Der Vernetzte
Cerha mit Pierre Boulez
Pierre Boulez gehörte zu den engsten Verbündeten im Kollegenkreis Cerhas. Beide komponierten nicht nur, sondern waren auch umtriebige Dirigenten und führten Werke des jeweils anderen auf. Das Foto zeigt sie 1996 bei der Vorbereitung zu einem Konzert im Großen Festspielhaus Salzburg. Dort dirigierte Boulez Cerhas Orchesterwerk Impulse.
Bildquelle: Marion Kalter
Im Zeitalter des „social networking“ besitzt die Verknüpfung mit anderen Menschen, Gleichgesinnten wie flüchtigen Bekanntschaften, eine neue Relevanz. Das Verb „netzwerken“ ist seit der digitalen Wende zu einem Standardbegriff gereift, der mit einer gewissen Leichtigkeit das in persönlichen Beziehungen ruhende Kapital beschreibt. Um die eigenen Ideen zu stärken, sichtbar zu machen, durchzusetzen, braucht es Menschen mit ähnlichen Anliegen. Abseits der ökonomischen Perspektive ermöglicht die Vernetzung aber auch lebendige Kreativität – besonders in der Kunst. Angestaubt erscheint heute das romantisierte Bild des abgeschiedenen, im stillen Kämmerlein arbeitenden Künstlers, dessen geistige Haltung die der Weltfremdheit ist. Hingegen wären viele Strömungen der jüngeren Kunst- und Musikgeschichte ohne den regen Austausch von Ideen kaum denkbar, ohne den öffentlich ausgetragenen Diskurs und Zusammenschluss zu Gruppen.
Das Verhältnis Friedrich Cerhas zum „Netzwerken“ ist nicht ohne Ambivalenzen zu beschreiben. Auf der einen Seite steht der Individualist – ein Mensch, der sich keiner Schule, keinen modischen Strömungen zugehörig fühlt, der eigene und zuweilen verwegene Pfade wählt. Auf der anderen Seite steht der vielfältig Interessierte – ein Mensch ohne Scheuklappen und mit weitem Blick für das Weltgeschehen samt seinen Akteur:innen. In diesem Spannungsverhältnis zwischen persönlicher Unabhängigkeit und Offenheit ist die Position von Cerha, dem Vernetzten, zu orten:
Cerha, der sich – zuweilen – selbst Isolierende. Hat er darum jahrelang mit Brechts Baal sich beschäftigt, in ihm einen partiell Wesensverwandten entdeckt? Auch das ist nur bedingt richtig. Die Aktualität des Baal-Themas ist es, die Cerha begeistert hat, dass da von einer organisierten Gesellschaft vernünftig anmutende Lebensbedingungen angeboten werden, die manch Einzelner weder akzeptieren kann noch will. Also Flucht in die innere Emigration, letztlich auf einem Pfad, der zur Selbstvernichtung führen würde. Cerha ist trotz der ihm eigenen Abschirmungsmaßnahmen Realist genug, ihn nicht zu gehen oder auch nur gehen zu wollen. Neugier führt ihn weiter.
Lothar Knessl
„Versuch, sich Friedrich Cerha zu nähern“, in: Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 14 f.
Neugier war es letztlich auch, die Cerha zurück zur urbanen Hochkultur geführt hat, nachdem die selbst gewählte Einsamkeit in den Tiroler Alpen ihn kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zum ersten Mal spüren ließ, wie sich wirkliche Isolation anfühlt.Vgl. auch Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 48 Die Rückkehr nach Wien bedeutete für ihn die Begegnung mit Menschen, die wie er – inmitten einer vibrierenden Welt – auf der Suche waren.
Frühe Infrastrukturen
Als Cerha 1946 in die österreichische Hauptstadt zurückkehrte, regte ihn vor allem sein Studium an. Nach nur einem Semester an der Wiener Universität und dann der jähen Unterbrechung durch den Krieg bestand die Kernaufgabe im Kennenlernen: von Musik, Kultur, Institutionen und Menschen. In der Kompositionsklasse von Alfred Uhl knüpfte er Kontakte zu anderen jungen Komponisten. Anestis Logothetis und Gerhard Lampersberg waren die wichtigsten unter ihnen: Mit beiden verband ihn „bald eine enge Freundschaft“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 27, ebenso setzte er sich für ihre Musik ein, indem er als Geiger ihre Werke spielte oder sie dirigierte. Der insgesamt konservative, zuweilen altmodische Unterricht an der Akademie konnte das Bedürfnis der jungen Künstler:innen nach Neuem, Frischem allerdings nicht stillen. Es bedurfte anderer Impulse. Einer ging von Cerhas Geigenlehrer aus, dem renommierten Gottfried Feist, der kurz nach dem Ersten Weltkrieg mit seinem Streichquartett Werke des mit ihm befreundeten Arnold Schönberg aufgeführt hatte. Zu seinem Freundeskreis zählten ferner Alban Berg und Josef Marx.Elisabeth Th. Hilscher und Christian Fastl, Art. „Feist, Gottfried‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online Letzterer galt im Musikleben der Wiener Nachkriegszeit als Autorität. Cerhas Begegnungen mit Marx gingen auf die Vermittlungen Feists zurück, der ihm auch Josef Polnauer vorstellte. Der ehemalige Schüler Schönbergs und Bergs hatte nie eine offizielle Stelle inne, etwa als Kompositionslehrer der Akademie. Doch ihn ließ seine große Kompetenz zu einer Art „Pilgerstation für Eingeweihte werden“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 49 –speziell zu einer Schlüsselfigur für Cerha. Polnauers Blick auf Musik richtete sich primär auf die Organik eines Werks, seine inneren Beziehungen und seinen Aufbau, weniger auf rein technische oder abstrakte Sachverhalte, für die sich in den 1950er Jahren die internationale Avantgarde interessierte. Ihm hatte Cerha „aus erster Hand“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 30 genaue Kenntnisse der Wiener Schule zu verdanken, nicht zuletzt auch aufführungspraktische Hinweise. Sie befähigten ihn später, die Werke Schönbergs, Bergs und Weberns authentisch zu interpretieren.
Über Polnauer öffnete sich für Cerha in den frühen 1950er Jahren auch eine weitere Tür, die der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik, kurz IGNM, ein Abkömmling von Schönbergs 1922 gegründetem „Verein für musikalische Privataufführungen“. In der Nachkriegszeit förderte die österreichische Sektion der IGNM alle möglichen Formen der zeitgenössischen Musik. Gleichwohl war sie wesentlich von der „Mentalität der Wiener Schule“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 45 geprägt. Man schloss neoklassische oder minimalistische Ausdrucksformen zwar nicht von den Programmen aus, stand ihnen aber eher kritisch gegenüber. Die Unabhängigkeit gegenüber dem kommerziellen Kulturbetrieb war für die IGNM ein hoher Wert. Mit dieser Haltung isolierte sie sich jedoch zugleich. Ihre öffentliche Sichtbarkeit litt, die Konzerte wurden mäßig bis schwach besucht. Ebenso klein war der Kreis selbst. Bemühungen, ihn zu vergrößern, hielten sich in Grenzen, wohl auch um die eigenen Ansprüche aufrecht erhalten zu könnenVgl. Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 43 Zum frühen Kern gehörten die Komponisten Friedrich Wildgans und Hans Erich Apostel, die Sängerin Ilona Steingruber sowie der Musikwissenschaftler Erwin Ratz. Mit ihnen trat Cerha in Kontakt, nachdem ihn Polnauer zu Konzerten der IGNM eingeladen hatte. Bald nahmen ihn seine Kolleg:innen in den Vorstand der Gesellschaft auf, um ihn später zum Vizepräsidenten und 1968 zu ihrem Präsidenten zu wählen. Die finanzschwache, aber ambitionierte Gesellschaft konnte große Konzerte nur „mit Hilfe des Österreichischen Rundfunks“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 51realisieren. Daher standen Privatkonzerte regelmäßig auf dem Plan, vor allem im Haus von Friedrich Wildgans, in der Waaggasse, nicht weit von Schloss Belvedere, meist vor etwa 40 Zuhörer:innen. Am 24. Februar 1951 kam es dort zum ersten Portraitkonzert Cerhas – als junger Komponist wurde er im Doppelpack mit seinem Freund Hans Kann vorgestellt.
„Einladung zum Hauskonzert“, IGNM Österreich, 24.2.1951, AdZ, KRIT0007/12
Das Haus in der Waaggasse avancierte zu einem zentralen Spielort für Neue Musik in Wien. Der damit verknüpfte Rückzug ins Private ging mit der Verdrängung der Moderne aus den öffentlichen Konzerthäusern einher. Der Hang zum Konservatismus, ein flexibel angewendetes Gesetz gegen „Schmutz und Schund“ und die verlorene Vielfalt, welche die Besatzungsmächte nach Kriegsende gleichsam ‚importiert‘ hatten, kennzeichneten das österreichische Kulturleben noch viele Jahre. Dank der internationalen Vernetztheit der IGNM entwickelten sich ihre Veranstaltungen aber immerhin zu einem Plateau, auf dem sich auch internationale Persönlichkeiten bewegten. Diese Infrastruktur ermöglichte auch Cerha die Bekanntschaft mit Menschen unterschiedlichster Herkunft:
Die Wertschätzung der IGNM war nicht auf regionale Verhältnisse beschränkt, sondern international. Dadurch fanden viele Vertreter der neuen Musik, wenn sie zu Konzerten nach Wien kamen, den Weg in die Waaggasse. Ich danke der IGNM zahllose, zum Teil für mich wichtige Begegnungen, unter ihnen Namen, die heute noch geläufig sind, etwa mit Milhaud, Honegger, Dallapiccola, Peragallo, Messiaen, Rosbaud, Maderna, Adorno, Stuckenschmidt, ja selbst mit Stockhausen, Berio und Boulez. Ob es ein Treffen im Rahmen der IGNM oder ein rein privates war, war oft gar nicht auszumachen – es war auch jedermann gleichgültig.
Friedrich Cerha
Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 44 f.
Netzwerkbau im Untergrund
Die Geschichte der IGNM in der Nachkriegszeit verdeutlicht die damalige Randstellung der Neuen Musik im öffentlichen Kulturleben Wiens. Abseits der etablierten Institutionen entstand so der „Art Club“ – in der Hoffnung, der modernen Kunst spartenübergreifend eine Plattform zu bieten. Schauplätze für die Zusammenkünfte des „Clubs“ waren die Ateliers von jungen Bildhauern und Malern, aber auch öffentliche Stätten, wie das Café Falstaff, das Café Glory und das Café Raimund. Ein anderes Lokal war es jedoch, das für Cerhas Vernetzung mit der progressiven Kunstszene äußerst bedeutsam wurde. Unterhalb der noch heute existierenden „Loosbar“ im „Kärntner Durchgang“ eröffnete zu Beginn der 1950er Jahre der sogenannte „Strohkoffer“, ein Raum, den einige „junge Maler selbst mit Neusiedler Stroh ausgekleidet hatten.“Cerha, Werkkommentar zu Strohkoffer, AdZ, 000T0082/2 – eine ideale Begegnungsstätte für ‚moderne‘ Künstler, ob Maler, Bildhauer, Schriftsteller oder Musiker. Eingeführt durch seinen guten Freund und Komponistenkollegen Paul Kont, fand Cerha im „Strohkoffer“ schnell Kontakt. „Mit [‚Strohkofferkollegen] wie Gerhard Rühm, Paul Kont, Hans Kann und anderen“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 50 spielte er „bei Dichterlesungen im ‚Kreis‘ hinter dem Volkstheater, bei Ausstellungseröffnungen in der Sezession“ und „an anderen unkonventionellen Spielstätten.“ Das urige Gewölbe im Untergrund wurde zum Zentrum weiterer Erkundungen. Im Fokus der Musiker stand hier zunächst die klassische Moderne, bald stellten sie aber auch zügig eigene Werke vor. Kont widmete dem Lokal gar ein eigenes Stück. Die Suite Strohkoffer wurde von Cerha an der Violine und Kann am Klavier bei einem der Konzerte erstmals aufgeführt. Im dritten Satz, „Cerhas Lullaby“ verwendete Kont die Namensinitialen seines Freundes. Einige Jahrzehnte später, 1979, instrumentierte Cerha den Satz für ein Konzert mit der „reihe“ und erwies seinem Freund so eine augenzwinkernde Hommage.
Cerha, Strohkoffer, Instrumentation und Bearbeitung eines Werks für Violine und Klavier von Paul Kont, Titelblatt, 1979, AdZ, 00000082/31
Einzigartig, wenn nicht seiner Zeit voraus, war der interdisziplinäre Ansatz des „Art Club“, der auf Rahmenbedingungen reagierte. Weil an der aktuellen Musik Interessierte kaum Chancen hatten, sie in ihrer Stadt zu erleben, wandten sie sich anderen Disziplinen zu. Die Literatur und die Malerei hatten weniger damit zu kämpfen, sich Material zu beschaffen, es zu vervielfältigen, während das Aufführen von Musik meist praktische Schwierigkeiten mit sich brachte. Musiker wie Cerha blieben daher nicht unter sich, sondern flanierten, um das Neue zu suchen, in „Avantgardezirkeln“Werner Grünzweig, „Sprachkomposition und Komposition von Sprache. Anmerkungen zu ästhetischen und terminologischen Fragen in der Musik um 1960“, in: Herrmann Danuser und Tobias Plebusch (Hg.): Musik als Text: Bericht über den Internationalen Kongreß der Gesellschaft für Musikforschung. Band 1: Hauptreferate, Symposien, Kolloquien. Bärenreiter: Kassel, 1993, 405-408, hier S. 408, die nicht unbedingt einen musikalischen Hintergrund hatten. Intermedial dachte man damals in eigenständigen Gruppierungen. Die Wiener Gruppe strebte als Autorenkollektiv nicht bloß die Dekonstruktion von Sprache an, sondern bezog auch performative oder visuelle Aspekte mit ein. Der Wiener Aktionismus hingegen entstand aus dem Bedürfnis heraus, die engen Grenzen des Bildraums zu überschreiten und diesen mit der realen Welt zu verschmelzen. Verknüpfungen der Disziplinen entstanden auf dem Nährboden der damaligen Kulturszene also beinahe automatisch. Die Opposition gegenüber den Geboten des kommerziellen Marktes brachte aber auch die Verbannung aus den staatlich geförderten Institutionen mit sich. Erneuerung musste so im Untergrund stattfinden.
„Kammerkonzert des Art Club“, Programmheftseite, 4.11.1950, AdZ, KRIT0007/9
Internationale Begegnungen
Auf den Punkt gebracht lässt sich die kulturelle Situation im Nachkriegs-Wien mit dem Wort „Verzug“ beschreiben. Die Bewegung des „Art Club“ kann als Versuch gewertet werden, einen deutlichen Rückstand in puncto Repräsentation der modernen Kunst aufzuholen. Damit ist noch nicht einmal die damals aktuelle Kunst gemeint, sondern die der zurückliegenden Jahrzehnte. Die Zäsur durch den Nationalsozialismus hatte sie jeglicher Sichtbarkeit beraubt. Beschäftigt mit dem ‚Aufholen‘ verpassten gerade die österreichischen Komponisten aber auch den Anschluss an die allerneuesten Entwicklungen, die sich vor allem in Darmstadt abspielten. Die „Internationalen Ferienkurse für Neue Musik“, bereits 1946 ins Leben gerufen, versammelten schnell die bald bedeutendsten Komponisten Europas. Österreicher waren hier zunächst nicht repräsentiert. Paul Kont gehörte 1952 zu den ersten. Einer größeren Anzahl von Komponisten, unter ihnen auch Cerha, ermöglichte erst Karl Schiske, der aufgeschlossene Kompositionslehrer der Wiener Musikakademie, einen Darmstadt-Besuch. Dank Stipendien rollte „ab 1955 […] alljährlich eine Österreicher-Welle“ an.Lothar Knessl, „Die österreichische Kolonie. Prägende Erinnerungen nach Hause getragen“, in: Rudolph Stephan u.a. (Hg): Von Kranichstein zur Gegenwart. 50 Jahre Darmstädter Ferienkurse, Stuttgart 1996, S. 281-287, hier S. 282 Zu den ersten gehörten Kurt Schwertsik und Anestis Logothetis, während Cerha die Ferienkurse erstmals 1956 besuchte. Wieder stand das „Kennenlernen“ an erster Stelle: Mit kaum einem der großen Werke des angebrochenen seriellen Zeitalters war Cerha bis dato vertraut. Pierre Boulez‘ Zyklus Le Marteau sans maître nach Texten von René Char gehörte zu den wenigen Ausnahmen. Entdeckungen von Musik und Menschen machten Cerhas Jahre in Darmstadt – 1958 und 1959 kehrte er wieder – zu einer Zeit voller dichter Eindrücke: „Die Stimmung des Aufbruchs in neue musikalische Welten, die fieberhaft gespannte Atmosphäre, in der vom Frühstück bis in die späte Nacht in hitzigen Debatten neue Möglichkeiten der Strukturierung und Organisation von Musik diskutiert wurde, war wohl für alle ein aufregendes Erlebnis.“Friedrich Cerha, „Viele Anregungen vom Rande. Stimmung des Aufbruchs in neue Welten“, in: Rudolph Stephan u.a. (Hg): Von Kranichstein zur Gegenwart. 50 Jahre Darmstädter Ferienkurse, Stuttgart 1996, S.188-191, hier S. 188
Befreit aus der weitgehenden Isolation Österreichs reicherte Cerha sein persönliches Netzwerk in Darmstadt mit vielen internationalen Bekanntschaften an. Neben Karlheinz Stockhausen aus Deutschland und Pierre Boulez aus Frankreich lernte Cerha auch die Italiener Luigi Nono, Sylvano Bussotti und Franco Donatoni, die Polen Krzysztof Penderecki und Tadeusz Baird,Vgl. Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 33 die Amerikaner John Cage und Stefan Wolpe, den Tschechen Alois Hába oder den Ungaren Mátyás Seiber kennen. Zu einigen, etwa Cage oder Boulez, hielt Cerha über die Ferienkurse hinaus einen regen Kontakt, u.a. seiner künstlerischen Arbeit mit der „reihe“ geschuldet.
Amerika, Frankreich, Italien: Drei an Cerha adressierte Briefe von Boulez, Cage und Nono
In Darmstadt traf Cerha aber auch alte Bekannte wieder, etwa den italienischen Komponisten und Dirigenten Bruno Maderna, mit dem ihn „bis zuletzt eine Freundschaft“ verband.Friedrich Cerha, „Viele Anregungen vom Rande. Stimmung des Aufbruchs in neue Welten“, in: Rudolph Stephan u.a. (Hg): Von Kranichstein zur Gegenwart. 50 Jahre Darmstädter Ferienkurse, Stuttgart 1996, S.188-191, hier S. 190
Ihn kannte ich schon seit 1954 und wir trafen bis zu seinem Tod immer wieder an den verschiedensten Orten Europas, am häufigsten natürlich bei mir in Wien zusammen. Unsere Begegnungen waren stets aufschlussreich und das bei seinem Sinn für Humor auf eine amüsante Weise. Wir machten einander auf bemerkenswerte junge Komponisten und auf interessante Werke aufmerksam, tauschten schlagtechnische Erfahrungen aus, übten Kritik an Organisationsmethoden und Notationsverrücktheiten, unterhielten uns über Probleme der Archäologie, ein Fachgebiet, das uns beide sehr interessierte und auf dem er über umfangreiche Kenntnisse verfügte oder frönten einfach bei viel Wein dem boshaften Tratsch.
Friedrich Cerha
Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 33 f.
Eine Persönlichkeit aus dem eigenen Land, die schließlich in Darmstadt ebenfalls auf den Plan trat, war Ernst Krenek. Er gehörte zur älteren Generation „aus dem Kreis der Wiener Schule“Lothar Knessl, „Die österreichische Kolonie. Prägende Erinnerungen nach Hause getragen“, in: Rudolph Stephan u.a. (Hg): Von Kranichstein zur Gegenwart. 50 Jahre Darmstädter Ferienkurse, Stuttgart 1996, S. 281-287, hier S. 282, die in Darmstadt die Musik Schönbergs, Bergs und Weberns vermittelten. Auch Persönlichkeiten aus der österreichischen IGNM-Sektion, etwa Friedrich Wildgans, Hanns Jelinek oder Rudolf Kolisch, machten sich diese Vermittlerposition zu eigen. Krenek nahm für Cerha aber „eine besondere Stellung ein“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 34 Zwar hatte er ihn bereits zu Beginn der 1950er Jahre in Wien kennengelernt, in Darmstadt intensivierte sich jedoch der persönliche Kontakt. Krenek war dabei nicht bloß ein Beobachter von außen, sondern partizipierte am damaligen Diskurs um die neueste – die serielle – Musik. Die „oft sehr hart geführt[en]“ Diskussionen, sein „scharfer Intellekt und sein rhetorisches Talent“Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 35 prägten Cerhas Zeit in Darmstadt wesentlich:
Wir saßen lange über den Partituren seiner Werke Kette, Kreis und Spiegel, Sestina und Hexaeder und er suchte mich von der Folgerichtigkeit seines Vorgehens zu überzeugen, an dem er festhalten wollte. Freilich wusste er im Grunde, dass es in der Geschichte keinen Stillstand gibt und er begann zu ahnen, dass die allgemeine Entwicklung auch über den Serialismus weggehen würde.
Friedrich Cerha
Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, S. 35
Über die Ferienkurse hinaus bestand der Kontakt zu Krenek bis zu dessen Tod im Jahr 1991. Beide setzten sich gegenseitig für die Aufführungen ihrer Werke ein: Bereits 1960 dirigierte Krenek die Uraufführung von Cerhas Espressioni fondamentali, einem der zentralen Werke aus der seriellen Phase. Für seinen jungen Kollegen engagierte er sich aber auch in anderer Form. Ein allgemeines Empfehlungsschreiben aus dem Januar 1959 kündet von diesem Einsatz.
Ernst Krenek, Empfehlungsschreiben für Friedrich Cerha, 14.1.1959,
AdZ, BRIEF004/84
In der Riege der mit Cerha befreundeten Kollegen darf ein Name nicht fehlen: György Ligeti. Auch ihm begegnete er in Darmstadt wieder. Ligeti hatte seinerzeit eine ähnlich repressive, politisch jedoch weitaus härtere Kulturpolitik erlebt. Die nach dem Krieg herrschende, kommunistische „Partei der Ungarischen Werktätigen“ verbot progressive Kunst jeglicher Art. Sie ließ entsprechende Bilder aus Museen entfernen, Bücher aus Bibliotheken und verbannte die moderne Musik aus dem öffentlichen Leben. Von ihrer Existenz erfuhr Ligeti nur, indem er westliche Radiosendungen in verrauschter Qualität empfing, versteckt lauschend. Um der Unterdrückung zu entkommen, flüchtete Ligeti nach dem Ungarischen Volksaufstand 1956 nach Wien, um Cerha erstmals im „‘Gmoa-Keller‘ hinter dem Wiener Konzerthaus“Cerha, „Meine Beziehung zu György Ligeti“, 27.9.2006, AdZ, SCHR0031/33 zu begegnen. Ligeti zog jedoch weiter nach Köln. Die dort vorhandene, exzellente Infrastruktur förderte seine Entwicklung und ließ ihn bald zu einer internationalen Leitfigur werden. Eine den Gegebenheiten in Köln vergleichbare Community musste in Österreich erst aufgebaut werden. Dies geschah 1958 mit einem ersten Schritt: dem von Cerha und Schwertsik umgesetzten Plan, ein Ensemble für aktuelle Musik zu gründen, dem Ligeti den Namen „die reihe“ . Im Schnittpunkt von gemeinsamen kompositorischen Interessen und einer fruchtbaren musikpraktischen Arbeit florierte die Beziehung der beiden über Jahrzehnte. Ausgehend von engen Verwandtschaften im Denken und Erfinden von Musik Anfang der 1960er Jahre entwickelten sich Cerhas und Ligetis kompositorische Wege unterschiedlich weiter, fanden aber später wieder Kreuzungspunkte, etwa in der Erkundung von außereuropäischen Musikkulturen. Ein reger Austausch begleitete die Entwicklung, zudem entwickelte sich eine wertvolle Freundschaft, in der sich menschliche und künstlerische Nähe stets die Waage hielten – ein reißfester Faden im Netzwerk von Cerhas Beziehungen.
Cerha und Ligeti: Schriften zum jeweils 70. Geburtstag des Anderen.