit Nachhall – ist es vor allem der Einsatz der menschlichen Stimme, die als Neuerung hervorsticht. Als Solist gliedert sich der Bariton in das inzwischen durch sanfte Klangfarben dominierte Instrumentalensemble ein. Dass Cerha den Satz auch als „Aria I“ bezeichnet (die zweite versteckt sich im musikalisch ähnlichen Hauptsatz VII) lässt vielfache Assoziationen zu: die Opernarie als Ausdruck individuellen Empfindens, die Mitteilung von Affekten, das emotionale Portrait – im traditionellen Musiktheater wichtige Ausdrucksmittel. Gleichwohl bedient die „Aria I“ diese Mittel nur andeutungsweise. Zu sehr ist das Individuelle hier in einen gleichförmigen Klangstrom eingefasst, der in seinem Gestus immer noch der weitgehend abstrakten Klangsprache der Hauptsatz-Schicht angehört.

Das Ensemble verhält sich zum Bariton ebenfalls ambivalent. Anfangs scheint es die Gesangslinien zu untermalen, doch nach und nach löst es sich auch von ihnen ab, unterläuft die melodischen Formeln und wächst eigenständig in andere Richtungen weiter.

Hauptsatz VI

Besetzung: 9 Instrumente (wie IV, jedoch mit Vibrafon statt Posaune)

Aufbau: 9 Abschnitte (31 Takte)

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Die Metapher des pflanzlich anmutenden Wachstums der Exercises bemühend, erläutert Cerha, die einzelnen Sätze des Stücks hätten begonnen „sich zunehmend um ein Zentrum zu ordnen“. Bei diesem beschriebenen Zentrum handelt es sich um den sechsten Hauptsatz. Er ist umringt von den beiden, „Arien“ des Bariton – und steht diesen charakterlich diametral entgegen. In Kontrast zur dort angestrebten lyrischen Haltung der Musik, mit Nachhall, melodischen Bögen und kantablem Stil, stampft der sechste Hauptsatz nervös und fieberhaft beinahe auf der Stelle. Ausgehaltene Töne, Klangflächen oder sphärische Farben gibt es hier nicht. Stattdessen: kurze, im Einzelnen kaum verfolgbare Fragmente und Splitter, die wild durch alle beteiligten Instrumente huschen und dabei kaum Spuren hinterlassen. Die hier modellierte Klanglichkeit ist trocken, kühl und schnörkellos.

Merkbar beeinflusst ist der Hauptsatz VI vom Klangideal der seriellen Musik. Mit den objektivierten und sachlichen Kompositionsmethoden der Darmstädter Schule teilt die Musik ihr Aufgehen in punktuell bestimmten Gebilden. Die in Darmstadt propagierten Visionen einer entwicklungslosen und in sich selbst gekehrten Musik, frei von traditionellen Spannungsbögen oder Hörerwartungen, finden in Cerhas Satz eine Einlösung.

Hauptsatz VII

Besetzung: Bariton, 9 Instrumentalisten (wie V)

Aufbau: 16 Abschnitte (ohne Takte)

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Als ein Zwilling des fünften Hauptsatzes gibt sich der siebte zu Erkennen – Cerha bezeichnet ihn als „Aria II“. Die Besetzung beider Stücke ist identisch, ebenso der vorherrschende grazile Charakter. Unterschiede ergeben sich hingegen in der musikalischen Dramaturgie. Anders als der fünfte Hauptsatz gewinnen die instrumentalen Farben nicht erst in einem langsamen Prozess an Dominanz, sondern sind gleich von Beginn an selbstbewusst vertreten. Durch ihre Präsenz saugt sich das Klanggeschehen bereits in kurzer Zeit wie ein Schwamm voll – zahlreiche Nachhallklänge bewirken hingegen, dass kaum Lücken in der musikalischen Faktur entstehen: Eine Ästhetik der verzahnten und stringenten Entwicklung hebt das anarchische Abschnittsprinzip der ersten Hauptsätze deutlich auf. Wie bereits in „Aria I“ ist eine Bogenform erkennbar, der Auf- und Abbau von Dichte und Energetik geschieht in „Aria II“ nur wesentlich komprimierter und ist deshalb als Ausdruckssteigerung wahrnehmbar. Beide „Arias“ gemeinsam erfüllen in den Exercises auf einem maximal angenäherten Niveau das Grundsatzprogramm des Stücks: Sie sind Varianten ein und desselben.

Hauptsatz VIII

Besetzung: 9 Instrumente (wie IV, jedoch mit Basstrompete statt Horn und Vibrafon statt Klavier)

Aufbau: Durchkomponiert (105 Takte)

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Neben dem sechsten Hauptsatz als Zentrum der gesamten Exercises ist der achte ein weiteres Beispiel für ein weitgehend statisches musikalisches Gebilde. Es wird – wiederum ähnlich wie der Mittelsatz – durch punktuelle Tonscharen geprägt. Das Klangbild ist hier noch trockener („secco“) und knacksender („sempre staccato“), es spitzt so gesehen das punktuelle Ideal mit einigen Mitteln zu.

Erweist sich der Mittelsatz noch als aus scharf konturierten Blöcken gebaut, so ist die Form hier flexibler: Künstliche Zäsuren, in vielen früheren Hauptsätzen paradigmatisches Gestaltungsmittel, sind vollkommen getilgt. Statt starren Pausen sind es Ausdünnungen des musikalischen Materials, die eine Art Binnengliederung ermöglichen. Die Musik arbeitet sich in verschiedenen Dichtegraden vor: In den dichtesten Passagen verzahnen und überlagern sich Figuren aus zwei bis vier Tönen, sie bilden Ketten, Muster und Strukturgebilde im Kleinen und erinnern zuweilen an die Klangwelt Anton Weberns (beispielsweise an sein Konzert für neun Instrumente). Die ausgedünnten Passagen hingegen sind von einzelnen, großflächig verteilten Tönen übersäht, die den punktuellen, lakonischen Stil am deutlichsten demonstrieren. Zwischen diesen beiden Polen changiert die Musik fortwährend: Wie ein Mobile dreht sie sich ausschließlich um ihre eigene Achse.

Hauptsatz IX

Besetzung: 9 Instrumente (ausschließlich tiefe Bläser), später zusätzlich Schlagwerk, Klavier und Kontrabass

Aufbau: 2 große Abschnitte

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Die Musik des neunten Hauptsatzes unterscheidet sich deutlich vom feinen Ästhetizismus der ihr vorausgegangenen Sätze. Charakteristisch dafür ist etwa der Austausch von zuvor prägenden Klangfarben, etwa des Vibrafons, des Cellos und der Bassklarinette. Das Ensemble setzt sich aus vornehmlich tiefen Bläsern – insbesondere Blechbläsern – zusammen und erinnert damit an Cerhas frühen Traum einer „barbarischen“ Musik („…ich habe noch immer die tiefen Blechbläserklänge im Ohr“). Die Arbeit mit Klangverwischungen oder subtil verzahnten Tonzellen, in den vorherigen Sätzen noch markante Gestaltungsmittel, spielt keine Rolle mehr. Stattdessen sorgen zunächst laute, lang ausgehaltene Töne für ein insgesamt schroffes Klangbild. Sie schieben sich auf grobe Weise ineinander; ohne jemals eine Fusionierung anzustreben, ragen sie als Klangklötze hervor. Der apokalyptische Zug der Musik wird in einem zweiten Teil weitergeführt. Hier beginnen sich die starren Tonblöcke zu dynamisieren, schnelle und dicht übereinander gelegte Tonwiederholungen bewirken eine eskalative Klangentwicklung, unterfüttert durch laute Schlagzeugschläge auf Gongs und Tamtam.

 

Hauptsatz X

Besetzung: 9 Instrumente (6 tiefe Bläser, Schlagzeug, 2 Kontrabässe)

Aufbau: 52 Einzelschläge,
getrennt durch etwa gleich lange Pausen

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Der zehnte Hauptsatz gehört zu den ältesten Schichten der Exercises. Der Untertitel Versuch eines Requiems I, möglicherweise eine Anspielung auf Max Frischs gleichnamiges Drama von 1945, stand ebenfalls schon sehr früh fest.

Cerha weist darauf hin, dass die „ersten Wurzeln“ zu Exercises mit jenen zur Entstehung von Spiegel I zusammenfallen. Diese Feststellung ist hinsichtlich des musikalischen Gestalttypus im Hauptsatz X nicht unerheblich: Genau wie am Anfang des ersten Spiegels prägen auch in diesem Satz tiefe, isolierte Schläge das Klangbild. Während die Schläge in Spiegel I jedoch nur dem Anstoß einer weiteren Entwicklung dienen, in deren Verlauf sich ein gigantisches Klangfeld ausbreitet, verbleibt der Versuch eines Requiems I äußerlich im Entwicklungslosen: Schläge an Schläge reihen sich aneinander, ohne deren Grundprinzip aufzuheben. Im Ergebnis entsteht daraus eine Musik von unerbittlicher Strenge und Konsequenz, eine Zelebrierung von monotonen, stoischen und fast ritualisierten Abläufen. Die rotierende Bewegung des gesamten Ensembles erinnert auch an den fünften Satz aus Cerhas Spiegel-Zyklus, in dem sich ebenfalls „ein ganzer, homogener Klangkörper“ dreht.

Hauptsatz XI

Besetzung: 9 Instrumente (wie IX, jedoch mit Bassklarinette statt Saxofon und Kontrabass statt Kontrabassfagott)

Aufbau: Durchkomponiert (26 Abschnitte)

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Genau wie der zehnte Hauptsatz gehört auch der elfte und letzte einer älteren Schicht des Gesamtwerks an. Die Arbeit an ihm beschäftigte Cerha 1964. Eine Tagebuchnotiz in diesem Jahr spricht von einer sich einstellenden „Sehnsucht nach Quinten, Quarten, Oktaven – selbst Dreiklängen“ nachdem die ausgiebige Kompositionsarbeit mit Massenstrukturen (etwa in den Spiegeln) völlig Anderes hervorgebracht hatte. In der Tat löst der elfte Hauptsatz den artikulierten Wunsch ein – glasklare und transparente Harmonien wechseln sich hier ab, der Charakter ist zurückgenommen, zerbrechlich, sanft. Wesentlich ist der Bezug der Musik zum vorherigen Hauptsatz: Der Untertitel Versuch eines Requiems II weist bereits auf eine bestehende Verwandtschaft hin. Aus struktureller Sicht verhält sich der elfte zum zehnten Satz wie ein Negativ: Hier existieren „nur lange Werte, keine Pausen, alle Vorgänge geschehen simultan“, wie Cerha erläutert. „Der Zusammenhang mit dem nur aus Schlägen bestehenden Satz ist offensichtlich – an Stelle der Pausen sind gehaltene Akkorde getreten.“ Der starke Gegensatz zwischen beiden Gestalttypen untermauert abermals, wie Vielgestaltigkeit in den Exercises auf der Basis einer gemeinsamen Grundlage möglich gemacht wird.

Ensemble „die reihe“, Ltg. Friedrich Cerha, Arthur Korn (Bariton), Produktion ORF Edition Zeitton 2001

Schatztruhe